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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Gittersee“ von Charlotte Gneuß: Ein kontrovers diskutierter Roman

Herrlich geheim

von Simone Hamm

Der Roman „Gittersee“ spielt im Dresden der 1970er Jahre. Die 1992 geborene Autorin Charlotte Gneuß löste mit ihrem Debütroman eine große Debatte aus, ob und wie „Nachgeborene“ über die vergangene DDR-Geschichte schreiben können, dürfen, sollen…

Die Debütautorin Charlotte Gneuß, Foto: Alena Schmick

Die Mutter arbeitet in einer Großküche und träumt von einem Leben unter Künstlern in einer großen Stadt. Der Vater versucht den Skoda zu reparieren, ist sanft und dem Alkohol zugetan. Die Großmutter schwärmt von ihren Kriegsabenteuern als Flakhelferin und verachtet den Kommunismus und ihren verstorbenen Mann. Er war ein Deserteur. Die Erwachsenen fliehen: in Träume, in die Kneipe, in verklärte Erinnerungen. Es ist wahrlich keine Musterfamilie, in der Karin aufwächst. …

Die Sechzehnjährige kümmert sich rührend um die kleine Schwester, die erst zwei Jahre alt ist. Sie ist verliebt in Paul, hält sich an ihm fest, wenn sie hinter ihm auf seinem Moped, der Schwalbe, sitzt. Er fragt sie, ob sie ein Abenteuer erleben und mit ihm übers Wochenende in die Tschechoslowakei fahren wolle. Sie will, aber sie muss sich um ihre kleine Schwester kümmern. Sie wird Paul nicht wiedersehen. Mit diesem Moped hat er sich fortgemacht. Auch er flieht also. Weg aus Gittersee, einem Arbeiterstadtteil von Dresden, in den Westen, wo er Maler und Zeichner, Künstler sein will, statt in die Grube zu fahren.

Es ist 1976. Charlotte Gneuß ruft in ihrem Debütroman „Gittersee“ gekonnt die Atmosphäre jenes Jahres in der DDR auf. Ihre Eltern sind dort aufgewachsen, sie selbst hat in Dresden und Leipzig studiert.

Die Enge in Gittersee ist zu spüren, der Wunsch – vor allem der Mutter – auszubrechen. Charlotte Gneuß gelingt es, nah an ihren Personen zu bleiben und doch nicht zu nah. Nicht jedes Geheimnis wird aufgedeckt. Das wäre 1976 in der DDR auch gar nicht möglich gewesen. Klug verwebt sie Karins Geschichte mit der politischen Situation, niemals aufdringlich. Bleibt so manches Mal bei Andeutungen, lässt bewusst Leerstellen. Das kann sie.

Sie kann aber auch überdeutlich werden. Immer wieder taucht ein Motiv auf, ein Draht, der eine Rolle spielen wird. Das hätte sie nicht nötig gehabt.

Szenisch dicht, sprachlich knapp entwickelt sie ihre Geschichte. Es ist ein ganz eigener Rhythmus, der die Handlung vorantreibt.

Nachdem Paul nicht zurückgekommen ist, wird Karin von Wickwalz besucht. Der kommt vom Staatssicherheitsdienst. Er hat ein großes Ideal im Kopf und ist bereit, Menschen für diese Idee zu benutzen. Er liebt die Mondscheinsonate. Wickwalz nimmt sich Zeit, Karin anzuwerben, droht, sie könne wegen Beihilfe zur Republikflucht angeklagt werden, umwirbt sie, sie sei eine wichtige Beobachterin, bietet ihr lässig eine Zigarette an, gibt vor, sie ernst zu nehmen.

„Damals glaubte ich, dass er mich mochte. Wickwalz sprach ja mit mir wie mit einer ganzen Person. Er gab mir das Gefühl, ich würde immer etwas außerordentlich Kluges sagen. Und alles war herrlich geheim.“

Charlotte Gneuß zeigt, wie ein junges Mädchen von der Stasi angeworben wird, wie sie kleine, scheinbar unwichtige Wahrnehmungen preisgibt. Das geschieht wie nebenbei. Weit größeren Raum in Karins Leben nehmen die Trauer darüber ein, dass Paul sie verlassen hat, ihre Streitigkeiten mit Freundinnen, die Angst, dass sich ihre beste Freundin einer anderen zuwendet und schließlich, dass die Mutter die Familie verlässt, weil sie es in Gittersee einfach nicht mehr aushalten kann. Ihr Leben ist gründlich durcheinandergeraten.

