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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Ukrainian Voices: Olesya Khromeychuks Tagebuch der Trauer „Ein Verlust“

Die Geschichte eines gefallenen ukrainischen Soldaten…

„Wir haben das Glück, ein Grab zu haben, zu dem wir gehen können“

Eine Besprechung von Olha Mukha, die Christian Weise ins Deutsche übersetzt hat

Es schmerzt, das zu sagen, aber dieses Buch sollte lesen, wer Ukrainer von heute verstehen will, fast jeden Ukrainer, nein jeden. Was eine intime Familienerfahrung war, wurde nach dem Wendepunkt des 24. Februar 2022 zur Erfahrung der ganzen Nation. Dieses Buch beschreibt einen Verlust und den Umgang damit. Und, was noch schwieriger ist, wie man damit ehrlich umgehen kann. Es ist kein psychologischer Leitfaden, wie man sein Trauma überwinden oder heilen kann, sondern ein ehrliches und doch sehr professionelles Gespräch darüber, wie es ist, Teil der Geschichte zu werden, wenn die eigenen Angehörigen zu Helden der Nachrichten werden.

Cover der tagebuchähnlichen Aufzeichnung von Olesya Khromeychuk 

„Einer der Hauptgründe, warum ich nicht gerne über ‚das Geschehene‘ spreche, wie ich es manchmal immer noch nenne, sind die Reaktionen der Menschen auf meine Worte. Oder besser gesagt, weil sie das Gefühl haben, dass sie irgendwie reagieren müssen, aber nicht wissen, wie. Wir fühlen uns alle unbehaglich: ich, weil ich ein schwieriges Thema anspreche, und sie, weil sie darauf reagieren müssen.“ Keiner von uns möchte sich unbehaglich fühlen. Keiner von uns ist bereit für die Trauer. Wenn man mehrere Jahre in einem Kriegszustand gelebt hat, ist die Erwartung, dass bald etwas passieren wird, nur logisch. Aber jedes Mal trifft einen die Trauer unerwartet. „Mir wurde klar, wie unvorbereitet ich auf das war, was ich fast zwei Jahre lang unbewusst erwartet hatte“, sagt Olesya Khromeychuk, Historikerin, Direktorin des Ukrainischen Instituts London und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die an Öffentlichkeit gewöhnt ist, aber nicht an den Verlust geliebter Menschen.

Christian Weise fährt mehrfach jährlich in die Ukraine und beobachtet die dortige ukrainische Buchszene, Foto: Petra Kammann

Dieses Buch spricht offen, einfach und auf sehr lebendige Weise über alles, worüber man normalerweise nicht spricht: die (Nicht-)Realität und Unattraktivität des Todes, die Wahrhaftigkeit von Biografien und die Fiktion von Nachrufen, die Unangemessenheit von Zeremonien, Ängste, Ressentiments und Verwirrung angesichts des Verlusts.

„Wenn Sie zwei Geschwister haben und man Sie nach dem Tod eines von ihnen fragt, ob Sie Geschwister haben, was antworten Sie dann?“ Die Autorin geht alle Antworten durch und entscheidet sich für die neutralste: „Ich bin das jüngste von drei Kindern.“ Sie stellt sich all diese naiven Fragen, die jedem von uns, der einen Verlust erlebt hat, so vertraut sind: Wusste er, dass er stirbt? War er allein? Wie lange war er bei Bewusstsein? Hat er gelitten? Hätte er einer Totenmesse zugestimmt? Hätte er die Zeremonien begrüßt? Für wen tun wir das alles eigentlich? Wo können wir nach Linderung suchen? Wie soll ich es meinen Eltern sagen?

„Meine Mutter unterbrach mich und sagte: ‚Ich habe einen Anruf von einem Kommandeur erhalten. Unser Volodja wurde an der Front getötet.‘ Sie war so ruhig.Ich fühlte eine seltsame Erleichterung: Er war also doch nicht gefangen genommen worden!

Vielleicht versteht nur eine kleine Gruppe von Menschen diese Erleichterung über den Tod anstelle der Gefangenschaft. Kürzlich sprach ich mit meinen ukrainischen Freunden auf einer Party irgendwo in Europa. Sie wollten am nächsten Tag nach Hause zurückkehren. Einer der Männer sagte: Es gibt nicht mehr viel, wovor man sich fürchten muss, wirklich. Im Grunde sind es nur noch Atomkrieg, Besatzung und Gefangenschaft. Das verstehe ich jetzt, früher hätte ich das nicht verstanden. Genauso wie viele andere ehrliche Unannehmlichkeiten in dem Buch „Ein Verlust“.

