Betulia Liberata – Mozarts „Kirchenbegehung“ an der Oper Frankfurt
Heilige Handlung – sehr irdisch menschlich turbulent
Von Renate Feyerbacher
Fotos: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt
Schon beim Betreten des Bockenheimer Depots, der einstigen Straßenbahnhalle, ist man in Erstaunen versetzt. Die „Azione sacra“ von Wolfgang Amadeus Mozart, die am 21. Juni 2017 Premiere und Frankfurter Erstaufführung hatte, hatte diesen profanen Ort in eine Kirche verwandelt. In den alten Kirchenbänken sitzen einige Betende. Wenn der Zuschauer sozusagen im Chor hinter dem Altar seinen Platz eingenommen hat, hat er noch ein Aha- Erlebnis: die Kirchenempore (Westportal) schmückt eine Nachbildung des Gemäldes mit Judith und Holofernes, das der Barock-Maler Giovanni Battista Piazzetta um 1720 schuf. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, mit historischen Blasinstrumenten und auf Darmsaiten musizierend, ist seitlich rechts plaziert. Mit musikalischer Wucht setzt die Ouvertüre ein. Kaum zu glauben, dass sie von einem 15-Jährigen komponiert wurde.
Theo Lebow (Tenor) und Sydney Mancasola (Sopran II) sowie im Hintergrund Brandon Cedel (Bass) und Karen Vuong (Sopran I); Foto © Barbara Aumüller
Die biblische Geschichte von Judit (in der Bibel ohne h) und Holofernes eigenet sich durchaus als Opernstoff. Doch Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) komponierte keine Oper, sondern ein Oratorium, eine Gattung, die er nur insgesamt dreimal schuf.
„La Betulia Liberata“ ist das fünfte von sieben Oratorienlibretti, die der Universalgelehrte, Schriftseller, Librettist und Komponist Pietro Metastasio (1698 -1782) in Wien verfasste. Fünfzigmal wurde es vertont – zuerst 1734, zuletzt im 19. Jahrhundert. Der bereits 72-jährige Librettist wird den heranwachsenden Mozart gekannt haben. Ob es wohl sein Wunsch war, dass das inzwischen hochgerühmte Wunderkind seinen Text vertonte? Immerhin ist es die berühmteste musikalische Umsetzung seines dürftigen Textes geworden, der wenig Spannung hat und handlungsarm ist.
Das erotische Geschehen zwischen Judit und Holofernes ist ausgespart, weil unpassend für ein Oratorium. Das Libretto spiegelt jedoch die Konflikte in Betulia. Betulia ist ein fiktiver Ort in Israel, der nur aus dem Buch Judit bekannt ist, in einer militärstrategisch wichtigen Lage, weshalb das Heer von Holofernes ihn belagerte. Durch Judits Tat, die Tötung des Heerführers Holofernes, wird Betulia befreit. Judit, die Witwe, war schön und verführerisch. Sie ging unbewaffnet in des Feindes Lager und hatte ständig Zugang zu Holofernes. Bei einem Festmahl ihr zu Ehren tötete sie den betrunkenen assyrischen Heeresführer mit seinem Schwert.
Ezgi Kutlu (Mezzosopran) und im Hintergrund Ensemble; Foto © Barbara Aumüller
Metastasio formuliert Glaubensbekenntnisse, schürt Glaubenszweifel, verkündet Durchhalteparolen und predigt Frömmigkeit. Ein seltsames Libretto, das erst nach und nach zur eigentlichen Geschichte gelangt, nämlich zu Judith und Holofernes. Siebzehn Szenen sind aufgeführt: da werden beispielsweise Kämpfer vom Priester in den Kreuzzug geschickt, eine Mutter beweint ihr verstorbenes Kind, die ehemalige Geliebte des Priesters kämpft um dessen Gefühle, eine Sterbende geht angesichts Gottes fröhlich in den Tod, ein Ehekonflikt bricht sich in der Kirche Bahn, die Mutter verlässt die Familie mit drei Kindern, kehrt aber wieder reumütig zurück; endlich erscheint Judith und erzählt vom Attentat auf Holofernes, während ein Säufer den Gott Alkohol lobt und die Kirche zum Schluss verkauft wird. Immobilienhaie sind im Anmarsch …
Großartig, was für ein gelungenes Konzept dem Regisseur Jan Philipp Gloger und seinem Team, der Bühnenbildnerin Franziska Bornkamm, der Kostümschöpferin Katharina Tasch und dem Lichtdesigner Jan Hartmann, eingefallen ist. Herausgekommen ist dabei ein amüsantes kirchenkritisches Stück, an dem Dramaturg Zsolt Horpácsy sicher viel mitgewirkt hat.
