Spitzenposition, vor den Theatern Frankfurt und Basel: Oper/Theater Bonn in der jüngsten Kritikerumfrage des Magazins „Die Deutsche Bühne“
Die Premieren der neuen Spielzeit in Bonn
von Simone Hamm
In der Kategorie „Gesamtleistung Großes Haus“ belegen Oper/Theater Bonn vor den Theatern Frankfurt und Basel in der jüngsten Kritikerumfrage des Magazins „Die Deutsche Bühne“ die Spitzenposition. Das Theater Bonn ist für die Kritiker das überzeugendste Theater. Man sieht bei dem von Bernhard Helmich geleiteten Haus „einen bewundernswerten Durchhaltewillen an ambitionierten Projekten gegen alle Widrigkeiten festzuhalten, Risikobereitschaft, dramaturgische Konsequenz und philologisch wertvolle Arbeit“. Grund genug, die Premieren der neuen Spielzeit in Bonn zu besuchen: die Uraufführung Mega 38/Stimmen des türkisch-deutschen Schriftstellers Dogan Akhanli, der Tanzabend Zwischenwelten von Ballett am Rhein im Rahmen des Beethovenfestes Bonn und die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny.
Uraufführung MEDEA 38 / STIMMEN von Dogan Akhanl nach Christa Wolff & Euripides & Seneca, Schauspielhaus Bonn, Foto: Thilo Beu
Großartiges Spiel und langatmige Belehrungen:
Uraufführung von „Medea 38 / Stimmen“ am Bonner Theater
Das Bonner Theater startete mit einem ehrgeizigen Projekt in die neue Spielzeit, mit der Uraufführung Medea 38 / Stimmen des 2021 verstorbenen Dogan Akhanli unter der Regie von Nuran David Calis.
Vier Frauen stehen im Mittelpunkt. Medea – und zwar vor allem die Medea von Christa Wolff, die keine rachsüchtige Kindsmörderin ist, sondern eine ausgestoßene Fremde. Auch bei Akhanli ist Medea Opfer von Fremdenhass.
Hinzu kommen die kurdische Widerstandskämpferin Sara, die türkische Adoptivtochter Kemal Paschas Sabiha und die Ehefrau eines türkischen Präsidenten, Sekine. Ihr Leben ist – das kommt im Laufe des Abends heraus – eng verflochten mit dem Massaker im anatolischen Dersim, das 1938 an Kurden verübt worden ist.
Die Frauen bewegen sich als Schatten hinter Gaze, kommen auf die Bühne, erzählen ihre Geschichte. Warum das Ganze auch als Lifestream Video zu sehen ist, erschließt sich jedoch nicht.
Die Männer sind schwarz gekleidet, oft vermummt, tragen Stiefel und Helme, ein Plastikteil im Schritt. Da gibt es keine Individualität. Sie bilden auch den Chor.
In der Mitte der Bühne steht ein großer drehbarer Kubus, in den die Schauspieler und Schauspielerinnen ein und aus gehen, es gibt Spiegelwände, schwarze Wände, an die # SUSAMAM gepinselt wird: wir dürfen nicht schweigen. Christa Wolff und ein Meddah, wohl der Autor, kommentieren die gewaltsame Türkisierung des Landes. Die Türkei, so Meddah, sei auf einem Berg voller Leichen errichtet worden.
Wir erleben vier Frauen, die von Männern beherrscht und erniedrigt und werden. Und noch etwas haben sie gemeinsam: Jede von ihnen hütet ein Geheimnis.
Medea weiß um den Mord an Iphinoe, begangen von deren Vater Kreon.
Sekine, Ehefrau des 7. Staatspräsidenten der Türkei, verschweigt, was sie spät erfährt: dass sie als Kind das Massaker von Dersim überlebt hat.
Sara, Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans, die Amazone von Dersim, die sich den Revolutionären angeschlossen hat und später von ihnen verstoßen wird, weiß, dass ihr Verlobter nicht getötet wurde, weil er Verräter war, sondern, weil er dem Anführer der Rebellen im Wege stand.
Sabiha, die adoptierte Tochter des Kemal Pascha alias Atatürk, eine Kampffliegerin, die auf Seiten der Türken gegen die Kurden in Dersim kämpfte, erfährt als Erwachsene, dass sie eigentlich Armenierin ist. Sie gehört also auch zu einem Volk, das von den Türken unterdrückt wird.