Ein Verlust verändert das Leben der Menschen sofort, er drängt sich unerbittlich auf. Der Krieg hat sich unbemerkt in das Leben aller Ukrainer eingewoben, so wie Olesyas Einkaufsliste für die Hochzeitsvorbereitungen von militärischer Ausrüstung überschwemmt wurde: Schottenkaro-Tischservietten (3 Packungen à 20 Stück), Tischkonfetti (20 Packungen), hochentwickelter Blutgerinnungsschwamm (25 g x 2), Gastgeschenke für die Hochzeitsgäste, Brandwunden-Notverband (5 Packungen).

Krieg bedeutet, eine Party zu veranstalten, während der eine Bruder „2.000 Meilen entfernt in einem Kriegsgebiet war und der andere in der Reha, um seinen eigenen Krieg zu führen.“ Sie veranstalteten übrigens eine Party. „Es war ein schöner Tag“, und Volodja machte den einen oder anderen Witz über die Fotos, resümiert Olesia. Offenbar war es möglich, den Hochzeitsreden zuzuhören und gleichzeitig um die Liebsten an der Front besorgt zu sein. So kommt der Krieg ins Leben, auch wenn er Tausende von Kilometern entfernt stattfindet.

Die Menschen, die nichts mit Krieg zu tun haben, neigen dazu, zu denken: Jetzt, wo der Krieg begonnen hat, hört alles auf, keine Hochzeiten mehr, keine Restaurants, kein Spaziergang, kein Gang ins Büro, es ist ein anderer ontologischer Zustand. Erinnern Sie sich an die Delegation afrikanischer Politiker in Kiew, die enttäuscht war, dass niemand Angst zu haben schien, dass die Menschen auf der Straße spazieren gingen, sich verliebten, schwanger wurden, ihren morgendlichen Hafermilch-Cappuccino tranken – für sie sah am Ende des Tages alles gut aus. Aber all diese Zivilisten wissen, wohin sie im Falle eines Beschusses fliehen müssen. Sie sind daran gewöhnt. Und selbst wenn sie daran gewöhnt sind, sind sie nicht bereit, getötet zu werden oder ihre Liebsten zu verlieren. Heute liest sich dieses Buch anders als noch vor zwei Jahren.

Ich erinnere mich, dass Ostap Slyvynsky, ukrainischer Dichter und Übersetzer, in einem unserer ersten Dialoge über den Krieg, die wir eine Woche nach der Invasion starteten, sagte, dass man nicht auf den Krieg vorbereitet sein kann, wenn man nicht der Aggressor ist. Genauso wenig kann man auf Trauer vorbereitet sein, selbst wenn sie vorbereitet kommt. Es ist unmöglich, den Kontrast zwischen der existenziellen Erfahrung des Verlustes und dem „kafkaesken Schrecken der Bürokratie“ zu akzeptieren, wenn es um die alltägliche Verarbeitung oder gar rechtliche Registrierung dieses Verlustes geht. Obwohl ich immer noch den Verdacht habe, dass all diese Rituale – und das wird in der Beschreibung des Autors sehr deutlich – bewusst als Bewältigungsmechanismen erfunden wurden: Reiß dich zusammen (allein und mit anderen), hake Aufgaben von der To-do-Liste ab, und du wirst überleben, irgendwie, eines Tages.

Überzeugend ist an diesem Buch die Kombination aus Professionalität und Ehrlichkeit. Als professionelle Historikerin dekonstruiert Olesya Khromeychuk akribisch den Mythos ihres Bruders und vermenschlicht ihn. Ihr professionelles Handwerkszeug der Rekonstruktion des Ablaufs der Ereignisse und der Entheroisierung der Hauptfigur ist hier geschliffen bis zur Perfektion. Sie schaut die gespeicherten Inhalte seines Telefons (nicht ohne Zweifel) durch und geht die Frage nach der Motivation unverblümt offen an. Sie betrachtet die Gültigkeit von Nachrufen im Hinblick auf die Realität der Fakten und erkennt ihren Bruder in der erzählten Geschichte nicht wieder. Es ist eine Frage des Genres: „etwas für das Leben, etwas für den Tod, aber nicht für den Nachruf.“ Die Realität kommt nicht durch. Es scheint gängige Praxis zu sein, Dinge zu erfinden, denn der Verlust eines Soldaten sollte als Sieg dargestellt werden, die Familie und die Freunde sollten eine Art moralische Entschädigung erhalten, etwas, auf das sie stolz sein können. Und andere Soldaten sollen motiviert werden, „in Würde zu sterben“.

