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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Heiner Goebbels Erstaufführung von „A House of Call“ in der Alten Oper Frankfurt. Utopische und unerhörte Klänge mit „echoes from the past“

Ein vielstimmiges Haus mit einer Sprache jenseits der Sprache

von Petra Kammann

Dialoge, Beschwörungen, Gebete, Anrufungen, Aufrufe, Sprechakte oder Lieder geben den Ton an in Heiner Goebbels neuester Komposition A House of Call. My Imaginary Notebook. Stimmen, auf die er teils zufällig gestoßen ist, gefunden auf Reisen oder in Tonarchiven und aufbewahrt in einem imaginären Notizbuch. Auf jeden Fall unverwechselbare Stimmen, die uns nachgehen und zu Protagonisten eines gesamten Konzertes werden: eigentümliche Stimmen von Zeitgenossen und ungehörte Stimmen von den Wachsmatrizen der einstigen Phonographen, die ein neues Licht auf die verstrickte Geschichte werfen. Die fabelhaften Musikerinnen und Musiker des Ensembles antworten individuell oder kollektiv, kommentierend, unterbrechend, unterstützend oder widersprechend darauf. Musikalisch, versteht sich. Den abendfüllenden 4-teiligen Orchesterzyklus hat der Komponist u.a. auf Initiative des Ensemble Modern Orchestra geschrieben. Aber bevor es an die Frankfurter Erstaufführung in der Alten Oper im Rahmen des Festivals FRATOPIA ging, gab Heiner Goebbels im Clara Schumann Foyer vorab Einblicke in sein Schaffen.

Heiner Goebbels während seines Vortrags vor der Frankfurter Erstaufführung, Foto: Petra Kammann

Etliche Weggefährten waren schon zu seinem Vortrag „…mit den Mitteln der Bühne kommunizieren“ wie auch zur Erstaufführung von A House of Call in der Stadt gekommen, in welcher der Musiker, Komponist, Hörspielautor, Regisseur und Professor für Angewandte Theaterwissenschaft Heiner Goebbels bei aller internationalen Auftrittstätigkeit seit nunmehr fünf Jahrzehnten lebt. Im international vernetzten Frankfurt, das auch für seine weitere Zukunft bestimmend sein sollte, entwickelte er sein Schaffen. Da spielte er anfangs als Sponti beim „linksradikalen Blasorchester“, löste sich aber bald von den politischen Aktivitäten, weil Musik gegenüber politischen Demos für ihn dann Priorität hatte. Unter Peter Palitzsch wurde er schon bald musikalischer Leiter am Schauspiel Frankfurt. Seit den 1970er-Jahren gilt der vielfach Ausgezeichnete als Erneuerer des Jazz, des Musiktheaters, der Klanginstallation, des Hörspiels sowie orchestraler und szenischer Konzerte, aber eben auch als Komponist. Die Frankfurter Erstaufführung seines neuen viersätzigen Werkes A House of Call wurde mit seinem Leib- und Magenorchester, dem Ensemble Modern, so zu einer Art Geburtstagsgeschenk zu seinem – kaum zu glauben – Siebzigsten.

Joyce-Kenner Klaus Reichert diskutiert nach der Aufführung in der Alten Oper mit Karlheinz Braun (Mitbegründer des Verlags der Autoren)