Dem undramatischen Libretto-Stoff hat Mozart eine aufregend-risikofreudige Musik zuteil werden lassen: Arien und Chöre entziehen sich sakraler Unterwürfigkeit. Die Ouvertüre mit vier Hörnern, zwei Trompeten, Oboen, Fagotten und Streichern zieht den Zuschauer sofort in Bann. Dirigent Titus Engel, Spezialist für barocke und zeitgenössiische Musik („Orpheus oder die wunderbare Beständigkeit der Liebe“ von Telemann), ist fasziniert von der Expressivität des jungen Mozart und lobt die Dramatik der Arien mit ihrem differenzierten Wechsel von Farben und Klangfarben. Mit Enthusiasmus wird dieses Credo vom Frankfurter Opern- und Museumsorchester umgesetzt und macht es zu einem vergnüglichen Musikereignis. Mit dem insgesamt flotten Oratorium werden die Kirchen-Puristen aber möglicherweise hadern.
Insgesamt nur fünf Gesangsinterpreten teilen sich die verschiedenen Rollen: der Tenor ist zuständig für den Priester, ein Fanatiker, aber auch ein Mutmachender, der gegen sündige Momente nicht gefeit ist. Gelegentlich kommt er lutherisch daher – sicher als Anspielung auf das Lutherjahr. Theo Lebow, der junge amerikanische Sänger, meistert diese Partie, die auch schauspielerisches Talent verlangt, mit Bravour. Gleich in seiner ersten Arie gleitet er mühelos in Koloraturhöhen. Die türkische Mezzosopranistin Ezgi Kutlu, die ihr Debüt an der Oper Frankfurt gibt, sorgt mit ihrer Erzählung der Judith für den Höhepunkt des Oratoriums. Als der Librettist, dessen Text bis dahin allgemein formuliert ist, endlich auf den Punkt der biblischen Geschichte kommt, glüht Ezgi Kutlu förmlich in dieser Arie.
v.l.n.r. Karen Vuong (Sopran I) und Ezgi Kutlu (Mezzosopran); Foto © Barbara Aumüller
Die Sopranistin Karen Vuong („Carmen“) verkörpert eindrücklich die leidenden Frauen, ihre Kollegin Sydney Mancasola die leidenschaftlichen. Als verlassene Geliebte des Priesters kämpft die Stalkerin kess um dessen Gefühle. Den drei Sängerinnen gelingt es schnell und ohne Brüche, stimmlich jeweils in die verschiedenen Rollen zu wechseln.
Brandon Cedal leiht seinen wohlklingenden Bass dem Obdachlosen, der dem Messwein huldigt. Theo Lebow, Sydney Mancasola und Brandon Cedel gehören seit der Spielzeit 2016/17 zum Ensemble. Nicht zu vergessen das vorzügliche Vokalensemble der Oper Frankfurt, das Felice Venanzoni einstudiert hat. Schauspieler Marek Sarnowski muss für verschiedene Partien herhalten, was ihm ohne Zweifel gelingt. Daneben beleben einige Statisten, darunter auch Kinder, das Geschehen, das schauspielerisch fulminant ist. Das weitläufige Depot lässt da viel zu. Nach fast zwei schwülen Stunden öffnen sich zum Schluss die hölzernen Türen zum Platz vor der Bockenheimer Warte, während die Vorbeigehenden und die Stehenbleibenden einbezogen werden und die Immobilienhaie im Seitenschiff der Kirche mit einer Limousine hereinfahren.
Das Publikum – leider waren bei der Premiere einige Plätze frei – spendet üppigen Beifall. Angst vor einem langweiligen Oratorium ist also keinesfalls begründet.
Weitere Aufführungen im Bockenheimer Depot am 26., 28. und 29. Juni, am 1. und 2. Juli 2017 jeweils um 19.30 Uhr.