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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Blickwechsel“ im KirchnerHAUS in Aschaffenburg

Petra Kammann über Kirchner, Picasso, Cranach und den Bahnhof

Das KirchnerHAUS MUSEUM Aschaffenburg zeigt derzeit Porträts und Figurenbilder von Ernst Ludwig Kirchner im Dialog mit druckgraphischen Arbeiten von Pablo Picasso. Es stellt rund 50 Werke auf Papier der beiden Künstler einander gegenüber, fragt nach Gemeinsamkeiten und Differenzen, nach Inspirationsquellen und Ausdrucksformen.

Blick auf das Geburtshaus von E.L. Kirchner in Aschaffenburg, Foto: Petra Kammann

Ludwigstraße 19 in Aschaffenburg. Hier, unmittelbar gegenüber dem Bahnhof, liegt das Haus mit dem dekorativen Eisenbalkongeländer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, in dem der Maler Ernst Ludwig Kirchner am 6. Mai 1880 das Licht der Welt erblickte.

Ein engagierter Kreis Kunstinteressierter hatte sich vor einigen Jahren in Aschaffenburg zusammengetan, um dem berühmten Sohn der Stadt ein Denkmal zu setzen und betreibt seither ehrenamtlich! und unter der kundigen Leitung von Brigitte Schad ein kleines Museum in Kirchners Geburtshaus. Leider hat die Stadt Aschaffenburg es versäumt, das Haus zu erwerben, kann aber das Erdgeschoss als Museum betreiben und das Kirchner-Zimmer im ersten Stock als Archiv nutzen.

Archiv in der ersten Etage im KirchnerHAUS, Foto: Petra Kammann

„Blickwechsel“ lautet nun der Titel einer erstaunlichen Ausstellung, die nur mithilfe dieses großen ehrenamtlichen Engagements in den bescheiden ausgestatteten Räumen überhaupt stattfinden kann. Da wandern die Blicke der Betrachter auf die nahezu gleichaltrigen herausragenden Künstler Kirchner und Picasso, die das quantitativ größte und vielleicht qualitativ bedeutendste druckgraphische Werk der klassischen Moderne geschaffen haben, hin und her. Auch die Blicke der Künstler auf die Welt, geprägt durch ihre unterschiedlichen Biografien, treffen hier ganz dicht aufeinander. Kirchner kam 1880 in Aschaffenburg zur Welt, Pablo Picasso 1881 in Málaga. Zwar sind die beiden Künstler zeit ihres Lebens einander nicht begegnet, doch war beiden Künstlern die Auseinandersetzung mit dem Bild vom Menschen, von seinem Körper, seinem Kopf, seiner Gestalt und seiner Bewegung ein zentrales Anliegen.

Gegenüberstellung der beiden Künstler in der Ausstellung, Foto: Petra Kammann

An der Bahnhofsstraße, wie die Ludwigstraße damals noch hieß, fing der kleine Junge Ernst Ludwig schon an zu zeichnen. Er, der von der Unruhe der an- und abfahrenden Züge und vom Trubel am Bahnhof geprägt war, hielt die bewegten Szenen in eiligen nervösen Strichen fest. Später erinnert er sich an diese wichtige Phase: „Als Junge saß ich immer am Fenster und zeichnete was ich sah; Frauen mit Kinderwagen, Bäume, Eisenbahnzüge, etc... Das Zeichnen hat immer geholfen, das Leben zu erhalten. So wurde ich Maler.“

Picassos Vita, der gerade mal ein Jahr später geboren wurde, verlief völlig anders. Sein Vater José Ruiz y Blasio, der selbst Lehrer und Künstler war, hatte seinem Sohn schon die ersten Grundlagen einer künstlerischen Ausbildung sogar selbst vermittelt und ihn gefördert, während Kirchners Vater, ein Papieringenieur, zwar die Begabung seines Sohnes wahrnahm und seine frühkindlichen Zeichnungen sammelte, er ihm jedoch eine solide Berufsausbildung nahelegte, die er für unerlässlich hielt. Also nahm Kirchner zunächst einmal ein Architekturstudium auf, nebenbei lernte er Kompositionslehre, und in München fing er schon bald mit dem Aktzeichnen an.

Während Picasso nach seiner „blauen Periode“ und der intensiven Beschäftigung mit El Greco bereits 1904 nach Paris, dem damaligen Zentrum der Kunst, umsiedelte und dort mit den Gauklern und Artisten seine „Rosa Periode“ entwickelte, schloss Kirchner sich 1905 nach einer intensiven Beschäftigung mit Dürer, in der erste eigene Holzdrucke entstanden, mit Heckel, Schmidt-Rottluff und Bleyl zur Künstlergruppe „Die Brücke“ zusammen, von der er sich später lossagte.

Das Jahr 1912 wurde für beide Künstler gleichermaßen bedeutsam, durch die Verbindung zur Gruppe „Der blaue Reiter“. Beide Künstler waren an der Sonderbund-Ausstellung im Rheinland beteiligt, Kirchner mit der Ausmalung einer Kapelle, auf die er urbane Straßenszenen verewigte, während Picasso in seiner kubistischen Phase mit Materialien wie Holz, Blech und Sand experimentierte und Collagen entwickelte.