Vor der Aufführung nun legte Heiner Goebbels im übervollen Clara Schumann-Foyer erst einmal seine ästhetische Theorie dar und ließ seine Referenzen an Theoretikern und Weggefährten noch einmal Revue passieren: Bert Brecht, Heiner Müller, Elias Canetti, Henri Michaux  Roland Barthes, John Cage, Joseph Beuys, James Joyce, Gertrude Stein, John Cage, Harry Patch, um nur einige zu nennen. Sie alle bilden das Netz, das ihn trägt und auf dem Goebbels sich fast tänzerisch frei bewegen kann. Dabei aber stellt der Komponist die wichtige Bedeutung des Ensemble Modern mit seinen herausragenden Musikern heraus, mit dem ihn von Anfang an eine einmalige professionelle und inspirierende Zusammenarbeit und Weiterentwicklung verbinde. Das 1980 gegründete und in Frankfurt am Main beheimatete Ensemble Modern, das weltweit führende Ensemble für Neue Musik, vereint  allein 20 Solistinnen und Solisten aus Belgien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Indien, Israel, Japan, den USA und der Schweiz und 70 Musiker’innen sind inzwischen an der Aufführung als Ensemble Modern Orchestra 2021 beteiligt. Sie zählten übrigens auch zu denen, die ihm den Kompositionsauftrag erteilt haben.

„Try-out“ für „A House of call“ mit dem Ensemble Modern Orchestra 2021 in der 100 Jahre alten Industriehalle Fredenhagen in Offenbach; Foto: Petra Kammann 

In seinem Vortrag streift Heiner Goebbels knapp seine autobiografisch-professionelle Entwicklung und legt ein paar Fährten, wie es bei ihm zu einem neuen avantgardistischen Verständnis von Klang kam, obwohl die Zeichen zunächst nicht in die Richtung Avantgarde zu zielen schienen. Der junge Heiner wuchs zunächst ganz traditionell in einer Jugendstilvilla in Neustadt an der Weinstraße auf, lernte schon mit fünf Cello und Klavierspielen, erlebte dort Ausnahmemusiker wie Karajan und Rostropovich. Er selbst spielte damals vor allem Bach, Schumann und Schubert. Vielleicht aber ist es auch kein Zufall, dass gerade Bach ihm mit seiner Polyphonie den Boden der für ihn bestimmenden Vielstimmigkeit bereitet hat. Denn beim barocken Komponisten wie auch für ihn, ist es die selbstbewusste einzelne Stimme, die gleichzeitig zum großen Ganzen beiträgt.

Als er mit 20 nach Frankfurt kam, um sein in Freiburg begonnenes Studium der Soziologie und der Musik fortzusetzen, verfolgte er, beeinflusst von der Studentenbewegung und der Musik von Jimi Hendrix, völlig andere gesellschaftlichen Entwicklungen, er zog er in ein besetztes Haus, machte Straßenmusik und trat zunächst bei Willy Praml an der Hessischen Jugendbildungsstätte Dietzenbach in Brechts Die Ausnahme und die Regel als Musikclown auf. Mit den Schauspielern der „Roten Grütze“ entwickelte er die Musik für das Stück Was heißt hier Liebe? und wurde danach von Peter Palitzsch am Schauspiel Frankfurt als musikalischer Leiter engagiert. 1976 gründete er das sogenannte „Linksradikale Blasorchester“, im gleichen Jahr aber auch das Duo mit dem Saxophonisten Alfred Harth und 1982 das Rock-Art-Trio Cassiber. Gleichzeitig komponierte er Theatermusik für Hans Neuenfels, Claus Peymann, Matthias Langhoff, Ruth Berghaus und Filmmusik für die Filmregisseurin Helke Sander, die Brüder Dubini und andere, aber auch Musik für das renommierte Ballett Frankfurt.

Mitte der 80er Jahre dann rückten Hörspiele und -stücke für ihn in den Vordergrund. Goebbels realisierte für den Rundfunk Verkommenes Ufer, Wolokolamsker Chaussee mit Texten von Heiner Müller oder Schliemanns Radio und Der Horatier. Und seine inszenierten Konzerte machten mit Stücken wie Der Mann im Fahrstuhl und Die Befreiung des Prometheus schon international auf ihn aufmerksam. Zusammen mit der ungewöhnlichen Kammermusik für das Ensemble Modern und den aufsehenerregenden Kompositionen für große Orchester wie in Surrogate Cities, Industry & Idleness oder Walden verschafften ihm seine innovativen Opern- und Musiktheaterproduktionen sowie das Bühnenstück ohne Menschen Stifters Dinge (2007) die allerhöchste Anerkennung. Hinzukam dann noch ab 1999 seine Lehrtätigkeit als Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er nicht nur seinen anderen Ansatz vermitteln, sondern mit den Studierenden auch noch einmal seine dramaturgischen Projekte theoretisch reflektieren konnte.