„Suka! Bljat!“ („Hurensohn! Fuck!“) waren die letzten Worte, die der Freund von Olesyas Bruder am Telefon hörte, bevor das Gespräch abbrach, weil die Verbindung unterbrochen wurde. Das sind keine romantischen oder siegreichen Worte, sie werden nicht in Nachrufen zitiert oder in Reden bei Zeremonien erwähnt, aber ich vermute, dass es die Worte sind, die man auf dem Schlachtfeld am häufigsten hört. Und dann stellt Olesya eine sehr genaue Frage, die mich als jemand, der mit Erinnerungen und Archivmaterial arbeitet, berührt: Wenn all dies, diese Nachrufe und Social-Media-Posts, diese unschuldigen journalistischen Tricks, so weit von echten Menschen entfernt sind, „welche Art von Erinnerung an sie schaffen wir dann mit unseren kleinen Notlügen?“

Sie antwortet selbst:

Maidan-Proteste (ein Ordner).

Vollmacht (ein Ordner).

Kriegsopfer (ein Ordner).

Familienmitglieder von Kriegsopfern (ein Ordner)

Kriegsveteranen (einundzwanzig Ordner).

Die Wahrheit verbirgt sich in den Statistiken von Akten und Ordnern und in der Unhöflichkeit sowjetähnlicher Angestellten in den Passämtern, deren Haltung nur durch Ihren eigenen scharfen Widerspruch gemildert werden kann. Der Pass kommt ins Archiv, eine Medaille ersetzt das Leben, und wenn die Familie Glück hat, kann sie eine winzige Wohnung bekommen. Keine Zeit für Emotionen, nächster Kunde!

Nachdem sie die ganze Odyssee beschrieben hat, äußert Olesya, dass sie es vorgezogen hätte, keine solchen Geschichten zu erzählen oder ein Buch zu veröffentlichen. Sie würde einfach nur gern einen Bruder haben. Denken Sie, wann immer Sie die „ukrainischen Nachrichten“ satt haben: sie wollen nur, dass ihr Bruder lebt.

„‚Das ist ein europäischer Krieg, der gerade im Osten der Ukraine begonnen hat‘, sagte mir mein Bruder und begründete damit seine Entscheidung, 2017 an die Front zurückzukehren. Kurz darauf starb er an der Frontlinie.“

Olesya Khromeychuk
Ein Verlust:
Die Geschichte eines gefallenen ukrainischen Soldaten, erzählt von seiner Schwester.
Übersetzt aus dem Englischen von Lily Sophie.
ibidem, Stuttgart 2022.

 

Dr. Olesya Khromeychuk, Historikerin, nach Promotion und Lehrtätigkeit an Universitäten in Cambridge und London Direktorin des Ukrainian Institutes London (1979 gegründet, affiliert mit der Ukrainian Catholic University, Lviv)

https://www.olesyakhromeychuk.com/

 

 

Englischsprachige Ausgaben:

A Loss. The Death of a Soldier Told by his Sister. ibidem, Stuttgart 2021.

The Death of a Soldier Told by his Sister. Monoray, Octopus Publishing Group, Februar 2022.

Deutsche Ausgabe: Ein Verlust: Die Geschichte eines gefallenen ukrainischen Soldaten, erzählt von seiner Schwester. Übersetzt aus dem Englischen von Lily Sophie. ibidem, Stuttgart 2022.

Ukrainische Ausgabe: Смерть солдата. Історія, розказана його сестрою. Vihola, Kyïv 2023.

Niederländische Ausgabe: De dood van een soldaat verteld door zijn zus. Übersetzt von Esther Ottens und Wybrand Scheffer. Atlas Contact, 2023.

Engl. Originalversion der Rezension Olha Mukhas: https://chytomo.com/en/we-are-lucky-to-have-a-grave-we-have-a-place-to-visit/

Übersetzer: Christian Weise

Olha Mukha

Dr. Olha Mukha, Kulturwissenschaftlerin, Herausgeberin usw., Mitarbeiterin von PEN International, London, Organisation der Internationalen PEN-Treffen seit Lviv 2017

https://pen.org.ua/en/members/muha-olga

 

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