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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Europa: In welche Zukunft wird und kann es gehen?

Medien und ihr Gemeinwohlbeitrag in und für Europa

Ein Leipziger Kongress erörtert Perspektiven und mediale Modelle

Von Uwe Kammann

Erinnert sich noch jemand an die zahlreichen blauen Fahnen mit dem Sternenkranz auf dem Frankfurter Goetheplatz? Sie wurden geschwenkt von einer gar nicht so kleinen Gruppe, die sich selbst – unter dem Siegel Pulse of Europe – als engagierte Mitglieder der Zivilgesellschaft verstanden wissen wollte. Geeint vor allem mit einem Ziel: für ein starkes, auf Integration setzendes Europa einzutreten. Im April 2017 hatte sich in Frankfurt ein die Idee tragender Verein gegründet, vernetzt mit zahlreichen Initiativen einer internationalen Bewegung, sichtbar in vielen europäischen Städten.

Veranstaltung „Pulse of Europe“ auf dem Rathenauplatz in Frankfurt (2017), Foto: Petra Kammann

Doch von der damaligen quirligen Sichtbarkeit ist nichts mehr übriggeblieben, es ist ruhig geworden um diese so hoffnungsvoll gestartete Bürgerinitiative. Zwar existiert noch eine Internetseite, doch ist deren Strahlkraft bescheiden. Der aktuelle Wikipedia-Beitrag zu Pulse of Europe belegt ebenfalls: Die hohe Zeit ist vorbei. Und die gerade auf dem Grünen-Parteitag in Augsburg formulierten Ziele für die Europawahl im nächsten Jahr klingen gegenüber früherem Einigungs-Pathos viel gedämpfter.

Sonnige Herbstatmosphäre im Sender-Atrium beim Europa-Kongress des MDR, Foto: Petra Kammann

Ein kürzlich in Leipzig zu Ende gegangener Kongress, der untersuchen sollte, wie es um Europa steht – speziell auch, wenn es unter der Perspektive einer europäischen Öffentlichkeit und im Zusammenhang mit der Medienlandschaft betrachtet wird –, kam ebenfalls zu einem gegenüber früheren Visionen eher ernüchternden Fazit. Zumal schnell deutlich wurde, wie offen dieser Begriff ist, wieviel Heterogenes mit ihm verbunden ist – politisch, gesellschaftlich, kulturell. Von einem Wahlerfolg Geert Wilders in Holland als Menetekel war da noch nicht die Rede, auch der Hamas-Angriff auf Israel war noch nicht auf der Kriegskarte neben der Ukraine zu sehen. Tiefe Krisenerscheinungen, sie allerdings waren keine Randerscheinung.

Die Pianistin Elena Bashkirova spielte ein Menuett des „Europäers“ Mozart, Foto: Petra Kammann

Gleichwohl, zum Kongressauftakt drang strahlende Herbstsonne durch das Glasdach des Auditoriums in der Leipziger Media City auf dem Gelände des gastgebenden Mitteldeutschen Rundfunks. Dazu erklang, perlend leicht, Klaviermusik: Elena Bashkirova spielte ein Menuett von Mozart. Ein wirklicher Europäer sei er gewesen, vielsprachig, offen, weitgereist. Ein Vorbild für uns, ein Ansporn: „Kultur ist so wichtig für die Menschen“. Doch fand sich auch Moll in den Worten der in Moskau geborenen Pianistin, die seit langem in Berlin lebt: eben beim besonderen Blick auf ihr Geburtsland und die Beziehungen zu Europa: „Es gibt keine großen Hoffnungen in den nächsten Jahren“.

Kooperationspartner: MDR-Intendantin Karola Wille (im November aus dem Amt geschieden) und Timo Meynhardt, Professor der Handelshochschule Leipzig, Foto: Petra Kammann

Europa: ja, darum ging es bei dieser nun dritten Public-Value-Konferenz, welche der MDR gemeinsam mit der Handelshochschule Leipzig im September veranstaltete. „Medien und ihr Gemeinwohlbeitrag in und für Europa“ war das Vorhaben überschrieben. Es ging um einen grundlegenden Befund, um die Beschreibung der komplexen Wirklichkeiten, die mit dem Begriff verbunden sind, natürlich auch um das Ausmessen der Möglichkeiten. Wie ist Europa zu begreifen, in welcher Form spiegeln es die Medien, wie wiederum sind die Medien in den so verschiedenen Ländern des Kontinents organisiert und verfasst, wie sind die regulatorischen Grundlagen, in welchen Praxiszwängen stecken sie? Und: Welches Bild, besser: welche Bilder Europas vermitteln sie, welche politischen Muster, auch Zielsetzungen sind ihrer jeweiligen Arbeit eingeschrieben? Wo liegen die Defizite, wie sehen die Bedrohungen aus?