In „Nowhere and everywhere“ des amerikanischen Choreografen und Künstlers Forsythe bahnt sich auch Heiner Goebbels seinen Weg durch das sich ständig wandelndes Labyrinth aus Pendeln im Museum Folkwang; Foto: Petra Kammann

Überhaupt sei er nie „nur“ ein „Musikmann“ gewesen. Seine Unzufriedenheit über den Umgang mit Sprache auf den traditionellen Stadtbühnen habe ihn völlig andere Konzepte entwickeln lassen. Seine Auffassung von Sprache habe ihn auf besondere Weise mit dem ehemaligen DDR-Schriftsteller Heiner Müller verbunden, der sagte: „Das Utopische ist die Schönheit. Denn die gibt es eben nicht.“ Goebbels ging es darum, gute und interessante Texte von Autoren akustisch zu übersetzen und somit neu aufzuschließen, solche, die sowohl musikalisch, rhythmisch als auch formal große experimentelle Variationen aufweisen wie etwa die rhythmische Lyrik einer Gertrude Stein.

Goebbels interessiert sich dabei mehr für die offene Musikalität des poetischen Wortes als für ihren eindeutigen Sinn, so, wie es auch der weitgereiste Dichter und bildende Künstler Henri Michaux beschreibt. Der Doppelbegabte nehme einen Sonderplatz in der Kunst des 20. Jahrhunderts ein. Der gebürtige Belgier, der 1984 in Paris starb und auf Französisch schrieb, betrachtete die Welt mit einer immensen radikalen Subjektivität. Seine Texte wie auch seine Zeichnungen seien von rhythmischer Gestik und großer Musikalität geprägt, weswegen dessen Werk schon mehrfach von Komponisten vertont wurde, wie zum Beispiel von Pierre Boulez. So betreibe Henri Michaux mit seinen poetischen, nachdenklichen, beschwörenden und explosiven Texten eine Art Exorzismus gegen sich selbst und den Rest der Welt, um mit seinen Bildern das Unsagbare auszudrücken, so Goebbels. Er könne nicht einmal sagen, was ihn am Werk dieses Künstlers mehr fasziniere: dessen Texte oder dessen Bilder bzw. Zeichnungen. Vielleicht versuche er ihm in einem dritten, einem akustischen Medium näherzukommen.

Heiner Goebbels auf der Ruhrtriennale 2013 mit dem schottischen Künstler Douglas Gordon

Eine wichtige Etappe sei für ihn, von anderen Stationen seiner Arbeit mal abgesehen, daher die Intendanz bei der Ruhrtriennale (2012-2014) gewesen, wo zum Beispiel tiefe Bässe, Cello und Gesang wie Soundexplosionen durch die ehemalige Mischanlage der Kokerei Zeche Zollverein hallten, als Douglas Gordon seine geheimnisvolle Videoinstallation Silence, Exile, Deceit in der Mischanlage der Kokerei Zollverein präsentierte. In den rohen funktionsentwerteten weiten Industriehallen habe er sich frei und offen entfalten können. Solche rauen Räume seien immer auch geeignete Räume, in denen man ungestraft etwas ausprobieren könne. Für die Suche nach neuen Formen und für unsere Imagination eine wichtige Voraussetzung.