Das hätte ein großer Theaterabend werden können, wenn sich Dogan Akhanli auf die Geschichte dieser vier Frauen beschränkt hätte. Doch er fügt noch eine Metaebene hinzu. Durften im ersten Teil die Frauen noch spielen, ihre Geschichte erzählen, unterbrochen von Einschüben, so gibt es im zweiten Teil fast nur noch diese Metaebene.
Die Zuschauer werden über den Genozid der Türken und an den Kurden und dann auch an den Armeniern belehrt wie ein in einem Volkshochschulkurs. An diese Verbrechen zu erinnern, ist sicher politisch in Ordnung. Allerdings hätte es dieser Texte, dieser Ausschnitte aus CNN und ARTE-Sendungen, gar nicht bedurft.
Die starken Schauspielerinnen Ursula Grossenbacher, Julia Katinka Philippi und Linda Belinda Podszus, die alle die Medea spielen, aber eben auch Sabiha, Sekine und Sakine Sara haben mit ihren Lebensgeschichten die Massaker, die grausamen Verbrechen, sehr lebendig werden lassen.
Aber dann wird immer wieder erklärt: Dass die Türkei diese Verbrechen bis heute nicht aufgearbeitet haben. Dass jeder, der dazu schweigt, mitverantwortlich ist.
Der Autor Dogan Akhali hat ein Fragment hinterlassen. Er starb, bevor er seine Medea beenden konnte. Nuran David Calis hat es offenbar mit dokumentarischen Material angereichert. Genau erfahren wir nicht, was von wem stammt. Doch genau diese staubtrockenen Texte waren zu viel. Theater lebt nicht vom Dozieren, sondern vom Spiel.
Pure Schönheit und alberner Tanz
Das Ballett am Rhein zeigte „Zwischenwelten“ im Rahmen des Beethovenfestes.
„Don’t look at the jar” Choreographie: Gil Harush,. Ensemble Ballett am Rhein, Foto: Sandra Then
David Lang hatte zu Hans Christian Andersons Märchen die Komposition „The Little Match Girl Passion“ geschaffen, ein Werk für zwei Sänger, zwei Sängerinnen und einen Perkussionisten. 2008 wurde er dafür mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Für Lang ist „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ Passionsgeschichte: Leiden, Hoffnung, Tod. Das kleine Mädchen zündet Streichhölzer an, um nicht zu erfrieren. Und bei jeder kleinen Flamme erinnert es sich an schöne Momente. David Lang fügt Texte aus der Matthäus Passion an. In Bonn singen Viola Blache (Sopran), Helene Erben (Alt), Tenor Mirko Ludwig (Tenor)und Sönke Teams Freier (Bass). Ihre warmen Stimmen strahlen. Eine faszinierende Komposition, herausragend gesungen.
Zu dieser fast mystischen, sanften, minimalen Musik tanzte das Ballett am Rhein eine Choreografie von Demis Volpi. Die Sänger und die Tänzer bildeten eine vollkommene Einheit. Rose Nougoué – Cazenave ist das frierende Mädchen. 22 Jahre ist sie alt. Das Ballett am Rhein hat neben Miquel Martínez Pedro, der mit seinem „Baal“ für den Deutschen Theaterpreis Faust nominiert ist, auch eine großartige junge Solistin. Anfangs liegt Rose Nougoué – Cazenave zitternd in ihrem dünnen weißen Kleid auf der Bühne. Später wird sie hingebungsvoll mit der Kälte (Joaquin Angelucci) tanzen, dem der Schnee aus den Hosentaschen rinnt. Sie erinnert sich an ein schönes Weihnachtsfest, an leckeres Essen. Sie träumt, sie tanzt, sie packt das Publikum.
Nach der Pause dann der Absturz. Diese Zwischenwelt zwischen Mann und Frau überzeugte überhaupt nicht. „Don’t look at the jar“ ist sie betitelt, also „Schau nicht auf das Glas, sondern in das, was drin ist“. Die Gruppe Wooden Elephant hat nach Musik von Sophie arrangiert. Die jung verstorbene Sophie war eine Transfrau. Ob deshalb die Tänzer, die zu ihrer Musik tanzen, Highheels und Strapse, Damenunterwäsche oder ein Bustier tragen, und die Tänzerinnen deswegen eine Krawatte um den Hals gebunden haben oder Männerschuhe tragen?
