Die Ausstellung des Fotografen Carlos PÉREZ SIQUIER zum Ehrengastprogramm Spaniens der diesjährigen Frankfurter Buchmesse
Almería als Quelle der Inspiration
Von Petra Kammann
Kein Velázquez, kein Goya, kein Miró oder Tàpies diesmal zur Spanien-Buchmesse, sondern „PÉREZ SIQUIER“. Der spanische Fotograf Carlos Pérez Siquier (1930-2021), ein spannender Repräsentant der fotografischen Moderne, hat ein beeindruckendes künstlerisches Werk hinterlassen. In der spanischen Fotografie nahm er zunächst wegen seiner neorealistischen Arbeiten und später als Pionier der Farbfotografie eine herausragende Stellung ein. Die teils realistischen, teils surrealen Fotografien des spanischen Fotografen aus Almería, der lichtdurchfluteten Stadt im Südosten Andalusiens, hat Carlos Pérez Siquier Zeit seines Lebens nie verlassen. Die dort entstandenen Bilder sind Teil der Geschichte. Rund 130 seiner Fotografien sind im Fotografie Forum Frankfurt (FFF) zu entdecken, allesamt voller Anteilnahme, Humor, Poesie und Kritik aus den verschiedenen Entwicklungsphasen seines rund 60-jährigen fotografischen Schaffens. Ein Jahr nach seinem Tod kamen nun seine Töchter Sonia und Gloria Pérez Siquier wie auch der Kurator Carlos Martín zur Vernissage. Eine Retrospektive, die man sich nicht entgehen lassen sollte!
Gloria Pérez Siquier, eine der beiden Töchter des Fotografen, die zur Vernissage kamen, Foto: Petra Kammann
Sonia Pérez Siquier, die andere Tochter des Fotografen, Foto: Petra Kammann
Das Selbstporträt des andalusischen Fotografen gleich am Eingang zur Ausstellung spricht Bände. Die Mehrfachbelichtung legt seine verschiedenen Blickrichtungen frei. Keine seiner fotografierten Szenen sind eindeutig und platt, auch wenn sie voller Natürlichkeit und Spontaneität aufgenommen sind, vor allem die berührenden Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Armenviertel in Ameiría, in einer der sonnenreichsten und wüstenreichen Regionen im Südosten Spaniens, die in der Geschichte immer auch ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen war, wo man ebenso auf die Spuren der Mauren stößt, die diese Gegend früh besiedelt hatten, wie auf die Spuren des Widerstands während der Zeit des Franco-Regimes.
Carlos Pérez Siquier, Autorretrato, Almería, 1958, 35 x 35 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Der vor dem Franco-Regie geflohene und seit 1956 in Paris lebende spanische Schriftsteller Juan Goytisolo beschrieb in seinem Buch „La Chanca“ eindrucksvoll die Lebensbedingungen der dortigen Migranten und Einwanderer und fügte seinen Beobachtungen im Essayband nicht von ungefähr die Fotografien von Pérez Siquier hinzu, auch wenn so kein üblicher Fotoband entstanden ist. Schauplatz seiner Erzählung wie die der Pérez Siquier-Fotos war das von Armut geprägte Arbeiter- und Zigeunerviertel, das der eigenwillige Fotograf so eindrücklich mit seiner Kamera festgehalten hat. Neben den sozialen Eindrücken war auch er von dem unglaublichen Licht der Gegend fasziniert. In dem Viertel nehmen die würfelförmigen Häuser und die in den Fels gehauenen Höhlen Kontur an.
Kurator Carlos Martín vor den Schwarz-Weiß-Fotos der 50er Jahre, Foto: Petra Kammann
Das Viertel selbst hat eine bewegende Geschichte, geprägt von Unterentwicklung, Bombardierung und Hunger. Doch suchte der Fotograf nach einem fotografischen Ansatz, wie er den Menschen und ihrem vom schieren Überleben geprägten Alltag ihre Würde wiedergeben kann. Seine spontan festgehaltenen Straßenszenen, die voller Leben sind, zeigen die Menschen in ihrer unerschütterlichen Natürlichkeit. Besonders anrührend die Bilder der im Elend spielenden Kinder mit ihren warmherzigen wachen und fragenden Blicken oder die Mutter, die auf offener Straße ihr Kind stillt und die Finger kreuzt, und ihm damit eher Abwehr bedeutet. So ist das Leben in aller Gegensätzlichkeit. Und ihm hat der Fotograf mit den Schwarz-Weiß-Fotografien ein Denkmal gesetzt.