In den verlassenen Industriebauten habe er Europeras 1 & 2 von John Cage und Delusion of the fury, ein Musiktheater nach Harry Partch entwickeln können. Und er kenne keinen, der wie Robert Wilson, der Becketts „Lecture on nothing“ auf der Ruhrtriennale inszenierte und performte, besser Räume schaffen könne, in denen sich die Vorstellungskraft der Zuschauer zu entfalten vermag und die nahelegen, wie ein Text weitergehen müsste. Solche Erfahrungen gingen eben auch in Goebbels Kompositionen wie auch in seine Ästhetik ein. Partch wiederum, ein Zeitgenosse von John Cage, habe seine eigene Musik entwickelt mit selbst gebauten Instrumenten und einem Tonsystem, bei der die Oktave aus 43 Tönen besteht, die anhand einer Schallplatte aus den achtziger Jahren eigens rekonstruiert und nachgebaut wurden.

Faszinierende Industrielandschaft an der Ruhr; hier Zeche Zollverein, Foto: Petra Kammann

Goebbels spricht von den Räumen als Kraftzentren der Imagination, wo die Phantasie grenzenlos blühen kann, weil solche Räume Widerstände bieten, Orte, wie sie das Ruhrgebiet hergibt: wie zum Beispiel Pact Zollverein, die Bochumer Jahrhunderthalle oder die Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg Nord. Da begreife man, wie ein Werk als fortlaufender Prozess entsteht, an dem alle Beteiligten eng zusammenarbeiteten, wo Komposition und technische Umsetzung direkt ineinandergreifen und einander bedingen würden. Das hat wohl auch Goebbels‘ Vorstellung von dem geprägt, was Schönheit im Sinne des Zeitgenössischen bedeutet. Das Verlangen nach immer neu definierter Schönheit als solches altere nämlich nicht. Für ihn selbst bedeute das Reibung am Gegebenem.

Auch da kommt Heiner Müller mit seiner Idee vom Schönen wieder ins Spiel: „Die Schönheit ist das Utopische und damit auch das Politische.“ Statt einer Öffnung zur Utopie verengten aber Inszenierungen in etablierten Theatersälen unseren Blick. Goebbels aber geht es sowohl um die Offenheit von Kunsterfahrung wie auch um die Ermächtigung des Einzelnen, dessen Stimme er stark machen möchte. Eine Komposition werde erst dann zur Kunst, wenn es eine Interpretationsoffenheit gebe. Regisseure oder Komponisten, die auf ihrer Bedeutungshoheit beharren, hält er eher für gestrig, weil sie nicht weiterführten.

In seiner neuen Komposition A House of Call werden daher die Stimmen zum ersten Mal zu Protagonisten eines ganzen Kosmos „a prolonged visit to a house of call“ – wie es in Finnegans Wake bei James Joyce heißt. Das Zitat hat er bewusst als Titel der Komposition gewählt, da es verschiedene Bezüge aufweist: ganz real als Haus der Begegnung und als Anspielung auf Joyces Text, wo es in Nähe des onomatopoetischen ‚roaratorio‘ erwähnt wird, das für ihn wiederum ein Schlüsselwerk der akustischen Kunst des 20. Jahrhunderts ist, zumal dieser Neologismus dem Hörstück von John Cage den Namen gegeben hat: „Roaratorio“. John Cage  wiederum setzt Finnegans Wake-Zitate auf besondere Weise um, indem er seine Erfahrungen mit Musik, Poesie, Lautdichtung, Tonbandmontage sowie seine ZEN-Erfahrung in ein allumfassendes Werk aus menschlicher Stimme, Naturlauten, Umweltklang, Geräusch, Gesang und Musik transformiert. Er liest sich durch den Strom vieler Stimmen und entfaltet mit dem ‚gesungenen Schreiben der Sprache‘ eine geheimnisvolle lautmalerische Magie.

