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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

5. Triennale „ECHT UND FALSCH“ in Bingen eröffnet – Internationale Skulpturenschau vor Traumkulisse

Das falsche Leben im Wahren oder das wahre Leben im Falschen?

Von Hans-Bernd Heier

Die Skulpturen-Triennale in Bingen am Rhein findet bereits zum fünften Mal statt. Die neue Open-Air-Schau trägt den Titel „ECHT UND FALSCH“. Präsentiert werden 20 künstlerische Positionen entlang des Rheinufers und an ausgewählten Orten in der Binger Innenstadt. Die Triennale versammelt erneut Werke von jungen Kunstschaffenden wie auch von großen Namen der zeitgenössischen Skulptur. Etliche der ausgewählten Werke wurden mit direktem Bezug zu dem herrlich gelegenen Ausstellungsparcours geschaffen.

Moritz Götze „Auf der Sonnenseite“, 2020, Emaille auf Stahlblech, Maße variabel; Foto: Hans-Bernd Heier

Die erste Skulpturenausstellung wurde anlässlich der Landesgartenschau 2008 gezeigt. Damals wie heute wird die international vielbeachtete Schau am Ufer des Weltkulturerbes Mittelrhein von der „Gerda und Kuno Pieroth Stiftung“ finanziert. „Die Reichweite und der Bekanntheitsgrad der Skulpturen-Schau haben sich mit jeder Ausgabe kontinuierlich gesteigert“, betont erfreut der Initiator Kuno Pieroth. Nach den Themen der vergangenen Jahre „NAH UND FERN“ oder „MENSCH UND MASCHINE“ greift die 5. Folge mit „ECHT UND FALSCH“ erneut ein zeitnahes Thema auf. 2017 wurden mit gutem Zuspruch zum ersten Mal auch Skulpturen in Bingens Innenstadt gezeigt. „Mit der Ausgabe 2020 soll die Idee weiter ausgebaut werden, die Ausstellungsreihe noch stärker an die Stadt Bingen und ihre Bürgerinnen und Bürger zu binden, um so die Triennale zu einem dauerhaften Kulturereignis in der Region zu machen“, so die Kuratoren Lutz Driever und André Odier.

Axel Anklam „Windsbraut“ 3/3, 2016/17, doppelwandiges Edelstahl-Drahtgeflecht, 260 x 150 x 100 cm; Foto: Hans-Bernd Heier

Die Arbeiten der Künstler*innen widmen sich in diesem Jahr mit sehr unterschiedlichen Ansätzen den grundsätzlichen Fragen nach Original und Fälschung, möglicher Desinformation und Irreführung des Betrachters oder einfach dem Spiel von Erwartung zu Wirklichkeit. Dabei verweisen die gezeigten Werke zum Teil auch auf die heute allgegenwärtigen, heftigen Dispute über den Wahrheitsgehalt von Informationen im Spannungsfeld von „fake news“, „wahrheitsgemäßer Übertreibung“ und der Beobachtung, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend um Emotionen und Behauptungen anstelle von Fakten geht.

Dorothea Nold „Welterbe-Parkhaus“, 2020, Holz, PVC, 450 x 450 cm; Foto: Hans-Bernd Heier

„Wie echt kann falsch sein? – Welche Risiken bergen die Vermischung des Unterschieds von Wahrheit und Lüge? – Welche Rolle weisen Künstlerinnen und Künstler dem Betrachter zu? – Wer entscheidet darüber, was echt und was falsch ist? Wie kann vor dem Hintergrund der Werke von Marcel Duchamp oder Joseph Beuys beispielsweise der Kunstbegriff des „Originals“ heute noch bestehen?“ Sich mit diesen oder ähnlichen Fragen anhand der Skulpturen auseinanderzusetzen und dabei die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen, dazu möchten die Kuratoren die Besucherinnen und Besucher auf dem Parcours am Rheinkilometer 529 einladen.

Alicja Kwade „Wächter (Anschauungsvorstellung)“, 2013, Carrara-Marmor, Rosengranit, Eiche, Aluminium, Sandstein; Maße variabel; Foto: Gisela Heier

Auch für die 5. Triennale ist es den Kuratoren gelungen, spannende nationale wie internationale künstlerische Positionen zusammenzubringen, die sich den vielen Facetten von „ECHT UND FALSCH“ auf äußerst unterschiedliche Weise nähern – unter anderen Jimmie Durham, Jeppe Hein, Jenny Holzer und Alicia Kwade: Namen, die seit Jahren eine prominente Rolle in der globalen Kunstwelt spielen. Es gibt aber auch Neuentdeckungen wie die 1993 in den USA geborene Charlie Stein, den polnischen Künstler Lukas Glinkowski, die Slovenin Maruša Sagadin oder die aus dem Irak stammende Künstlerin Havin Al-Sindy. Gemeinsam ist allen Arbeiten, dass die Exponate Fragen nach Original und Fälschung, möglicher Desinformation, Irreführung des Betrachters oder einfach das Spiel von Erwartung zu Wirklichkeit thematisieren.