Mitte der 50er Jahre aber brach Carlos Pérez Siquier dann radikal mit den üblichen künstlerischen Konzepten der Schwarz-Weiß-Fotografie und wurde von Almeiría aus zur treibenden Kraft des einflussreichsten Fotokollektivs seiner Zeit, der Gruppe AFAL (Agrupación Fotográfica Almeriense), und er bekam so auch Anschluss an die überregionale Fotoszene. Und er war auf dem Laufenden, was international in der Bildenden Kunst passierte, so dass er zwar immer regional arbeitete, aber auch stets im Bewusstsein dessen, dass anderswo noch Weiterführendes passiert.
Carlos Pérez Siquier, La Chanca, Almería, 1958, 24 x 34 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
In den 1960er Jahren entschied sich Pérez Siquier dann für die Farbe in der Fotografie, um die kulturellen Veränderungen im post-francistischen Spanien hin zu einer Konsumgesellschaft visuell-sinnlich einzufangen. Hatte er bislang mit einer 35mmm-Kleinbildkamera (Contax) fotografiert, so ging er nun – als künstlerischer Fotograf zu dieser Zeit eher unüblich – dazu über, mit einer 6 x 6 mm Rolleiflex in Farbe zu arbeiten, weil er die Farbigkeit des Viertels festhalten wollte. Die Bewohner von Barrio strichen nämlich alljährlich ihre kubischen Häuser mit Anilinfarbe an. Diese Farben auf der Hauswand wiederzugeben, führte auch zu weiteren fast gemäldeartigen Fotografien, die hier als „Informals“ bezeichnet werden, vielleicht weil sie eine Entsprechung zu Tapiès-Bildern sind? Die quadratischen Fotos wirken wie wohlkomponierte Gemälde. Es sind abstrakte Farbkompositionen, welche die Strukturen der abblätternden Mauern der Häuser und Höhlen nachzeichnen, einen morbiden Charme verströmen und dazu auch noch das Vergehen der Zeit dokumentieren. Dabei wird nebenbei die Wand als Kommunikationsraum eines vom Abriss bedrohten Viertels dokumentiert.
Und dann schwappte Anfang der 70er bis hin zu den 80er Jahren gewissermaßen eine Welle des Massentourismus über die Strände von Almería. Die zwar kaputte, aber dennoch heilere Welt des Miteinander der früheren ausdrucksvollen Schwarz-weiß-Szenen, die an Pasolini-Filme erinnern, war damit für immer verschwunden. Der Strand bekam eine neue Bedeutung. Jetzt hieß es vor allem, man habe sich an den Strand zu legen und und nur zu bräunen, wie auch immer der Körper geformt ist, diesen zur Schau zu stellen, meist halbnackt. Der neugierige Fotograf hielt diese in anderer Hinsicht aus den Fugen geratene Welt ausschnitthaft in Details fest.
Celina Lunsford, Künstlerische Leiterin des FFF und Pressechefin Sabine Königs vor den Fotos der Strand-Serie, Foto: Petra Kammann
Er zeigte – was damals fast einer Revolution gleichkam -, die ersten Bildnisse von Körpern, die in Bikinis stecken und ihre nackte Haut und Speckröllchen, die sich dem Publikum in aller Unvollkommenheit entgegenstrecken. Welche Figur man auch immer hatte, die Fleichmassen wurden in Badeanzüge gezwängt. So nehmen Falten, Stoffe und die braune oder auch weiße Haut den größten Bildraum einer Aufnahme ein. Der Tourismus hatte nun mal die strukturschwache Gegend im Abseits zwangsläufig verändert.
Bei seinem Flanieren mit der Kamera am Strand entdeckt er immer auch komische Elemente. Ein heruntergerutschtes Bändel vom Badeanzug wirkt auf dem Rücken wie der Schwanz einer Maus. Belustigt erzählen Pérez Siquieras Töchter, wie blitzschnell ihr Vater – immer alles im Blick – am Strand fotografierte, in den Sucherschacht seiner neuen Hasselblad-Kamera schaute und die Bilder aus der Hüfte schoss, so dass man ihn ohnehin, weil er blond war, für einen amerikanischen Touristen hielt und ihm so nichts anhaben konnte. Seine damals entstandenen ungeschminkten Fotos beeinflussten sicher auch den Fotografen Martin Parr, für den die Strandfotos zweifellos ein Vorbild für seine eigenen Fotografien waren.