Heiner Goebbels in der Frankfurter Erstaufführung aus Anlass seines 70. Geburtstages im Rahmen des FRATOPIA Festivals am 14.09.2022 in der Alten Oper  mit dem Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni; Foto: Wange Bergmann

Ein Hörstück, das Goebbels offensichtlich nachhaltig geprägt hat, wie auch der Joyce’sche Text. Wenn wir uns mit Klang, Rhythmik, Ausdruck und Ausstrahlung einer Sprache auseinandersetzen, die nicht unsere eigene ist, ist das eine interessante und fruchtbare Erfahrung, eine Sprache, die wir nicht verstehen, öffnet und erweitert das unser Bewusstsein. Es regt uns an, andere Ausdrucksmittel zu finden. Die Stimmen selbst bekommen eine eigene Qualität. Ins Spiel kämen dann eben auch noch die Ausdruckssprache, die Körpersprache, die Bildsprache und der Klang. Die Herausforderung wird noch mal erhöht, wenn wir es mit nicht-europäischen Sprachen zu tun haben, die eine ganz andere Magie entfalten. „In Länder gehen, deren Sprache man nie erlernen kann“, heißt es in Die Provinz des Menschen von Elias Canetti.

All diesen Hinweisen geht Goebbels auch in seiner neuen etwa 100-minütigen Komposition „A House of Call“ ohne Pause in 4 Teilen und 10 unterschiedlichen Stücken nach. So verbindet er mit Roland Barthes die Beschreibung der eigentümlichen Stimmen als rau und körnig – „le grain de la voix“ („Das Körnige der Stimme?“) heißt eines der Kernstücke im zweiten Teil der Komposition. Das Raue der eingeblendeten Stimmen stellt eine Art Grundtenor der Komposition insgesamt dar. Den Auftakt im ersten Teil hingegen bildet „Stein Schere Papier“, die akustische Umsetzung des Sisyphus-Mythos und symbolisiert zugleich den künstlerischen Prozess. Immer wieder muss mühsam der schwere Stein neu auf den Berg hinauf getragen und dann ins Rollen gebracht werden, damit sich ständig neue Klangwelten aus den unterschiedlichsten Gegenden der Welt auftun.

Dabei reflektiert er verschiedene Musiken aus den unterschiedlichen Teilen der Welt und verschiedene Arten, ein Orchester zu organisieren. Solche Dinge müssen immer wieder neu mit dem Ensemble Modern erarbeitet werden. Dabei  können durchaus Irrtümer begangen, Passagen verworfen und später korrigiert werden. So kann man durchaus eine Passage ruhig auch eine Oktave tiefer spielen, heißt es da schon mal in der Probe. Darauf kann man sich in einem „Try-out“ einigen, wie es das über einem Jahr in Offenbach in der Industriehalle Fredenhagen in Offenbach geschah.

Enge Zusammenarbeit mit Vimbayi Kaziboni, Dirigent des „Ensemble Modern Orchestra“, hier in der Pause beim „Try-out“ mit Heiner Goebbels in Offenbach, Foto: Petra Kammann

Wie stellt sich das dar bei einem Konzert in der Alten Oper, die doch ein festes Zeitschema hat? Es rumort im Großen Saal der Alten Oper. Wann geht es denn eigentlich los? Nach und nach treten die Musiker auf die Bühne, gehen umher, bis das Licht erlischt. Und dann, ein Glücksfall: Mit großer Wucht dirigiert Vimbayi Kaziboni, der hochdynamische Dirigent aus Simbabwe, bis hin zu einem geradezu apokalyptischen Urknall und es stockfinster wird. Auch hier kommt die bewusste Lichtregie ins Spiel.

Er steht aber nicht etwa mittig vor dem „Ensemble Modern Orchestra“, sondern seitlich rechts auf der Bühne. Er trägt auch keinen schwarzen Anzug, sondern ein ganz alltägliches Freizeithemd, in dem er sich frei bewegen kann. Äußerlichkeiten sind für ihn unerheblich, hat er doch schon Orchester auf der ganzen Welt dirigiert und gilt als einer der führenden Interpreten zeitgenössischer Musik seiner Generation. Schließlich hat er bereits mit etlichen Komponisten und Komponistinnen an den verschiedensten Orten der Welt zusammengearbeitet. Und nicht zuletzt verbindet ihn eine lange Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern.