Lukas Glinkowski „Who‘s the fairest of them all?“, 2020, UV-Druck, Alu-Dibond, Holz, 6 Paneele à 190 x 130 cm, Ausschnitt; Foto: Hans-Bernd Heier

„Früher erschien etwas echt oder falsch und wurde auch so akzeptiert. In unserer sich schnell ändernden Welt wird es immer schwieriger herauszufinden, was eigentlich echt oder was falsch ist. Aktuelle Probleme wie Handelskriege, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit oder Klimawandel werden aus unterschiedlichen Sichtweisen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder auch aus einer bestimmten politischen Sicht unterschiedlich beurteilt. Dadurch kommt es zunehmend zu einem ECHT UND FALSCH. Die ausgestellten Skulpturen geben uns aus der Sicht der Kunst Hinweise und helfen uns, Fragen zu stellen“, schreiben Kuno Pieroth und Johannes Pieroth im Vorwort des Katalogs, der ab 29. Juni vorliegt.

Büste der Nofretete (Replikat), 2007, Gipsabguss, bemalt, 57 x 24 x 38 cm; Foto: David von Becker, Berlin

Dass die ausgestellten Exponate Fragen aufwerfen und lebhaft diskutiert werden, haben gleich nach Eröffnung der Schau die Rückfragen zum Plakat „Welterbe-Parkhaus“ von Dorothea Nold gezeigt. Bei der Stadtverwaltung Bingen, aber auch bei Pressesprecherin der Triennale Dr. Britta von Campenhausen wurde nachgefragt, ob dies ernst gemeint sei und das Parkhaus tatsächlich gebaut würde. Derartige Reaktionen auf ihre Kunstwerke, die auf den ersten Blick als normale Werbeplakate wahrgenommen werden, ist die 1981 in Lörrach geborene Künstlerin gewohnt. Tatsächlich sind derartige Irritationen sogar geplant. Für die visuelle Vorlage des großformatigen Plakats hat die Künstlerin ein Modell aus Keramik, Pappe und Stoff geschaffen, dieses abfotografiert und am Computer mittels einer Fotomontage erweitert.

Jeppe Hein „Modified Social Bench #7“, 2005;“Modified Social Bench #9“, 2005 und „Modified Social Bench F“, 2006, pulverbeschichteter galvanisierter Stahl, 97 x 180 x 47 cm; 40 x 180 x 47 cm;75 x 180 x 45 cm; Foto: David von Becker, Berlin

Für Überraschung und kritisches Hinterfragen dürften auch Jeppe Heins Installationen „Modified Social Benches“ mit ihren für Bänke unerwarteten Formen sorgen. Die in den Rheinanlagen aufgebauten „modifizierten, sozialen Bänke“ aus den Jahren 2005/06 heben die klassische räumliche Schwelle zwischen dem Betrachter und dem Objekt auf und laden die Besucher sogar ein, die Skulpturen zu berühren und auszuprobieren, ob sie auf diesen Bänken überhaupt sitzen können.

Nachdenklich dürfte Erwachsene wie Kinder auch Charlie Steins ganz in weiß gehaltene künstlerische Intervention „Safe Playground“ (Sicherer Spielplatz) stimmen. Die vier Spielgeräte aus Metall, Gummi und Holz sind wegen Beschädigung und Fehlkonstruktion nicht nutzbar und entziehen sich deshalb ihrem eigentlichen Zweck. Mit ihrer Installation macht die 1986 in Waiblingen geborene Künstlerin ein Dilemma unserer Zeit sichtbar – den Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit.

Sabine Groß „MonuMAX“, 2020, polymerisierter Gips, Acrylfarbe, Metall, 302 x 110 x 90 cm; Foto: Hans-Bernd Heier

Viele unbeantwortete Fragen wirft auch Jimmie Durham mit seinen „Core Sample from St. Peter’s Cathedral, Three Stones“ von 1996 auf. Ist der Bohrkern ein Relikt aus einer archäologischen Untersuchung? Gar eine verehrungswürdige Reliquie? Dazu befragt, erklärt der 1940 in Washington / Arkansas, USA geborene Künstler die Arbeit jedes Mal mit einer anderen Geschichte. Dass er gerne geheimnisvoll bleibt, betrifft sein gesamtes Schaffen.

Seine Arbeit steht direkt neben Jenny Holzers Marmor-Steinbank „How do you resign yourself to something…“ in der Basilika Sankt Martin in Bingens Stadtzentrum. Die renommierte amerikanische Künstlerin Jenny Holzer – *1950 in Gallipolis/Ohio, Vereinigte Staaten von Amerika – ist vor allem für ihre textbasierten Installationen bekannt. Ob auf Plakatwänden, LED-Laufschriften, T-Shirts oder Tassen – ihre Arbeiten fordern uns auf, über die vielen Worte und Botschaften, die uns im Informationszeitalter durch Nachrichten, Werbung und andere Massenmedien erreichen, nachzudenken und sie zu hinterfragen.