Mit Karin hat Charlotte Gneuß eine wunderbare Hauptfigur erschaffen: sie ist frech, selbstbewusst, herausfordernd, klug. Ein Mann zwinkert ihr zu:

„Sie haben da was am Auge, rief ich ihm zu, so Zuckungen, würd ich behandeln lassen.“

Aber Karin ist auch verletzlich und bisweilen allein. Ihre Eltern, die Großmutter, die Klassenlehrerin, sie alle sind dazu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu erkennen, dass Karin überfordert ist.

Es ist also keine große Überraschung gewesen, dass es Charlotte Gneuß mit „Gittersee“ auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat.

Und damit beginnt der unangenehme Teil. Der Fischerverlag hatte dem Schriftsteller Ingo Schulze ein Vorabexemplar des Romans zugeschickt. Schulze schrieb eine Mängelliste. In den siebziger Jahren habe in der DDR keiner „lecker“ gesagt. In der dreckigen Elbe sei man nicht geschwommen.

Hat denn niemand gelesen, dass unterm Titel „Gittersee“ Roman stand? Niemand gelesen, dass Paul einen Schal strickt, der von den Händen auf die Knie fällt, auf die Füße, sich auf dem Boden ausbreitet, erst zum Stuhlbein, dann bis zur Schwelle, in den Flur hinein reicht, die Stufen zum ersten zweiten, dritten Stock bedeckt, bis zum Hauseingang fällt?

Charlotte Gneuß fühlt und schreibt sich in die Gedanken und Gefühlswelt einer Sechzehnjährigen ein. Da würden originale Redewendungen aus den siebziger Jahren vielleicht verstaubt und antiquiert wirken. Ihre Karin aber wirkt jung und frisch. Und dazu tragen auch moderne Sprachmittel bei.

Charlotte Gneuß geht es darum zu zeigen, wie eine junge Frau von der Stasi angeworben wird. Hunderte von Zuträgern für die Stasi waren minderjährig. Sie will nicht sentimental auf die DDR zurückblicken, sie übt harte Kritik am System. Es gibt eben nicht diesen einen Blick auf die DDR.

Die Vorwürfe, die Autorin habe sich etwas angeeignet, was sie nicht selbst erlebt hätte, standen im Raum, wurden aber einhellig von Literaturkritikern verworfen.

Schlimmer aber als diese Vorwürfe, die ja nur noch autofiktionales Schreiben möglich machen würden, schlimmer als Ingo Schulzes Fehlerliste ist der Umgang damit. Nachdem Charlotte Gneuß es auf die Longlist geschafft hat, wurde die Mängelliste an die Jury des Buchpreises durchgestochen. Wer immer das getan hat, hat der Autorin schaden wollen.

Ob das gelungen ist, vermag niemand zu sagen. Auf die Shortlist hat „Gittersee“ es nicht gebracht.

Übrigens: Auch in Uwe Tellkamps „Turm“ (Deutscher Buchpreis 2008) und Lutz Seilers „Kruso“ (Buchpreisträger 2014) wird die DDR nicht 1 zu 1 wiedergegeben. Es gibt geografische und historische Ungenauigkeiten. Das hat der Qualität der Romane nicht geschadet.

Charlotte Gneuß hat auf die Vorwürfe in einem FAZ -Interview klug geantwortet. Sachlich: Ihre Eltern hätten sehr wohl „lecker“ gesagt und seien nach langen Wanderungen in die schmutzige Elbe gesprungen. Ästhetisch: Es sei für sie kein Fehler, wenn da einer in den siebziger Jahren am Stadtrand von Dresden „Passt schon“ sagt, sondern der klare Verweis auf die Gegenwärtigkeit  ihres Stoffes.

Es ist wirklich an der Zeit, die Diskussion um „Rektorat statt Direktorenzimmer“ zu beenden. „Gittersee“ ist ein herausragendes Debut, ein Roman, der viele Leser und Leserinnen verdient hat.

 

Charlotte Gneuß
Gittersee.

239 Seiten.
S. Fischer. 22 €

 

Die Autorin Charlotte Gneuß

Charlotte Gneuß, 1992 in Ludwigsburg geboren, studierte Soziale Arbeit in Dresden, literarisches Schreiben in Leipzig und szenisches Schreiben in Berlin. Sie veröffentlicht in Literaturmagazinen, ist Gastautorin von »ZEIT Online«, war u. a. bei Textwerkstätten der Jürgen Ponto-Stiftung und der Kölner Schmiede geladen, ist Gewinnerin des Leonhard-Frank-Stipendiums für neue Dramatik und Herausgeberin der Anthologie »Glückwunsch«, die bei Hanser Berlin erschien. Immer wieder nähert sich Gneuß schreibend der DDR, der Realität und der Utopie, in der ihre Eltern aufwuchsen und die es heute nicht mehr gibt. Ihr Debütroman »Gittersee« wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2023 ausgezeichnet und steht auf der Longliste für den Deutschen Buchpreis 2023.

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