Und doch bleibt beim Choreografen Gil Harush ein Mann stets ein Mann und eine Frau eine Frau. Das ist kein Spiel mit Geschlechtern. Da hat nichts Leichtes, Feines, Ironisches.
Tänzer und Tänzerinnen fallen schlicht übereinander her. Sie bilden eine lange Schlange von Kopulierenden, sie spreizen die Beine. Viel Haut, viel Busen und Po ist zu sehen. Und das alles ist ganz und gar unerotisch, unsinnlich, unsexy. Und dazu völlig humorlos.
Wäre ich nicht Kritikerin, ich hätte die Augen geschlossen und der wunderbaren Musik gelauscht. Die Streicher der Gruppe Wooden Elephant spielen live. Lichtblick einer albernen Choreografie.
Die ganz große Moralkeule geschwungen
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
oben: Matthias Klink (Jim); Natalie Karl (Jenny); Giorgos Kanaris (Dreieinigkeitsmoses); unten: Matthew Peña (Tobby Higgins); Martin Koch (Fatty); Mark Morouse (Bill), Foto: © Thilo Beu
Der Opernabend in Bonn wird nicht eröffnet von den drei geldgierigen Gründern Mahagonnys Leokadja Begbick (Susanne Blattert), Dreieinigkeitsmoses Giorgos Kanakis) und Fatty (Martin Koch). Mahagoni ist die Stadt des ungezügelten Vergnügens, in der nur eines verboten ist: kein Geld zu haben.
In Volker Löschs Bonner Inszenierung erzählen Flutopfer aus dem Ahrtal in Videoeinblendungen, was sie erlebt haben. Sie sind Augenzeugen der Katastrophe, die allein in diesem Landkreis 134 Menschenleben forderte. Zunächst glaubt man, es handele sich um einen Aufruf zu spenden, doch die überdimensionalen Videoprojektionen machen einen Gutteil des Abends aus.
So wie Mahagoni zerstört wird – nicht von einem voller Furcht erwarteten Taifun – sondern durch die Gier der Menschen, so ist auch das Ahrteil zerstört worden, weil die wenigsten die Klimakatastrophe ernst genommen haben, weil alle nur mehr und mehr wollten. So etwas wird sich Lösch gedacht haben. Ungefähr. Und dann schwingt er den Holzhammer. Dessen hätte es nicht bedurft. Das Brecht/Weill’sche Original ist schon kapitalismuskritisch und sarkastisch genug.
Die großartigen Musiker reißen den Abend heraus. Wenn Jenny Hill (Natalie Karl) mit den Mädchen „Oh! Moon of Alabama“ singt, ist das ein großer Moment. Großartig auch Dirigent Dirk Kaftan wie auch das Beethoven Orchester und die Choristen.
Carola Reuther läßt weiße, billige Gartenmöbel, ein Klavier, Menschen in Trainingshosen und Daunenjacken auf einer Drehbühne rotieren.
In der Stadt Mahagonny herrscht der Hedonismus. Immer wilder, immer turbokapitalistischer geht es zu. Ein paar Holzfäller, die ein entbehrungsreiches Leben in Alaska geführt haben, wollen hier prassen: großes Fressgelage (in Bonn: Berge von Hot Dogs), Sex (in Bonn: Kopulieren im Plastikpool), Boxen bis zum Tod (in Bonn: ein Pool voller Blut).
Die Kamera filmt das alles von oben und beamt es auf die Wand.
Dann ist Jim Mahoney (großartig: Matthias Kling) pleite und kann die Zeche nicht zahlen. Darauf steht die Todesstrafe. Er wird erhängt und mit ihm ein bezopftes Wesen, mit einem „Schulstreik“-Plakat, das um ihrem Hals hängt.
Dann sind Durchhalteparolen der ewig Gestrigen zu lesen: Für freie Fahrt! Gegen staatliche Intervention!.
Volker Lösch hat – zu phantastischen musikalischen Darbietungen – die ganz dicke Moralkeule geschwungen. Schade!