Blick in die Ausstellung, Foto: Petra Kammann

Während Kirchner 1915 am Krieg teilnahm und verwundet wurde, und über Davos in verschiedene Sanatorien gelangte, entwarf Picasso schon avantgardistische Bühnenbilder für die „Ballett russes“ in Paris. In den 20er Jahren setzte Picasso sich nach einer klassischen Phase sehr bald dann mit dem Surrealismus auseinander. Kirchner wiederum wurde durch den Kontakt zu Mary Wigman und Grete Palucca für den Tanz und das Thema Bewegung sensibilisiert. Seine Tanzdarstellungen wirken fast filmisch, so dynamisch ist ihr Strich. 1927 wendete Picasso sich der Darstellung des menschlichen Modells zu, während Kirchner für das Folkwang Museum Wandbilder für einen Fries entwarf.

Die Sanatoriumsaufenthalte hatten bei Kirchner zu einer übermäßigen Einnahme von Drogen und Alkohol geführt. Unter dieser Einwirkung entstanden Anfang der beunruhigenden 30er Jahre seine farbigen Holzschnitte. Picasso hingegen schuf in dieser Zeit im Süden Frankreichs farbige Keramik. Picasso wurde in seiner Heimat Spanien zwar auch als entarteter Künstler diffamiert, bekam jedoch wegen seiner Widerständigkeit schon 1939 eine Retrospektive im New Yorker MoMa, während im Nazi-Deutschland in der Ausstellung „Entartete Kunst“ 35 Kirchner-Gemälde landeten und der Künstler aus der Preußischen Akademie ausgeschlossen wurde, was ihn in schwere Depressionen stürzte. Dadurch verschlimmerten sich seine Angstzustände und er beging 1938 Selbstmord. Picasso hat ihn um 35 Jahre überlebt. Seine berühmte Friedenstaube und sein Gemälde „Guernica“ im spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung verschafften ihm endgültig den Weltrang, der Kirchner verwehrt blieb.

Doch wie nähern sich die beiden Künstler, die einander nie begegnet sind, der Darstellung des Menschen? Wie versuchten sie, die „Wahrheit“ des Wesens eines Menschen künstlerisch zu erfassen? Auch in dieser Hinsicht öffnet uns die Aschaffenburger Ausstellung die Augen. In der so unmittelbaren Gegenüberstellung ihrer Werke erkennt man die Berührungspunkte wie auch die Differenzen.

Lukas Cranach als Bezugspunkt für beide Künstler, Foto: Petra Kammann

Kirchners kühner Strich wirkte nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und seinem Nervenzusammenbruch suchend-tastend und hypernervös, während der vor Vitalität strotzende Picasso so manches Porträt aus einer unverkennbar ruhigen und selbstbewussten Linie entwickelte. Vor allem aber verharrte dieser nie länger bei einer Stilrichtung.

Interessant ist, dass beide Künstler sich in ihren Kompositionen von der altdeutschen Malerei haben beeindrucken lassen. Das belegt nicht zuletzt die Gegenüberstellung mit dem Cranach-Akt aus dem Städel, die für Kirchner als Vorlage zu seinem Holzschnitt „Stehender Akt mit Hut“ von Dodo Große diente, während Picasso eine Postkarte aus den Staatlichen Gemäldesammlungen Berlin von Cranachs „Venus und Amor“ zum Vorbild für die Grundkomposition seiner Lithografien nahm.

Außerst geschickt hat die Kuratorin Brigitte Schad die Ausstellung mit den über 50 Arbeiten Picassos und Kirchners aus Privat- und Museumsbeständen zusammengestellt. Sie dokumentiert in den räumlich und finanziell eingeschränkten Möglichkeiten des KirchnerHAUSES die Werdegänge der beiden Künstler mit ihren künstlerischen Übereinstimmungen bis hin zum jeweiligen Spätwerk. Die Frische und Lebendigkeit der Arbeiten beider Künstler überzeugen dabei auch im 21. Jahrhundert noch unmittelbar. Da lohnt die Fahrt von Frankfurt mit dem Zug nach Aschaffenburg. Denn vom Bahnhof ist es eben nur ein Sprung auf die gegenüberliegende Seite. Und vielleicht kann man sogar ein Stück Kirchnerches Lebensgefühl mit auf den Weg nehmen.

Die Ausstellung „Blickwechsel. Porträt und Figur in Papierarbeiten zweier Meister“ geht noch bis zum 1.3. 2020. Erwähnenswert ist auch der vom KirchnerHaus herausgegebene Katalog

Infos

KirchnerHAUS Aschaffenburg e.V.
Ludwigstraße 19
63739 Aschaffenburg
Telefon: 06021 – 58 09 250
E-Mail: info(at)kirchnerhaus-aschaffenburg.de

Öffnungszeiten:

Montag: geschlossen
Dienstag: 14:00 – 17:00 Uhr 
Mittwoch: 16:00 – 19:00 Uhr
Donnerstag: 14:00 – 17:00 Uhr
Freitag: 14:00 – 17:00 Uhr
Samstag: 14:00 – 17:00 Uhr 
Sonntag: 11:00 – 17:00 Uhr

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