documenta 13 in Kassel (14)
Thomas Bayrle: Sex-Zylinder und Autobahnen ins Nichts
Die documenta 13 räumt dem emeritierten Städelschul-Professor Thomas Bayrle mit der „Hohen Halle“ den grössten und höchsten Saal der Documenta-Halle und die grösste Einzelpräsentation der diesjährigen 100 Tage-Weltkunstschau ein, und niemand wird bestreiten, dass Bayrles Auftritt zu deren Höhepunkten zählt. Nach unserem Verständnis ist es die bedeutendste Arbeit dieser documenta überhaupt.
Diese aufgeschnittenen Motoren: Sie hätten etwas Monotones, Repetitives, aber auch etwas Sexuelles, sagte Frankfurts Museums-Übervater Max Hollein im Interview mit dem Hessischen Rundfunk. Besonders gilt dies natürlich für den lärmenden Sex-(Sechs-) Zylinder-Motor des Porsche 911, seit jeher Lebenstraum von Playboys, Schicki-Mickis und Adabeis.
Bayrle hat die Motorblöcke in der Werkstatt seines Bruders mittig aufschneiden lassen, ein Elektromotor treibt Zylinder, Ventile und Steuerketten an, die Zylinder bewegen sich in den Boxer- und Sternmotoren langsam und geschmeidig aufeinander zu und wieder voneinander weg, ja, das ist schon sexy.
Dazu aufbrüllender Motorensound und – darin verschmelzend – gesprochene und gesungene Gebete. Beim 911 ist es das Rosenkranzgebet. Jeder der Zylinderhube eine Perle?
„Porsche 911: Rosenkranz“, 2010, Porschemotor, aufgesägt, Soundinstallation, 100 x 71 x 93 cm, Courtesy der Künstler, Galerie Barbara Weiss, Berlin
Dem röhrenden Muskelprotz stellt Bayrle das schmächtige Motörchen des berühmten „Döschwo“ gegenüber, das Herzstück jenes bezaubernden Wägelchens also, das über Jahrzehnte das Statussymbol subversiver studentischer Kultur und Intellektualität war, sofern diese sich überhaupt motorisierte. Auch seine zwei Boxer-Zylinder vollführen, nicht weniger sexy, die gleichen rhythmischen Bewegungen wie der grosse Sechser. Titel der Arbeit: „Rosaire“, wie beim Porsche, nur eben auf Französisch.
„Rosaire“, 2012, 2-CV-Motor, aufgesägt, Soundinstallation, 117 x 65 x 50 cm, Courtesy der Künstler, Galerie Barbara Weiss, Berlin, in Auftrag gegeben von der documenta 13 und produziert von der Galerie Barbara Weiss, Berlin
Könige in dieser Runde sind die zwei mächtigen 9-Zylinder-Sternmotoren aus dem früheren Flugzeugbau. Faszination Maschine: der disziplinierte wie harmonische Lauf der Zylinder; deren auf die im Zentrum aller Bewegung rotierende Kurbelwelle einwirkende, sichtbar gemachte Kraft. Wir sehen im Geist lederbehelmte Recken in ihren Fliegerjacken, die dicken froschäugigen Fliegerbrillen über die sonnengebräunte Stirn geschoben, sie verströmen den Geruch von schwerem Leder, Motorenöl und Flugbenzin. Notfalls werfen sie, so stellen wir uns vor, den Neunzylinder mit herkulischem Dreh an der Luftschraube an.
„Sternmotor: Hochamt“, 2010 (Totale und Detail), Sternmotor, aufgesägt, Soundinstallation, 150 x 110 x 120 cm, Kistefos Museum / Norwegen
„Monstranz“, 2012, Sternmotor, aufgesägt, Soundinstallation, 150 x 110 x 120 cm, Museum Ludwig, Köln
Wie schön, elegant, ästhetisch, wie erotisch, verführerisch kann Technik sein!
Die Menschheit bestaunt vielfach die durchdesignten Muskelprotze der Automobilausstellungen, tanzt gerne um das heute zum Automobil mutierte biblische Goldene Kalb. Mit dem kernigen Motorenklang kombiniert der Künstler die in verschiedenen Sprachen überwiegend in Frankfurter Kirchen aufgenommenen Gebete, er gibt den Arbeiten die der religiösen Sphäre entliehenen Titel wie „Rosenkranz“, „Hochamt“ oder „Monstranz“. Arbeiten und Beten – das alte „Ora et labora“ der Benediktiner – fügen sich hier auf eine ungeahnte und bisher ungesehene Weise zusammen.