Beschwört eine notwendige europäische Emanzipation: der Schweizer Publizist Roger de Weck, Foto: Petra Kammann

Ein vielleicht verwegener Ansatz. Denn die Bedeutungsvielfalt allein des Begriffes Europa ist enorm. Sei es als Kontinent, als Wirtschaftsraum, als politische Union, als Kulturbegriff, als Geschichtslinie, also auch als lange Zeit dominierende Kontinuität von Machtkämpfen und Kriegen. Dazu kommt, was der erfahrene Publizist Roger de Weck als Auftaktreferent schlicht so beschrieb: „Wir erleben einen Umbruch sondergleichen“, und „dies in so kurzer Zeit“.

Günter Verheugen, höchst erfahrener Europa-Politiker, einst als EU-Kommissar für Erweiterung und europäische Nachbarschaftspolitik zuständig, malte die politische Perspektive in der Schlussrunde so drastisch wie düster aus: „Ohne Emanzipation werden wir in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu einer Fußnote werden.“

Aber zwischen diesen beiden Feststellungen lagen viele Beiträge, welche zeigten, wie verschieden die Blickwinkel und die Deutungen sein können, wenn es um die mediale Einbettung des europäischen Geschehens geht. Immer natürlich auch mit dem Fragezeichen, welche rechtlichen und praktischen Grundlagen die jeweiligen Medien in ihren Ländern haben, welche Freiheiten sie genießen, welchen Zwängen sie unterworfen sind.

Überzeugte Europäer: Ex-EU-Vizepräsident Günter Verheugen und die Pianistin Elena Bashkirova,  Foto: Petra Kammann

Roger de Weck (früher u.a. „Zeit“-Chefredakteur und Chef der SRG, des schweizerischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks) hatte gleich anfangs emphatisch Demokratie und Medien als „Zwillinge“ bezeichnet, der „Kultur der Aufklärung“ verpflichtet. Eine vielerorts in Europa bedrohte Rolle, wie er feststellte: eben nicht nur in Ungarn oder Polen, sondern auch in Ländern wie Frankreich, Italien, Großbritannien. Dem stellte er einen absoluten Appell entgegen, gerade unter dem Siegel des Gemeinwohls: „Die Öffentlich-Rechtlichen haben die Pflicht zu Souveränität, in jeder Hinsicht.“ Auch die Formel „stolze Demut“ gebrauchte er.

Die Verhältnisse in Deutschland seien „vergleichsweise gesund“. Ein Befund, den Ex-Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof (in der 1. Kammer des obersten Gerichts zwölf Jahre direkt mit Medien befasst) später noch positiver umriss: Hier lebten wir,„auf einer Insel der Seligen“, was die Medienfreiheit betrifft („normativ gut gewährleistet“). Mit der herrschenden großen Vielfalt an Medien seien wir „ganz gut versorgt.“

Beklagt die eingeschränkte Pressefreiheit in Polen: Aleksandra Sobczak, stellvertretende Chefredakteurin von „Gazeta Wyborcza“, Foto. Petra Kammann

Wie anders dies aussehen kann, das beschrieben und bezeugten auf den Podien Journalisten aus östlichen Ländern – hier: aus Polen, der Slowakei, Bulgarien, Russland. Dieser genaue Blick in ein im Westen eher unbekanntes Terrain gehörte zu den besonderen Stärken der Tagung, unmittelbare Folge natürlich der Brückenfunktion, die sich der Mitteldeutsche Rundfunk ausdrücklich zuschreibt. Sicherlich wäre auch eine untersuchende Präsenz aus den kritisch erwähnten West-Ländern wünschenswert gewesen – aber die Zeitökonomie stand dagegen.

