55. Biennale Arte Venedig 2013 (7)
Anri Sala: RAVEL RAVEL UNRAVEL
Der französische Pavillon im deutschen Haus
Von Erhard Metz
Dass zur aktuellen Kunst-Biennale in Venedig Deutschland und Frankreich ihre Länderpavillons getauscht haben, wird sich zwischenzeitlich bis, na ja, sagen wir mal, Untergriesbach im südöstlichsten Zipfel des schönen bayerischen Freistaats und somit auch der gesamten Republik herumgesprochen haben.
Dass der unglücklicher Weise im Jahr 1938 nazischwanger verkleidete Bau – es handelt sich um den ursprünglich Bayerischen Pavillon in den venezianischen Gärten – mit der grimmigen Aufschrift GERMANIA bei Künstlern und Kuratoren schon traditionell-habituell ein schlechtes Ansehen geniesst – ebenfalls.
So nimmt es nicht wunder, dass Kuratorin Christine Macel und Künstler Anri Sala als erstes den Haupteingang hinter den ungeliebten Säulen zusperren und verblenden liessen und das geneigte Publikum zum Lieferanteneingang irgendwo links hinten am Gebüsch baten: dies gehört mit zum Gesamtkunstwerk. Zum Glück wies ein mannshoher Hinweis den Weg – selbstverständlich nicht in der Sprache des für den Pavillon gastgebenden Landes – versteht sich.
Wir können es nicht verheimlichen: Am 31. Mai dieses Jahres, dem letzten Preview-Tag, regnete es ein wenig. Aus einer langen Besucherschlange die Hauptallee durch die Giardini hinauf bildete sich eine Gabelung – die vom Bildbetrachter aus linke führte in den französischen (deutschen) Pavillon, die rechte in den deutschen (französischen) Pavillon. Alles klar?
Nach bald einstündigem Warten wurde die „französische“ Schlange wenigsten mit einem kleinen, an einem Baum am Wegesrand angeklebten Hinweis vertröstet – selbstverständlich wiederum nicht in der Sprache Goethes und Schillers, Heinrich Heines oder Thomas Manns.
Hat sich das Warten unter unerfreulichen Umständen denn nun gelohnt? Unsere Antwort: Ja. Sehr.
Durch den linken Hintereingang also betritt der Besucher das Gebäude, die Apsis der Zentralhalle ist von dieser abgetrennt und leer. Die Mittelhalle ist mit schwarzen, schallschluckenden Bauelementen verkleidet und bildet einen semi-schalltoten Raum mit einer zweifachen Projektionsfläche, die beiden Seitensäle weisen jeweils eine Projektionsfläche auf.
Anri Salas Klang-Video-Installation erscheint nur auf den ersten flüchtigen Blick unverständlich-verkopft. Das Publikum lauschte alsbald nach Eintritt gebannt dem Geschehen. Das Werk ist hoch konzeptuell, im wohlverstandenen Sinne des Wortes genial, bei aller Komplexität im Grunde jedoch klar und intelligent strukturiert. Dies ist rasch erzählt:
Paul Wittgenstein, Foto unbekannt/Bernhard Fleischer Moving Images BFMI/wikimedia commons cc
Der Pianist Paul Wittgenstein (1887 bis 1961), Bruder übrigens des Philosophen Ludwig Wittgenstein, verlor im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm, gab aber sein Spiel und seine Karriere nicht auf und warb bei bedeutenden Komponisten seiner Zeit um entsprechende Kompositionen. Unter anderen schrieb Maurice Ravel (1875 bis 1937) in den Jahren 1929/1930 eigens für Wittgenstein sein bekanntes, nur einsätziges Konzert für die linke Hand in D-Dur, welches der Pianist 1932 in Wien zur Uraufführung brachte (hier in einem Video mit der Pianistin Waejane Chen und dem Orchester UI Symphony unter dem Dirigat von Donald Schleicher). Für einen „normalen“ Pianisten ist es eine grosse Herausforderung, die rechte Hand ruhen zu lassen und allein mit der linken die 88 Tasten zu bespielen.