Dass es sich um ihre Mutter im Badeanzug handelt, erfuhr Tochter Gloria erst später, Foto: Petra Kammann
Pérez Siquiera war immer auf der Suche nach einem Weg, sich neu zu erfinden und zu experimentieren, da er wusste, dass er in seinem Reservoir fotografischer Erfahrung immer wieder eine neue Magie finden würde, die er für seine Arbeit brauchte. Nie hat er zum Beispiel einen Blitz oder ein Stativ verwendet. Er sah hin und machte das Bild. So treten an die Stelle des Menschen bei ihm Anfang der 80er Jahre dann Absurditäten, komische Dinge, häufig aus Plastik, Elemente zwischen Pop Art und Jahrmarktskitsch, Vulgärkultur oder plumpen Werbemotiven. Der Fotograf nannte diese Serie „Fallen für die Unachtsamen“ in Anspielung auf die visuelle Irreführung des Zuschauers, der sich fragt: Was ist noch wirklich? Oder ist das alles nur Lug oder Trug?
In den werbegeprägten Motiven, den „Fallen für die Unachtsamen“ herrsche eher Leere, erläutert Kurator Carlos Martín, Foto: Petra Kammann
Diesen Kitsch und die grellen Elemente des Alltags hat Pérez Siquier ebenfalls einfallsreich ins Bild gesetzt. Unverkennbar merkt man hier die Einflüsse der Popart eines Tom Wesselmann oder Andy Warhol. Sie spiegeln in ihren absurden Paradoxien die Widersprüche der Wohlstandsgesellschaft. In den letzten Jahren dann hat sich der Blick des vielseitigen Fotografen wieder differenzierter auf Atmosphärisches gerichtet. Zwischen 2015 und 2017 entstand dann in seinem Wochenendhaus wenige Kilometer von Almeiría entfernt die Serie „La Briseña“. Dort hatte der Fotograf ein altes, auf dem Anwesen der Grafen von Almansa stehenden Schäferhaus erworben.
Das Haus ist als La Briseña bekannt, „Die Meeresbrise wehte bis an die Tür meines Hauses – daher der Name –, das laut Grundbuch zum Dorf Benahadux gehört. El Ruiní, wo es sich tatsächlich befindet, war der Treffpunkt der wichtigsten Sufis der damaligen Zeit, die dort über die menschliche Natur des Diesseits und die göttliche Natur des Jenseits philosophierten. Es war also unvermeidlich, dass ich später in gewisser Weise vom Sufismus beeinflusst war, oder zumindest von seiner Tradition. Ich habe nicht nur über die Vergänglichkeit des Lebens nachgedacht, sondern auch meine Freizeit damit verbracht, das Haus instand zu halten: Seine Mauern zu restaurieren und den Lauf der Zeit an den Gegenständen in seinem Inneren zu beobachten, während das Licht rundherum kabbalistische Zeichen auf die weiß getünchten Wände malte und bisweilen außergewöhnliche Visionen hervorbrachte, die ich mit meiner kleinen Kamera für die Ewigkeit festzuhalten versuchte.„ […]
„Und in dieser friedvollen Welt erinnere ich mich manchmal an den weisen Gedanken eines Dichters aus Al-Andalus: ,Die Basilikumpflanze in meinem Haus ist für mich kostbarer als das Paradies selbst.‘ So schreibt der Fotograf geradezu philosophisch über dieses Haus, für ihn und seine Frau ein Hort der Glückseligkeit. Das spätere Werk von Pérez Siquier hat daher auch einen intimeren Ausdruck bekommen. Farbe und Licht vibrieren in seinen letzten Fotos in feinsten Abstufungen bis hin zu gedämpften Tönen, die er durch eine stete Verfeinerung von Erfahrung im Lauf seiner fotografischen Arbeit erreicht hat. Seine Werke aus einem mehr als sechs Jahrzehnte währenden Schaffens spiegeln eben, wie es der Kurator zusammenfasst, den Wandel eines ganzen Landes, betrachtet aus der Randlage Almerías, wo Pérez Siquier sein gesamtes Leben verbrachte und erst mit knapp 60 ganz frei arbeiten konnte. Bis dahin war er noch in einer Bank beschäftigt, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Und er hat trotz kritischer Betrachtung das dortige Leben in seinen Fotos, die heute in der Sammlung Reina Sofia vertreten sind, nicht denunziert, sondern immer mit feiner Ironie festgehalten und kommentiert.
v.l.n.r.: Kurator Carlos Martín, Gloria und Sonia Pérez Siquier, María Martinez Cid, Direktorin Ausstellungsprogramm, Fundación MAPFRE, Sabine Seitz, GF Fotografie Forum, Isabel Izquierdo, Programmdirektorin Ehrengastland Spanien; Foto: Petra Kammann
Die Ausstellung geht bis zum 15. Januar 2023. Dazu ist eine in Leinen gebundene Monografie mit Abbildungen auf Englisch erhältlich. Man erfährt, wie der Fotograf, der zeit seines Lebens in seiner Geburtsstadt Almería blieb, dennoch zu einem der einflussreichsten Kreativen in der spanischen Fotografie wurde
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