So aber erfuhr das Konferenzpublikum aus erster Hand – immer staunenswert unaufgeregt, sachlich, faktenreich und argumentativ bestens fundiert –, wie Medienfreiheit eingeschränkt werden kann. Beispielsweise durch den Aufkauf von Medien durch große Konzerne, beschrieben von Aleksandra Sobczak (stellvertretende Chefredakteurin von Gazeta Wyborcza). So durch Einschüchterung von Journalisten, bis hin zum Mord, wie es Lydia Kokavcova aus der Slowakei berichtete: „Mehr als zwei Drittel der Journalisten fühlen sich bedroht“. Gleichwohl – und diese Haltung schien auch in den anderen Ost-Positionen auf – klang sie entschlossen und fest: „Wir haben Angst, aber wir müssen weiterkämpfen.“

Exil-Journalist Maxim Kurnikov (Mitte) beschreibt das omnipräsente russische Zensursystem; weiter auf dem Podium: Michael Rediske (Reporter ohne Grenzen, links) und Scott Griffin, stellvertretender Direktor International Press InstituteFoto: Petra Kammann

Maxim Kurnikov – vor seinem jetzigen westlichen Exil Vize-Chef von Radio Echo Moskau – sieht den Schlüssel für autoritäre Medienbeeinflussung (wie durch Putin, Trump, Orban) in einer einfachen Methode: das Vertrauen in die Medien zu zerstören, indem die Grundbehauptung aufgestellt wird: „Jeder lügt“. Dazu komme die Blockade vielfältiger Quellen. In Russland seien 200.000 Webseiten geblockt. Allerdings gelinge es immer noch einigen Publikationen, über findige Plattformen die technischen Schranken zu umgehen und das russische Publikum zu erreichen.

Scott Griffin, Stellvertretender Direktor des International Press Institute, zeichnete ein insgesamt düsteres Bild, weil global ein „signifikanter Rückgang der Medienfreiheit“ zu konstatieren sei, auf einer „autoritären Welle“, begleitet von „immer offeneren Attacken auf Journalisten, ohne wirkliche Konsequenzen“. Verzerrungen durch Machtstrukturen, persönliche Überwachungen, staatliche Einflussnahmen durch gezielte (finanzielle) Ressourceneinsätze, Einschüchterungen durch eine Fülle von rechtlichen Klagen: Alle diese Instrumente würden genutzt, um die Medienfreiheit massiv zu beschneiden. Dazu kämen „leisere Formen, die nur schwer zu erfassen sind.“

Weitere Einordnungen aus übergeordneter Sicht lieferten Lutz Kinkel (European Centre for Press and Media Freedom) und Michael Rediske (Reporter ohne Grenzen). Kinkel nannte den Zustand des öffentlich-rechtlichen Systems in Polen „schockierend“, es sei „komplett von Staatspropaganda durchdrungen“, begünstigt durch „absolute staatliche Kontrolle“: die Opposition verfüge über gerade einmal 20 Prozent der Sitze in den drei Aufsichtsgremien. Für die hiesigen Verhältnisse sah Rediske noch keinen Grund zur gesteigerten Beunruhigung: „In Deutschland gehört wenig Mut dazu, aufrecht zu gehen.“

Welche Vorgaben soll die EU machen? Die für Medienfragen zuständige Stellvertretende EU-Generalsekräterin Renate Nikolai diskutiert mit dem bulgarischen Universitätsdozenten Ivo Indzhov links) und Ex-Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof, Foto: Petra Kammann

Hier lockte später Ferdinand Kirchhof in seinem Referat gegen den Stachel. Denn in sein grundsätzliches Lob für den normativen Zustand der hiesigen Medienfreiheit flocht er „etwas Unbehagen“ angesichts der Praxis ein. Dort beobachtet er eine „Selbstentmachtung“. Gerade bei großen Themen wie Klimawandel und Migration sei eine „Überhöhung des politischen Mainstreams“ zu registrieren, ebenso zu viel regierungsnahe Konformität, auch die Tendenz, über eine eigene Agenda sich die Attitüde eines Lehrmeisters zuzulegen. (Auch de Weck hatte gemahnt: „Nichts ist schlimmer als der moralische Zeigefinger“.) Die „kognitive Dissonanz“ zwischen einer mehrheitlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit und der medialen Darstellung geben Anlass zur Sorge.“

Allerdings wandte sich Kirchhof in der anschließenden Runde, welche der Medienpolitik in Europa gewidmet war, klar gegen Bestrebungen der Europäischen Kommission, über den derzeit nicht nur propagierten, sondern institutionell vorangetriebenen European Media Freedom Act (EMFA) eine neue supranationale Regulierungsinstanz einzurichten.