Zum Kern der Arbeit:
Unter hohem technischen Aufwand und mit der vom Künstler gewohnten wie erwarteten Präzision und Qualität liess Sala das Konzert aufzeichnen, von zwei verschiedenen Pianisten eingespielt, die jeweils unmittelbar an der Tastatur gefilmt wurden: Louis Lortie und Jean-Efflam Bavouzet, mit dem Orchestre National de France und dem Dirigenten Didier Benetti. Interpretation und Spiel-Tempi beider Pianisten liefen naturgemäss nicht synchron, und Sala liess das Werk zusätzlich in seinen Tempi behutsam bearbeiten, ohne ihm dabei dessen besonderen Charakter zu nehmen. In den beiden so entstehenden Konzertaufnahmen läuft das Spiel der zwei Pianisten also mal gleichauf, mal auseinander, mal wieder aufeinander zu.
Der Titel RAVEL RAVEL UNRAVEL ist ein Wortspiel (englisch to ravel = verwirren), also Ravel (das Konzert des Komponisten) verwirren und wieder entwirren.
RAVEL RAVEL:
Die Verwirrung wird im semi-schalltoten Mittelsaal erreicht: Über die beiden übereinander angeordneten Projektionswände werden parallel, also zeitgleich – und in opulenter HD-Technik – die eine sowie die andere Konzertversion aufgeführt. Das Spiel der Pianisten läuft, wie dargelegt, akustisch mal auseinander, mal aufeinander zu. Der Zuschauer sieht den Unterschied in den Spielabläufen der jeweiligen Hand. Zudem verhindert der schalltote und damit hallschluckende Raum eine „natürliche“ Echo-Bildung. Und doch entsteht ein „technisches“ Echo: eine artifizielle „Räumlichkeit“ mit dem „scheinbaren“ Echohall ergibt sich, weil die beiden verschiedenen Interpretationen der zwei Pianisten im Zeitmass auseinanderdriften.
UNRAVEL:
Eine weitere Person tritt hinzu: DJ Chloé. Sie hat die sensible Aufgabe, die beiden nicht kongruenten Konzerteinspielungen wieder zusammenzuführen. Die beiden auf Venylplatten gepressten Versionen laufen auf je einem DJ-Plattenspieler. Mit ihren Händen bremst oder beschleunigt Chloé feinfühlig und in höchster Konzentration die Plattenteller, wobei sie – wie zuvor die Pianisten – ebenfalls gefilmt wird. Im ersten Seitenraum ist das entsprechende – hier tonlose – Video zu sehen, bei dem Chloé bei ihrer Arbeit beobachtet wird. Im zweiten Seitenraum folgt eine Video-Projektion mit der Arbeit Chloés an den Plattentellern, und es erklingt das „wiedervereinigte“ Konzert. Diese „Wiedervereinigung“ vollzog Sala in der Vorbereitungsphase im noch unverkleideten Zentralraum des Pavillons, mit dem daraus seinerzeit resultierenden, nun wieder im Video zu hörenden „natürlich-räumlichen“ Echohall.
Ein zentrales Thema der Arbeiten Anri Salas ist die Auseinandersetzung mit Raum und Zeit und deren Verhältnis zueinander: In einer gewissen Weise wird Zeit bewusst erlebbar, hörbar gemacht. Ein Spiel, so möchten wir sagen, auf jeden Fall eine Bewusstseinserweiterung.
Zurück zum kulturpolitisch erwünschten Pavillontausch. RAVEL – verwirren – und UNRAVEL – entwirren: Eine Parabel auf die Nachbarn, Partner und Freunde Deutschland und Frankreich – einst in Jahrhunderte dauerndem Streit, ja in Kriegen „verwirrt“, nun glücklich „entwirrt“?
Eine geniale, faszinierende Arbeit, diese Klang-Video-Installation Anri Salas. Mit Ai Weiwei’s „Bang“ zählen wir sie zu dem Interessantesten und Besten, was auf dieser Biennale zu sehen ist.
Fotos (ausser Porträt Wittgenstein): Erhard Metz