Die durchgängige Praxis in der Probe, verschiedene Musiken und verschiedene Arten, ein Orchester zu organisieren, bleibt auch in der Aufführung, welche immer wieder Überraschungen enthält. Einige Stellen sollen dirigiert werden, an anderen wiederum hat der Dirigent Pause, da müssen sich die Musiker selbst organisieren, um ihre je eigene Stimme zum Tragen zu bringen.

Und der Blick der grandiosen und teils hochkonzentrierten Musiker ist auch nicht etwa auf das Publikum gerichtet. Manchmal gehen sie umher und wechseln ihre Plätze. So beginnt die Aufführung des Laute-, Geräusche- und Tönesammlers Heiner Goebbels. Und von Anfang an öffnen sich ganz unterschiedliche Assoziationsräume. Mal wirkt der ohrenbetäubend wuchtige Blitzschlag, ein andermal nehmen wir eine brüchige Stimme wahr, welche die berühmten romantischen Eichendorff-Zeilen zitiert und dabei das einschmeichelnde „Zauberwort“ der „Wünschelrute“ geradezu konterkariert. Eine Schauspielerin? Nein. Es ist die Stimme der 100-jährigen eigenen Mutter von Goebbels, die „Schläft ein Lied in allen Dingen“ vor dem Abschluss der Komposition zitiert, die kurz darauf mit What when words gone endet.

Bei der Probe in Fredenhagen: Goebbels und Klangregisseur Norbert Ommer bei der Feinjustierung, Foto: Petra Kammann

Und dann immer wieder viel rhythmisches Kratzen in sich verändernder Intensität, feinstes Streicherzirpen, gesampelte O-Töne, von Maschinen und Tieren, Geräusche der Walzen des Phonographen, zerspringende Glasscheiben, extreme Tonhöhen, und immer wieder Stimmen, nicht etwa im landläufigen Sinne schöne oder gar geschulte Stimmen, mehr gesungenes Sprechen, das Raue, das nicht Harmonie, sondern Reibung erzeugt, Stimmen von Eisler, Gründgens, Heiner Müller. Manches klingt nach Avantgarde, wird mit Free Jazz gekoppelt, anderes mit Poprhythmik und Mikrotonalität, vernetzt Themen wie Religion mit Politik über sich wiederholende religiöse durchdringende Gesänge, Literatur mit traditioneller Musik, und Ästhetik der Gewalt.

Viele der von Goebbels aufgegriffenen frühen Aufnahmen in dieser Megasinfonie bekunden einen erschreckenden Zusammenhang zwischen Unterdrückung und traditioneller Musik. So etwa die 1916 in Frankfurt an der Oder entstandenen Aufnahmen georgischer Kriegsgefangener, konterkariert mit zeitgenössisch herausragenden Sängern. Damit erinnert Goebbels an den Genozid an den Armeniern. Eine 1931 im damaligen Deutsch-Südwestafrika entstandene Aufnahme des Chorals der unterdrückten Hereros „Nun danket alle Gott„, in Nama gesungen, evoziert den Völkermord an den Hereros. In manchem fühlt man sich dabei an die eindrucksvollen Arbeiten von William Kentridge erinnert.

Goebbels entreißt hier Stimmen dem Vergessen, nicht nur die seiner Lieblingsdichter, sondern auch viele historische Aufnahmen, die ihn beeindruckten und durchs Leben begleitet haben: häufig uralte, kratzige, von Band eingespielter Aufnahmen traditioneller Musik, die sich in Loops verfestigen, und vom Orchester konterkariert oder übertönt werden. Fast übergangslos taucht man in ganz unterschiedliche Klangwelten ein und das mit sich ständig verändernder Intensität, von zart lyrischen bis zu wuchtig- bedrohlich wirkenden Passagen.