Renate Schroeder, Direktorin der Europäischen Journalisten-Föderation, skizziert die medialen Herausforderungen, Foto: Petra Kammann

Renate Nikolay, als stellvertretende Generaldirektorin in der Kommission zuständig für Kommunikationsnetzwerke, Inhalte und Technologie zuständig, stellte den Entwurf und dessen Intentionen temperamentvoll vor. Es gehe dabei um „Richtungsvorgaben“, um die Stärkung des öffentlich-rechtlichen Prinzips gegen Staatseinfluss und allgemein der redaktionellen Unabhängigkeit: „Wir wollen nicht die Tendenz beeinflussen“. Es seien auch keine direkte Überprüfung und Kontrolle des Medienschaffens in der EU beabsichtigt, sondern es gehe um positive Einflussnahme in kritischen Fällen durch eine initiierte Peer-Group-Debatte der beteiligten Akteure. Der als EMFA-Instanz einzurichtende „Board“ solle lediglich seine „Meinung“ abgeben.

Die stellvertretende EU-Kommissarin (nach wiederholter Nachfrage von Moderator Jörg Wagner unschwer als Initiatorin des Vorhabens zu identifizieren) erntete auf dem Podium den geballten Widerstand der deutschen Teilnehmer. Vor allem Dieter Dörr ­– in vielen Funktionen ein hoch angesehener, dabei immer auch streitbarer Medienjurist – ließ kein gutes Haar an dem EU-Vorstoß. Er sei schon vom Ansatz her falsch und tatsächlich ein „Dammbruch“. Als solcher öffne er den Weg zu weitreichenden Befugnissen und Eingriffsmöglichkeiten, übergebe der EU-Kommission eine „ihr nicht zustehende Regelungskompetenz“ auf Basis der Binnenmarktsregelungen. Das alles sei in der Summe „alles andere als harmlos“ und drohe die hohen deutschen Standards auszuhöhlen.

Einspruch zu aktuellen EU-Plänen kam von der rheinland-pfälzischen Staatssekrätetin Heike Raab (links), von Sigrun Albert (Hauptgeschäftsführerin BDZV) und vom Medienjuristen Dieter Dörr, Foto: Petra Kammann

Sigrun Albert, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV), pflichtete bei, sie sehe „EU-Gefahr“ und „mangelnde Rechtsstaatlichkeit“. Auch Heike Raab (als Staatssekretärin und Bevollmächtigte des Landes Rheinland-Pfalz für Europa und Medien die zentrale Figur im deutschen Länder-Verbund der Medienpolitik) äußerte Kritik und Zweifel – allerdings im diplomatisch-kaschierenden Tonfall. Notwendig sei eine „Mindestharmonisierung“ im Kreis der Mitgliedsländer bei einem solchen Vorhaben, bei dem sie „nicht sicher“ sei, ob in dessen Folge „die Lage beispielsweise in Polen oder Ungarn besser wird.“  Vielmehr herrsche die „Angst vor dem Aufweichen der eigenen Regeln durch europäische Aufsichtsbehörden“.

Ganz anders sah es allerdings Ivo Indzhov, in Bulgarien Universitätsdozent für Journalismus. Wenn – wie in seinem Land – Oligarchen die Kontrolle über die Medien ausübten („der gekaperte Staat hat gekaperte Medien“), dann sei ein Eingreifen der EU „unbedingt notwendig“. Seine Kritik am EMFA zielte dabei in eine ganz andere Richtung, nämlich unklare oder mangelnde Sanktionsmöglichkeiten: „Ein „zahnloses EU-Gesetz hat keinen Sinn“, der EMFA sei aus bulgarischer Sicht „abgehoben“. Dies bezog sich auf die interpretierende Versicherung Nikolays, es gehe bei der geplanten Verordnung lediglich um einen „Prinzipienansatz aus dem Maschinenraum der EU“, und dies „voller Respekt vor den individuellen Verfassungstraditionen“.

Und sie versicherte an anderer Stelle: „Es geht uns nicht um eine Kompetenz-Kompetenz“. Diesen Begriff hatte Dörr eingebracht, in Anspielung auf Bestrebungen in der EU-Kommission, allen nationalen Kompetenzen eine europäische Letztengscheidungs-Kompetenz überzuordnen. Wenn es letztlich im Streitfall auf eine rechtliche Überprüfung zulaufe, so Dörr, dann habe die Kommission mit dem EMFA allerdings eine gute Chance sich durchzusetzen, weil der Europäische Gerichtshof immer auf Integration setze. Dabei sei ein ganz anderes politisches Ziel notwendig und unbedingt anzugehen: „ein strenges europäisches Wettbewerbsrecht“. Und im Übrigen setze er, basierend auf allen bisherigen Erfahrungen, auf eines: „Freiheit“.

