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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

55. Biennale Arte Venedig 2013 (6)

Der deutsche Pavillon – im französischen Haus (3)
Ai Weiwei, Romuald Karmakar, Santu Mofokeng, Dayanita Singh

Von Erhard Metz

Dayanita Singh, Romuald Karmakar und Santu Mofokeng bei der Eröffnung des deutschen Beitrags zur Biennale im französischen Pavillon

Im Anschluss an Ai Weiwei stellen wir die drei weiteren für den Beitrag Deutschlands zur diesjährigen Biennale ausgewählten Künstler Romuald Karmakar, Dayanita Singh und Santu Mofokeng vor. Wiederum greifen wir dabei jeweils auszugsweise auf Texte von Susanne Gaensheimer zurück, wie sie Gegenstand der Pressemappe des deutschen Beitrags zur Biennale sind (Vorwort der Kuratorin, aus: Susanne Gaensheimer [Hg.]: La Biennale di Venezia 2013. Deutscher Pavillon. Ai Weiwei, Romuald Karmakar, Santu Mofokeng, Dayanita Singh. Berlin: Gestalten Verlag, 2013).

Romuald Karmakar, der sich in seinen Dokumentar- und Spielfilmen ebenso wie in seinen konzeptionellen Filmen seit drei Jahrzehnten mit Mechanismen von Gewalt und Massenphänomenen insbesondere aus der Täterperspektive beschäftigt und dabei konsequent seinen Fokus auf die deutsche Geschichte gerichtet hat, zeigt im Französischen Pavillon als Teil des deutschen Beitrags den Dokumentarfilm 8. Mai von 2005/2013, in dem er die grosse NPD-Demonstration anlässlich des 60-jährigen Kriegsendes auf dem Alexanderplatz in Berlin am 8. Mai 2005 dokumentiert. Ausserdem präsentiert er den Film Hamburger Lektionen aus dem Jahr 2006, in dem der Theater- und Filmschauspieler Manfred Zapatka vor neutralem Hintergrund und auf emotionsfreie Weise die deutsche Übersetzung zweier Predigten des aus Marokko stammenden, salafistischen Imams Mohammed Fazazi vorträgt, die dieser im Januar 2000 in der al-Quds-Moschee in Hamburg gehalten hatte – jenem muslimischen Gemeindezentrum, in dem auch die Terroristen verkehrten, die an den Anschlägen am 11. September 2001 beteiligt waren. Des Weiteren sind einige seiner in den letzten Jahren entstandenen Kurzfilme zu sehen, die er für sein persönliches Filmarchiv auf YouTube und Vimeo gedreht und bislang nur dort veröffentlicht hat. Ein Teil dieser Filme sind Tierfilme und im Berliner Zoo gedreht. Die in Käfigen und Gehegen gehaltenen Wildtiere können ähnlich wie die Hocker von Ai Weiwei als allgemeingültige Metaphern für ein von äusseren Vorgaben konditioniertes Dasein innerhalb eines gesellschaftlichen Systems betrachtet werden. Doch in den Hamburger Lektionen, die Karmakar als „eine deutsche Geschichte“ bezeichnet, wird ebenso wie bei der Dokumentation der NPD-Demonstration in Berlin, die auch Ausdruck eines international agierenden Netzwerks von Neonazis war, an ganz konkreten Beispielen klar, dass sich ideologische Identitäten heute über Ländergrenzen hinweg entwickeln und die klassischen nationalen Zuschreibungen hier nicht mehr greifen.“

↑↓ Romuald Karmakar, 8. Mai, Deutschland 2005/2013, 4:3, 45 min, © 2013 Pantera Film GmbH

Romuald Karmakar, Panzernashorn, Deutschland 2012, 16:9, 1:30 min, © 2012 Pantera Film GmbH

Dayanita Singhs Bildwelt ist von einer Lebensform geprägt, in der klassische indische Gesellschafts- und Familientraditionen mit dem modernen Dasein aufeinanderstossen. Als Tochter eines Landwirts in eine grossbürgerliche Familie in Neu-Delhi geboren, war sie die einzige von vier Töchtern, die sich mit Unterstützung der Mutter für eine autonome Existenz als Fotografin entschieden hat. Als junge Frau begann sie einen berühmten indischen Musiker und Tablaspieler auf seinen Reisen um die ganze Welt über Jahre hinweg zu porträtieren. Er entwickelte sich zu einem spirituellen Mentor. Seit dieser Zeit ist das Reisen die Daseinsform, die Singhs Leben und Arbeiten mehr bestimmt als die Verwurzelung in ihrer Heimatstadt. Wie in einem traumähnlichen Zustand verschmelzen in ihren fotografischen Essays und Diaprojektionen unzählige Bilder ihrer indischen Vergangenheit mit ihren Wahrnehmungen der Gegenwart. Europäische Musik und Literatur sowie amerikanische Filmgeschichte fliessen in ihre Arbeit ebenso ein wie die Menschen, Strukturen und Orte ihres Umfelds in Neu-Delhi. Die Melancholie des Weggehens anstelle des Verweilens zieht sich dabei wie eine Grundstimmung durch alle ihre Bilder. Das Herz und der Anker von Singhs Nomadentum ist Mona. Sie steht im Zentrum eines Films, den die Künstlerin für den deutschen Beitrag im Französischen Pavillon entwickelt hat und ist die von ihr wohl am häufigsten porträtierte Person. Sie ist ein Eunuch, ohne Vergangenheit und ohne Angehörige, ein Double Outcast, die zunächst aus Familie und Gesellschaft und schliesslich auch aus der Gemeinschaft der Eunuchen ausgegrenzt wurde. Heute lebt Mona auf einem Friedhof in Alt-Delhi und sie, die Familienlose, ist zu Singhs Ersatzfamilie geworden. Was bedeutet Identität heute, wenn man nicht dazugehört? Zu keiner Familie, zu keiner Nation?“