Da hat bei der Komposition auch so manches Mal der Zufall regiert, der zu neuen Aufschlüsselungen führt. So plakatierte Heiner Goebbels sich bei den Berliner Festspielen mit seiner Grundüberzeugung: „Ich beginne nicht mit einer Vision, sondern mit einer Frage.“ Dass er sich viele Fragen gestellt, vor dem Beginn der Komposition, die wie eine Art Summa seines Schaffens wirkt und auf Tiefbohrung zielt, kommt in dem Sammelband zum Ausdruck, der detailreich gewisse Passagen der Komposition erläutert, nachzulesen in dem gerade erschienenen Materialband zu „A House of Call“ (Neofilis).

Die Titel der einzelnen Sätze von A House of Call klingen sperrig, geben aber den Assoziationsräumen eine innere Struktur: 1. ‚Stein Schere Papier‘. Da steht der Sisyphos-Mythos zweifellos in Bezug auf die eigene künstlerische Produktion von Goebbels selbst als auch auf die von Heiner Müller im Fokus. 2. In  ‚Grain de la voix‘  geht es um die gesprochene, gesungene, aufgezeichnete, überlieferte Sprache. 3 ‚Wax and Violence‘  setzt sich anhand der schon erwähnten Wachstondokumente mit Kolonialismus, Gewalt und historischer Schuld gegenüber den Hereros oder den Armeniern auseinander. 4. In When Words Gone, frei nach Samuel Becketts Hörspiel Worstward Ho (Aufs Schlimmste zu), hat sich die Sprache endgültig von ihrer kommunikativen Funktion freigemacht und bekommt einen eigenen Klangwert und -zauber, bis das stark rhythmisch orientierte Vergehen der Wörter im Großen Saal der Alten Oper verklingt. Vielleicht mündet die beharrliche Bewegung in einer Art Meditation, im Nichts. The rest is silence…Worte, Bilder, Assoziationsfetzen entstehen und vergehen. Was aber bleibet? Stiften es die Dichter, Lichtkünstler und Musiker?

In diesem gedanklichen Prozess wird das radikal dezentral angelegte Werk, bei dem man fast tranceähnlich in einer Art Wechselbad der Gefühle getaucht und übergangslos in verschiedene Welten überführt wird, einfach den verschiedensten Zuständen bisweilen bis an die Grenze des Erträglichen ausgesetzt, um selber den Ur-Fragen nachzugehen. Kurz bevor der Applaus in Jubel ausbricht, hüllt sich das Publikum nach dem Verklingen dann doch einen Moment lang in Schweigen.

Glücklich über das gelungene Zusammenwirken bei der Megasinfonie mit dem Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni; Prof. Heiner Goebbels /Konzeption, Komposition und Lichtregie, Foto: Wonge Bergmann

 

Besetzung

Ensemble Modern Orchestra
Leitung: Vimbayi Kaziboni
Lichtregie: Heiner Goebbels und Hendrik Borowski
Klangregie: Norbert Ommer

Leitung: Vimbayi Kaziboni
Heiner Goebbels: „A House of Call. My Imaginary Notebook“ (Erstaufführung)

Ein Kompositionsauftrag des Ensemble Modern, Berliner Festspiele / Musikfest Berlin, Kölner Philharmonie, beuys 2021, Elbphilharmonie Hamburg, musica viva / Bayerischer Rundfunk, Wien Modern und Casa da Música, Porto

Ensemble Modern

Das 1980 gegründete und in Frankfurt am Main beheimatete Ensemble Modern zählt zu den weltweit führenden Ensembles für Neue Musik. Das Ensemble vereint 20 Solistinnen und Solisten aus Belgien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Indien, Israel, Japan, den USA und der Schweiz. Die Deutsche Bank Stiftung unterstützt das Ensemble Modern bei zahlreichen Einzelprojekten, gegenwärtig bei der Abonnementreihe in der Alten Oper sowie beim 2015 begründeten Konzertformat Checkpoint, das sich durch künstlerische Grenzüberschreitungen und ästhetische Experimente auszeichnet.

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Eine Materialsammlung, soeben erschienen im neofelis Verlag, hält erhellende Informationen zu den Aufnahmen bereit und dazu, was der Komponist damit verbindet.“

 

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