Ob dies der zentrale Begriff überhaupt ist, wenn es um Medien, Kultur und Politik in Europa geht? Der Titel der letzten Runde legte dies nahe, wie auch eine ganze Reihe von Einzeläußerungen im Laufe der zwei Kongresstage. Ist dies der Kern aller Identitäten, aller Zuschreibungen, aller Verheißungen aus dem Geist der Aufklärung? Gibt es überhaupt den großen gemeinsamen Nenner, oder ist schon der kleinste kaum noch zu erkennen?

MDR-Programmdirektor Klaus Brinkbäumer moderierte die Schlussrunde zum Themenkomplex „Medien, Kultur und Politik – Freiheit in Europa“, Foto: Petra Kammann

Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradio, brachte eine gehörige Portion Skepsis in die Runde, vor allem bei der Fragestellung nach Identitäten, auch nach einer identitätsvermittelnden europäische Öffentlichkeit. Christine Landfried, ehemalige Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg, hatte zuvor mit höchster Emphase eine solche gemeinsame Öffentlichkeit gefordert, als mediale Pro-Europa-Institution (an anderer Stelle war aus dem Publikum eine Art Super-ARTE gefordert worden).

Raue goss Wasser in den Wein: Das sei nichts als eine „eine schöne Illusion“, eine von der Zielsetzung her „zwar wünschenswerte, aber unrealistische Idee“. Eher herrschten im internationalen Beziehungsfeld Befürchtungen vor, getragen von Vorstellungen, supranationale Einrichtungen könnten als Einmischungen in die inneren Angelegenheiten genutzt/missbraucht werden. Die Gegenkräfte seien wahrscheinlicher, mit dem „Zurückschlüpfen ins nationale Nest“.

Günter Verheugen pflichtete bei. Nein, auch er habe keine Idee, wie auf supranationaler Ebene eine demokratische Öffentlichkeit zu schaffen sei. Die Darstellung der europäischen Themen funktioniere nur „durch die Filter der nationalen Medien“. Wobei durchaus zu kritisieren sei, dass die Strukturen des Zusammenlebens derzeit nicht sichtbar gemacht würden, dass es an Zielvorstellungen fehle, „was für ein Europa ich eigentlich will“. Sein schlichtes Fazit: „Wir werden keine europäische Öffentlichkeit bekommen“. Ohnehin sei ein gemeinsames Modell schon wegen der unterschiedlichen Sprachen und verschiedenartigen kulturellen Voraussetzungen nicht vorstellbar. Wenn überhaupt, fügte er sarkastisch an, dann nur beim gemeinsamen Sprechen eines schlechten Englisch.

Zufrieden mit der erfolgreichen  letzten Tagung unter ihrer Regie: MDR-Intendantin Karola Wille, Foto: Petra Kammann

Welches Europa eigentlich mehrheitlich gewollt wird?: Diese zentrale Frage konnte die Tagung allerdings nicht beantworten. Sie ist offensichtlich zu groß und zugleich zu unbestimmt. Timo Meynhardt, Direktor der mitveranstaltenden Handelshochschule Leipzig, hatte sich für sein Eingangsstatement hilfsweise einen schillernden Begriff ausgedacht: den des „Inneren Europäers“. Ihn gelte es zu wagen, gerade jetzt, da „das Projekt Aufklärung stottert.“ Doch ein Bekenntnis erachtet er als zentral. „Die europäische Idee ist eine Gemeinwohlidee.“

Flammendes Freiheitsbekenntnis durch Marek Prawda, ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland, jetzt Leiter der Europäischen Kommission in Polen, Foto: Petra Kammann

Mit viel Zustimmung zitierte er Marek Prawda, ehemals polnischer Botschafter und Leiter der Europäischen Kommission in Polen, der am ersten Tag den Begriff „Deutungsquellen“ als inspiratorische Vokabel für europäische Vielfalt geprägt hatte, eingeflochten in „wahre und schöne Geschichten“, die Europa brauche. Auch auf den Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant, berief sich Meynhardt, mit einem Appell zur Überwindung einer Entweder/Oder-Logik, jenseits derer neue Wege zu finden seien. Nicht ohne auch den Emotionen Raum zu geben, bei „gleicher Wertigkeit“ wie die rationalen Faktoren.