Aber auch wie monoton: Die Maschinen verrichten – mantrahaft – immer dasselbe, und mit ihrem tiefen sonorischen Brummen und Wummern eignet ihnen etwas Gebetsmühlenhaftes, ja sogar etwas Meditatives.
Aber auch wie bedrohlich: Die Maschinen entwickeln Kräfte, die jenseits allen menschlichen Masses liegen. Nicht immer gelingt es dem Homo sapiens, sie zu kontrollieren, das einmal Entfesselte zu beherrschen, zu bändigen und wieder anzuhalten. Unfälle bis hin zu Katastrophen sind die Folge. Zum Beispiel Flugzeugabstürze. Zum Beispiel Tschernobyl und Fukushima.
Thomas Bayrle inmitten seiner Arbeiten
„Hohe Halle“, Ausstellungsansicht, links „Carmageddon“, rechts „Flugzeug“
„Carmageddon“ (Detail, mit Lichteinfall), 2012, Papprelief, 8 x 25 m, Foto: Jürgen E. Reinwald
In der eigens für die documenta 13 produzierten, 25 Meter an Länge messenden Arbeit aus Pappkarton „Carmageddon“ kreuzen sich Tausende von Autobahnabschnitten, ohne je zu irgendeinem Ziel zu führen. Den Titel der Arbeit entlehnte Bayrle der widerwärtigen, juristisch wie ethisch heftig umstrittenen Computerspielserie gleichen Namens mit ihrer sinnlosen, gewalttätigen automobilen Raserei unter vorsätzlicher Inkaufnahme fiktiver Todesopfer – Spiegelbild unserer bundesrepublikanischen „Autobahn-„Gesellschaft, die darauf beharrt, die (wenn wir es recht wissen) einzige in Europa ohne eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung zu bleiben?
Dann die knapp dreizehneinhalb Meter breite Arbeit „Flugzeug“, zusammengesetzt aus – wie zu lesen war – eineinhalb Millionen kleiner Flugzeugbilder. Einheit in der Vielheit, Vielheit in der Einheit oder das Heraklit’sche „Aus Allem Eins und aus Einem Alles“.
Sinnbild für die Masslosigkeit des weltweit schier ins Unendliche expandieren wollenden Flugverkehrs mit seiner noch unabsehbaren Schädigung der Umwelt, Sinnbild für Millionen und Abermillionen Flugbewegungen im Zeitalter eines atemlosen globalen Geschäftsverkehrs, eines meist nur noch Stress bringenden statt Erholung fördenden Massentourismus, Sinnbild auch für eine skrupellose Verlärmung weiträumiger, von Zig-Tausenden bewohnter Regionen, wie wir sie derzeit nach dem Bau der vierten Bahn in Frankfurt am Main und im gesamten Rhein-Main-Gebiet erleben?
„Flugzeug“ (Ausstellungsansicht und Details), 1982/1983, Fotomontage, 8 x 13,4 m
In genialer Weise korrespondieren die drei Ausstellungskomponenten – Carmageddon, Motoren, Flugzeug – untereinander: Mensch und Maschine, Masse und Individuum, Konsum und Meditation, fiktionale Computer- und reale Welt, unsere Umwelt.
Man muss in dieser „Hohen Halle“, inmitten dieser Werke von Bayrle gestanden haben, um deren Wucht und Kraft und deren Bedeutung für diese documenta 13 ermessen zu können.
Keinesfalls jedoch dürfen Bayrles Arbeiten als Technikfeindlichkeit missverstanden werden. Vielmehr geht es darum, dass Technik sinnstiftend für den Menschen dasein soll und nicht der Mensch für die Technik; dass der Mensch die Technik beherrschen soll und nicht die Technik den Menschen.
Thomas Bayrle, 1937 in Berlin geboren, war mit seinen Arbeiten bereits auf der documenta 3 und 6 (1964 bzw. 1977) vertreten. Seiner Ausbildung als Weber folgte das Studium der Gebrauchs- und Druckgrafik, Lithographie und Radierung an der damaligen Werkkunstschule Offenbach. Er arbeitete unter anderem mit Bernhard Jäger und Ernst Jandl zusammen. 30 Jahre lang – von 1972 bis 2002 – war er Professor an der Staatliche Hochschule für Bildende Künste (Städelschule) in Frankfurt am Main. Seine Arbeiten wurden und werden vielfach europa- und weltweit ausgestellt.
Abgebildete Werke © VG Bild-Kunst, Bonn; Fotos (soweit nicht anders bezeichnet): Erhard Metz
→ documenta 13 in Kassel (1)
→ documenta 13 in Kassel (13)