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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Die Befristeten“ von Elias Canetti in Bochum

Abstand künstlerisch gestaltet

von Simone Hamm

Es gibt Schauspielhäuser, die erstellen einen Spielplan für die Saison 20/21 als sei nichts geschehen. Als gäbe es keine Pandemie. Als würden im Herbst wieder alle  ins Theater strömen. Andere Theater spielen open air. In Bochum ist man einen anderen Weg gegangen. Johann Simons inszeniert Elias Canettis „Die Befristeten“ im Schauspielhaus, in einem radikal umgebauten Zuschauerraum. Ganze Sitzreihen hat man herausgerissen, in den noch bestehenden Reihen alle Sitzflächen bis auf jeweils vier Plätze herausgenommen. 50 statt 800 Zuschauer. Zu allen Plätzen gibt es „kontaktfreien“ Zugang, niemand muss an jemandem vorbeigehen. Alle Türen sind offen. Die Zuschauer sind gehalten, Mund- und Nasenschutz zu tragen.

Dominik Dos-Reis, Marius Huth, Gina Haller; Foto: Birgit Hupfeld, Schauspielhaus Bochum

Bevor noch der erste Zuschauer zu sehen ist, feiert Johan Simons die Magie des Theaters: Minimalistische, ebenso eindringlichen wie beruhende Musik von György Ligeti ist zu hören: Lux aeterna, die Bitte nach dem ewigen Licht in der katholischen Totenmesse. Podeste fahren auf und ab. So entstehen Täler, Wellen, Abgründe. Windmaschinen werden angeschaltet, Flaschenzüge werden nach oben und unten gezogen. Nebelschwaben kriechen aus grellem Scheinwerfern. Licht, Bewegung, Maschinen schaffen eine ganz eigene Choreografie.

Das ist eine ganz wunderbare Einstimmung auf einen in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Theaterabend. Viele hatten sich im Vorfeld dieses Abends gefragt, wie es wohl werde, wenn sich ein Ensemble theaterfremden Vorschriften beugen muss, wenn Sicherheitsabstände einen Theaterabend bestimmten.

Die Schauspieler stehen in den geöffneten Türen. Einzeln kommen sie auf die Bühne, rot gekleidet, als gehörten sie einer Sekte an. Die Befristeten wissen genau, wie lange sie leben werden. Ihr Name ist die Anzahl der Jahre: 88, 50, 93, 10. Sie behaupten, sie hätten keine Angst vor dem Tod, der hier „der Augenblick“ genannt wird. Sie wüssten ja schon, in welchem Alter sie sterben werden. Sie würden nicht vom Tod überrascht. Sie sagen, sie seien zufrieden. Sie reden davon, wie schrecklich die Zeit zuvor war, die Zeit, in der niemand wusste, wann ihm die Stunde schlägt. Sie leugnen ihre Furcht. Mit dieser Furcht sind sie allein. Sie brauchen sich nicht wirklich. Sie mögen einander nicht. Sie gehen auf Distanz, bisweilen flüchten sie voreinander, verstecken sich.

Halten auch Abstand auf der Bühne Stefan Hunstein und Risto KŸbar, Foto: Birgit Hupfeld, Schauspielhaus Bochum

Der Abstand bleibt stets gewahrt, er wird zum Stilmittel. Rot/weiße Stäbe markieren diesen Abstand und sind zu gleich Symbol für verbleibende Restlebenszeit.

An seinem Hauptwerk „Masse und Macht“ hatte der Nobelpreisträger Elias Canetti 30 Jahre lang gearbeitet. Darin beschreibt er Massenphänomene und Machtstrukturen. Und genau darum geht es in den „Befristeten“. Canetti hat auch über Epidemien geschrieben. Die Epidemie gehöre neben der Schlacht und dem Massenselbstmord, also dem Bürgerkrieg zu den bedeutenden, „der Menschheit wohlvertrauten Phänomene, deren Ziel in einem Leichenhaufen besteht.“ In einer Epidemie sonderten sich die Menschen voneinander ab. Einer meide den anderen. Das Einhalten von Distanz berge die Hoffnung, nicht zu erkranken.