Verschiedene Ansichten zu Chancen einer europäischen Öffentlichkeit: die frühere Professorin der Universität Hamburg, Christine Landfried, und Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen, Foto: Petra Kammann

Gehört das als Grundbestandteil zur „bunten, wilden, starken Mischung“, die Moderator Georg Löwisch als für ihn besonders einprägsame Europa-Formel von MDR-Intendantin Karola Wille der Schlussrunde voranstellte? Wille – welche in ihrer gerade zu Ende gegangenen zwölfjährigen Amtszeit immer wieder intensiv mediale Grundsatzfragen hatte aufgreifen und untersuchen lassen – hatte in ihrer Eröffnungsrede allerdings auch dunkle Töne nicht ausgespart; und darin beispielsweise ausführlich den britischen Historiker Garton Ash angeführt, zusammengefasst im Urteil: Seit dem Mauerfall befänden sich die Kräfte der Ordnung und der Unordnung, der Kooperation und der Konfrontation, der Integration und der Desintegration überall auf dem Kontinent in einem fortwährenden Ringen.

Daran angeschlossen hatte sie den positiven Blick auf die Friedensmission der Europäischen Union gerichtet, auch auf die Anziehungskraft Europas „als weit ausstrahlender Raum der Aufklärung, mit der Trias von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit“ und seinen kulturellen Reichtümern – „und das unzähliger Konflikte, Kriege, Kolonialismus zum Trotz“. Auch Wille sieht Europa eng mit der Gemeinwohlidee verknüpft, betont die Pflicht, dieses „schützenswerte Gut“ zu verteidigen gegen die derzeit zu erlebenden „Verengungen des Denkens und des Handelns“. Ihre Schlussfolgerung: „Daher ist es unerlässlich, diesen Raum der Aufklärung, der auch die unveräußerlichen europäischen Grundwerte absteckt, unbedingt und systematisch als Diskursraum zu begreifen.“

Beendeten die Konferenz mit Handlungsmaximen eines neuen „Leipziger Impulses“: Karola Wille, im November aus dem Amt geschiedene MDR-Intendantin, und der Konferenz-Kooperationspartner Timo Meynhardt (Handelshochschule Leipzig), Foto: Petra Kammann

Wer die Tagung in Leipzig verfolgt hat – als deren Schlusspunkt Wille und Meynhardt einen nun vierten Leipziger Impuls als Leitlinie für gemeinwohlorientiertes Medienhandeln vorstellten -, der wird zum Resümee zählen: Dieser Diskursraum ist äußerst notwendig, doch ist er angesichts der Wucht der internationalen Verwerfungen und der Vielzahl der widerstrebenden Interessen auch nur äußerst schwer zu strukturieren oder gar zu beherrschen. Die Diskurslinien in einen konsistenten Zusammenhang (Wille: „identitätsstiftender Werte- und Erfahrungsraum“) zu bringen: offenkundig eine Aufgabe für einen modernen Sisyphos.

Einem starken Satz allerdings – gleich eingangs geprägt von Marek Prawda – werden sicher alle Teilnehmer unbedingt auch am Ende zugestimmt haben: „Freiheit ist nur gemeinsam zu erreichen oder gar nicht.“ Als er so ausgesprochen wurde, konnte sich niemand die fast unmittelbar folgende Hamas-Attacke auf Israel vorstellen. Stattdessen spielte die Pianistin Elena Bashkirova – eine so ungewöhnliche wie schöne Idee für eine Worte-Konferenz – Mozart, als poetisches Versprechen.

Ein musikalischer Ausklang der Konferenz durch die Pianistin Elena Bashkirova, Foto: Petra Kammann

Die Pianistin betreut zwei Kammermusik-Festivals, eines in Jerusalem und eines beim Jüdischen Museum in Berlin. Verheiratet ist sie mit Daniel Barenboim, der sich mit dem West-Östlichen-Diwan-Orchester für Aussöhnung und Verständigung zwischen Israelis und Arabern einsetzt. Allerdings, was hatte sie eingangs gesagt: Es gebe keine großen Hoffnungen für die nächsten Jahre. Gemünzt waren die Worte auf Russland. Wie unmittelbar sie zu übertragen waren und sind auf einen inzwischen tobenden weiteren mörderischen Kampf: Das war in den beiden äußerst anregenden Leipziger Kongresstagen nicht zu erahnen. Im Media-City-Auditorium schien bis zum Schluss die Sonne.

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