Durch die Aufstellung in der Basilika erhält das Kunstwerk eine spirituelle Dimension und lädt den Betrachter dazu ein, sich nicht nur auf die philosophische Komponente des Textes einzulassen, sondern auch auf den Kirchenraum als einen Ort des Innehaltens und des „Insichgehens“.

Die Übersetzung des Textes, der aus der „Living series“ stammt, lautet:

WIE FINDEST DU DICH MIT ETWAS AB,

DAS NIE SEIN WIRD?

DU HÖRST AUF, ES ZU WOLLEN,

DU STUMPFST AB ODER DU

TÖTEST DEN AUSLÖSER DES VERLANGENS AB.

Thomas Stimm „Schierling“, 2012, Aluminium, Autolack, Höhe ca. 350 cm; Foto: David von Becker, Berlin

Erwähnt seien noch: Die Lehmhäuser der aus dem Irak stammenden Künstlerin Havin Al-Sindy setzt sich mit der kulturspezifischen Bedeutung und architektonischen Tradition ihres Heimatlandes am „falschen“ Ort, der Gartenlandschaft des Binger Rheinufers, auseinander. Lukas Glinkowski lässt in seinen Werken häufig Bildwelten entstehen, die mit Versatzstücken aus urbanen Räumen sowie aus Filmen und Comics arbeiten, so auch die Edelstahlplastik „Who‘s the fairest of them all?“ („Wer ist die Schönste im ganzen Land?“). Für die von Comic und Pop Art inspirierte Gestaltung der angedeuteten Spiegel wendet sich der Künstler Figuren der Pop- und Medienkultur zu und verknüpft diese mit der Spiegelung des Betrachters.

Der aus Südfrankreich stammende Künstler Pierre Granoux ist auf der Triennale mit zwei Kunstwerken vertreten ist: „READYWEB: HÉRISSON“, 2012-20, und MARCHANDESSES, 2020. Diese Arbeiten beziehen sich auf den französisch-amerikanischen Künstler Marcel Duchamp (1887–1968), der zwischen 1913 und 1919 einen Flaschentrockner wie auch andere industriell gefertigte Objekte in Läden gekauft und allein durch den künstlerischen Akt der Auswahl, des Signierens und der Präsentation zu einem Kunstobjekt transformiert hat. Dadurch erweiterte Duchamp wegweisend den Kunstbegriff, der sich dann als Readymades (ready-made = Fertigware) durchsetzte. Auch Granoux, der sich intensiv mit Duchamps Schlüsselwerk auseinandersetzt, interessiert sich für die Frage nach Original, Kopie und Reproduktion und besonders für Editionen, die grundsätzlich die Frage aufwerfen, ob ein Kunstwerk ein Unikat sein kann und soll. Schließlich weist doch jedes Exemplar einer Edition kleine visuelle Abweichungen auf und unterscheidet sich mindestens dadurch, dass es zu einem anderen Zeitpunkt entstanden ist als die anderen Versionen.

Maruša Sagadin “B-Girls, Go!“, 2018, Stahl, Holz, Lack, 350 x 280 x 440 cm; Foto: David von Becker, Berlin

Vor dem Museum am Strom steht ein Stapel aus elf Kartons, die von unten nach oben immer kleiner werden. Der Stapel erscheint wie eine große Lieferung verschiedener Onlinebestellungen, die in Eile von einem Paketdienst abgestellt wurden. Nur bei genauer Betrachtung zeigt sich die Divergenz zwischen der Materialität, nämlich dass die Kartons nicht aus Pappe sind, sondern aus polymerisiertem Gips und mit Acrylfarbe bemaltem Metall. Das für die Triennale konzipierte Kunstwerk nennt die Künstlerin Sabine Gross „MonuMAX“.

Erst auf den zweiten Blick entschlüsseln sich auch Marcel Walldorfs Tierplastiken „Dalmadiener“ von 2014 und „Sir Ocelot“, 2018. Den 1983 in Friedberg geborenen Künstler fasziniert die besondere Wirkung eines präparierten Tieres im Raum. Bei den gezeigten Arbeiten verbindet er haarige Tierpräparate mit glatt-glänzenden Porzellanfiguren, die durchaus dem Genre des Kitsches zugeordnet werden können. Gerade diese Kombination erzeugt eine irritierende Komponente.

Zu sehen sind außerdem noch Werke von Konstantin Bayer, Andreas Burger, Hans Dammann, Sebastian Gögel sowie eine Replik der Büste der Nofretete.

Die Skulpturen-Triennale Bingen 2020 ist bis zum 4. Oktober 2020 eintrittsfrei zu genießen.

Weitere Informationen unter: www.skulpturen-bingen.de

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