Genau so verhalten sich die Menschen in Johan Simons Interpretation der „Befristeten“. Die Schauspieler, die sich fast nie nahe kommen, stehen immer wieder in den Türen, unterhalten sich miteinander über die Köpfe der wenigen Zuschauer hinweg. Eine Frau sucht einen Partner, der gleichzeitig mit ihr stirbt. Ein Mann trauert seit dreißig Jahren um seine mit zwölf Jahren verstorbene Schwester.

Elise de Brauw, die ihn darstellt, zeichnet verhaltenen Schmerz, Leiden, das sie eigentlich gar nicht empfinden darf. Der Doktrin nach sind alle glücklich. Auch der kleine Junge, der von einer Mutter erfährt, dass sie ihm nur noch wenig mehr als 100 Gute Nacht Küsse geben wird.

Jing Xiang als Kapselan und Stefan Hunstein (50), Foto: Birgit Hupfeld, Schauspielhaus Bochum

Und über allem thront und herrscht der Kapselan, der Wächter, gewandet in schwarzviolette Phantasiegewänder, den liturgischen Farben für Trauer und Buße. Kapselan deshalb, weil jedem Baby nach der Geburt eine Kapsel umgehängt wird, in der Geburts- und Todestag verzeichnet sind. Niemals darf man diese Kapsel öffnen. Einzig der Kapselan, der sich um die Toten kümmert, darf die Angaben in deren Kapseln prüfen. Er ist der Herr über Leben und Tod. Die Schauspielerin Jing Xian spielt den Kapselan, dass es einen fröstelt. Ohne Regung, teilnahmslos nimmt sie die Verehrung des Volkes hin. Sie spricht leise, tanzt und singt gedankenverloren. Ganz für sich allein.

Aber es gibt einen, der sich mit dem vorbestimmten Tode nicht abfinden will. 50 beginnt das System zu hinterfragen. An seinem 50. Geburstag, der ja eigentlich auch sein Todestag sein sollte, beschließt er, weiter zu leben. Stefan Hunstein gibt ihn bald fragend, bald verzweifelnd, denn niemand will ihm folgen. Gewaltsam und verbotenerweise öffnet er eine Kapsel, dann noch eine und noch eine und findet heraus: sie sind leer. Die Menschen beginnen zu revoltieren. Sie wollen wieder selbst für sich verantwortlich sein, sich keinem Kapselan unterordnen. Von jetzt an weiß niemand mehr, wann er sterben wird. Das bedeutet Freiheit, aber auch Kampf und Chaos. Denn, wenn der Zeitpunkt des Todes nicht mehr festgelegt ist, dann sind auch Mord und Totschlag wieder möglich.

„Die Befristeten“ ist ein philosophisches Stück, ein Gedankenspiel und deshalb bisweilen ein wenig blutleer. Man kann es nur mit herausragenden Schauspielern aufführen, die nicht einfach nur Thesen vertreten. Ein brandaktuelles Stück Zeitgeschichte. Bezüge zum Leben in der Pandemie gibt es zu Hauf. „Die Befristeten“ wird in Bochum zum existentiellen Theater. Dialoge wiederholen sich: “Was tun wir heute?“ „Dasselbe denk’ ich, dasselbe wie immer.“ „Und das wäre?“ „Nichts“ „Ja. Nichts. Es ist immer nichts.“ Das ist ganz wie das Leben im Lockdown.

Gina Haller, Foto:Birgit Hupfeld, Schauspielhaus Bochum

Eine Berührung gibt es doch. Die einzige an diesem Theaterabend. Risto Kübar und Gina Haller, wohnen zusammen und dürfen sich also anfassen. Doch die Berührung, die die Zuschauer fast herbeigesehnt haben, ist keine Liebesbezeugung, sie ist tödlich. Dieser Tod kommt völlig unerwartet. Die dunkelhäutige Gina Haller spielt den zweiten Kollegen, der zu Boden geworfen und brutal gewürgt wird. Dann drückt ihm sein Widersacher das Knie in den Nacken. Der zweite Kollege stirbt  wie der Afroamerikaner George Floyd. „Die Befristeten“ wird  zum Beitrag des Schauspiel Bochum zu „Black lives matter“. Zum Beitrag zu den Coronaregeln. Klug, sensibel, aufrührend. So großartig kann Theater unter erschwerten Bedingungen sein.

 

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