Dayanita Singh:
↑ Sea of Files, 2013, Digitale Diaprojektion
↓ Mona and Myself, 2013, bewegtes Standbild

Dayanita Singh, Myself Mona Ahmed, 2001;
Alle Arbeiten Courtesy Dayanita Singh und Frith Street Gallery, London

↑↓ Santu Mofokeng, zwei Fotoarbeiten

Santu Mofokeng, Mautse Cave, Free State (Südafrika), 1996
Alle Fotografien Courtesy Santu Mofokeng und Lunetta Bartz, MAKER,  Johannesburg

„In Santu Mofokengs fotografischen Serien prallen ebenfalls transnationale Entwicklungen, alte Traditionen und persönliche Schicksale aufeinander. Mofokeng begann in den 1970er-Jahren als Strassenfotograf in Soweto, dokumentierte später die Befreiungskämpfe der schwarzen Bevölkerung gegen die Apartheid und das tägliche Leben in den Townships und gilt heute als einer der wichtigsten schwarzen südafrikanischen Künstler und Fotografen. Seit 1996 arbeitet er an dem Foto-Essay Chasing Shadows, in dem er die religiösen Rituale der schwarzen Bevölkerung zeigt und die Orte, an denen sie praktiziert werden, insbesondere die Höhlen von Motouleng und Mautse. Mofokeng untersucht die Beziehung zwischen Landschaft, Religion und Erinnerung und beschäftigt sich mit der Idee der traumatisierten Landschaft, in die sich persönliche und historische Geschichten gleichermassen eingeschrieben haben. Für seinen Beitrag mit dem Titel Ancestors/Fearing the Shadows in Venedig ergänzt Mofokeng dieses Work in Progress um eine neue Serie, in der er dokumentiert, wie die spirituell aufgeladenen Landschaften in der Provinz Mpumalanga im Nordosten von Südafrika einer sich weltweit ausbreitenden wirtschaftlichen Aneignung von Land zum Abbau von Rohstoffen zum Opfer fallen und entweiht werden. Christoph Schlingensief hat in Via Intolleranza II beklagt, dass 95 Prozent der Bilder, die wir Europäer von Afrika kennen, von Weissen gemacht werden. Die Fotografien von Santu Mofokeng zeigen den Blick derjenigen, die den Alltag während der Apartheid erlebt haben, auf die von ihnen spirituell aufgeladenen Landschaften, die heute aber erneut entweiht werden.“

Unser persönliches, individuelles Resumee:

Der Tausch der Pavillons zwischen Deutschland und Frankreich (anlässlich des Jubiläums 50 Jahre Élysée-Vertrag) für deren jeweilige nationale Präsentation stellt weit mehr als nur eine freundschaftliche Geste beider Länder vor dem Hintergrund ihrer zumeist leidvollen Geschichte und ihrer besonderen Bedeutung und Verantwortung im geopolitischen Zentrum Europas dar. Er trifft sich in kommunizierender Weise mit der massgeblich auf deutscher Seite vertretenen kuratorischen Konzeption, die Tradition nationaler Präsentationen bei Ereignissen dieser Art nicht nur in Frage zu stellen, sondern zu beenden. Dass dies von zahlreichen Nationen gänzlich anders gesehen wird und auch hierzulande keineswegs unumstritten ist, haben wir bereits in Folge 1 und schon in früheren Beiträgen referiert.

Diese kuratorische Zielsetzung, den deutschen Beitrag mit den vier genannten, nichtdeutschen Künstlern zu bestreiten, erscheint in der Theorie wohlbegründet, schlüssig und plausibel, wie die jeweils brilliant auf den Punkt hin formulierten Texte von Susanne Gaensheimer ausweisen. Und doch bleiben die Theorie das eine, die fühl- und erlebbare Situation vor Ort das andere: Die skulpturale Installation Ai’s im grossen Oberlichtsaal des Pavillons dominiert den Gesamtauftritt, die Werke der drei anderen Künstler (Film, Video, Fotografie) in den drei den Zentralsaal umgebenden „Kabinetten“ laufen Gefahr, demgegenüber ins Hintertreffen und fast schon zu einer Art „Beiwerk“ zu geraten. Es entsteht der Eindruck einer musealen Situation, in der die besten Stücke aus dem Sammlungsbestand wieder einmal geordnet und repräsentativ ausgestellt werden. In diesem Sinne ungünstig ist bereits die Architektur des Gebäudes (wie sie ähnlich auch im deutschen Gegenüber anzutreffen ist), die von einer Bestückung der Ausstellungsräume noch vorwiegend mit Gemälden ausgeht.

Ai Weiweis „Bang“ einmal aussen vor gelassen: in den drei Kabinetten haben uns die leisen, so sensiblen Arbeiten von Dayanita Singh am Intensivsten angesprochen und am Tiefsten berührt.

Enttäuschend Teile des – mitunter boshaft daherkommenden – Medienechos: „wie langweilig, wie brav“ (Tagesspiegel, Zeit); „eher angestrengt“, „allzu musterschülerhaft“ (Spiegel); „nicht überzeugend“ (WDR); „Würde einer Museumsinstallation“, „sanft gähnenden Löwen … verdient“ (FAZ).

Santu Mofokeng, Dayanita Singh, Romuald Karmakar

Fotos: Erhard Metz

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (7)

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (4)

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (1)

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