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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Frankfurt, seine Altstadt und die Vielfalt des Sprechens über Architektur

Vier Publikationen, die eine gründliche vergleichende Lektüre lohnen

Von Uwe Kammann

Ist schon alles über die neue Frankfurter Altstadt gesagt oder geschrieben worden? Jetzt, nachdem schon über ein Jahr vergangen ist, seit stadtobere Hände das bunte Band auf dem Krönungsweg zerschnitten haben. Und seither in gewichtigen Bänden hin- und hergewendet wurde, was das in dieser Form in Deutschland einmalige Vorhaben kennzeichnet. Begleitet auch von einer sehr detailreichen, viele Schichten untersuchenden Ausstellung („Die immer neue Altstadt“) im Deutschen Architekturmuseum.

Die Vinothek: Ein Geselliger Treffpunkt am Markt, Foto: Petra Kammann

Doch, natürlich, es gibt immer noch neue Veröffentlichungen, die mit anderen Perspektiven aufwarten. Die vielleicht ungewöhnlichste, weil persönlichste, hat jetzt Freddy Langer vorgelegt, in einem auf den ersten Blick eher schmalen Band des Insel-Verlags unter dem schlichten Titel „Frankfurts neue Altstadt“. Ob es so geschrieben sein soll, mit dem kleinen „n“ bei neu? Das bleibt ein Geheimnis, weil der Schriftzug in antikisierenden Großbuchstaben zum Lesen und Schauen einladen soll. Und das ist wirklich gleichberechtigt gemeint, weil Freddy Langer – der den Reiseteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung leitet und zugleich in vielen Artikeln sich mit Fotografie beschäftigt – in seinem Buch seine Texte mit vielen eigenen Fotos verbindet, um uns seine Blicke auf die vielen Aspekte des neuen kleinen Stadtquartiers zwischen Dom und Römer nahezubringen. Es sind keine spektakulären Bilder, keine, die verblüffen wollen, um einen Wow-Effekt hervorzurufen. Sondern es sind solche eines Spaziergängers, eines sehr neugierigen allerdings, eines Flaneurs, der entdeckt, immer wieder neu, und dies mit dem schon Vertrauten verbindet.

Besonders sympathisch: Freddy Langer, der ein richtiger Frankfurter ist, von der Geburt bis zum Arbeitsplatz (und darüber hinaus ein Weltreisender der Extraklasse), er teilt sein geradezu kindliches Staunen mit, seine Verblüffung, seine fragende Bewunderung, seit die Bauhandwerker mit der Arbeit begonnen haben. Das unglaubliche Ballett der Kräne auf dem eigentlich klitzekleinen Grund, das produktive Gewusel im von außen betrachtet chaotischen Hin und Her, das langsame Entstehen der Konturen und all’ der handwerklichen (ja, der mit der Hand gemachten) Finessen, die so ganz anders sind als die auf Abstraktion, Linien- und Flächenreinheit setzende Generalarchitektur der Nachkriegsmoderne: All das umkreist und durchmisst der Autor.

Es wird ihm vertrauter, und dann, als die ersten Ladeninhaber, Gastronomen und Bewohner einziehen, macht er sich mit ihnen vertraut, lernt sie kennen, nach und nach. Und mit ihnen ihre Geschichten, ihre Besonderheiten, ihre Realträume. Dabei wird aber der Hintergrund des Großen und Ganzen nicht ausgeblendet, sondern als im besten Sinne nachsinnende und erzählte Geschichte eingeflochten in den erlebten neuen Alltag. Ein Kleinod für sich bei diesem sehr kenntnisreichen Nacherzählen der Baugeschichte dieses Klein-Quartiers (die ja auch auf einem politischen Slalomlauf beruht): der Besuch des Altstadt-Modells der Brüder Treuner, von Langer in den Rang der Mona Lisa des neuen Historischen Museums gesetzt. „Wer es gesehen hat“, so folgert er, „begreift die Liebe der Frankfurter zu ihrem alten Stadtkern, der ursprünglichen Stadt“.

Das neue Historische Museum von Arno Lederer, Foto: Petra Kammann

Und er, der umherschweift, begreift in immer wieder neuen Facetten und Begegnungen, wie sich diese Liebe gründen lässt. Etwa, wenn er sich beim Barbier Dennis Alt verwöhnen lässt, bei der Töpferei Bauer das Vergangene und Auferstandene als Tonmodell sieht, dazwischen das Suchspiel mit Zierrat und Spolien betreibt, an der Goldenen Waage die neualte Pracht und Herrlichkeit wiederfindet, den Hühnermarkt als Wimmelbild erlebt, beim Juwelier Friedrich für sich ein Schatzkästlein öffnet, um gleich nebenan bei  Hendrik Korkuter einen glücklichen Gastronomen zu erleben, der seine Tagesbar Anno 1881 zu einem Klassiker machen will. Ganz nebenbei lässt sich so die Geschichte des Frankfurter Würstchens und die Metzgertradition in der Altstadt erzählen, die ja noch im Namen der Kunsthalle Schirn aufscheint.

Auch die Ursprünge der Stadt lässt sich im kleinen Geviert bestens erzählen, weil ja das neue Stadthaus mit seinem goldschimmernden eingehängten Saal alte Mauern und moderne Präsentationstechnik vereint, um ein Bild des karolingischen Frankfurt zu vermitteln. Auch dieses Kapitel schildert der nun mittelalte (Jahrgang 1957) Altneufrankfurter in einer schön rhythmisierten Sprache, anschaulich, lebendig, immer einladend, ihn auf den weiteren Stationen zu begleiten.

Nach der Lektüre des Buchs weiß und sieht man sehr viel mehr. Damit dürfte es Pflicht für jeden Frankfurt-Bewohner und -Besucher werden. Am besten auch für Frankfurt-Krankbeter. Und für jene ganz spezielle Gruppe, denen speziell dieses neue kleine Quartier mit seiner Mischung aus Rekonstruktionen und „Nachempfindungen“ ein Dorn im Auge ist, ein dreister Angriff auf die edlen Reinheitsformen der klassischen Moderne seit den 30er Jahren. Bei den intellektuell Faulsten lautet die Verachtungsformel eh und je, ganz unabhängig vom Objekt, Disneyland. Bei den Spitzenverfechtern einer vollkommen politisch grundierten Architekturkritik richtet sich jetzt ein ultimativ zugespitzte Lanze auf die Bauherren und Liebhaber einer weiter zurückreichenden Formensprache des Bauens. Danach ist die neue Frankfurter Altstadt ein Musterbeispiel für die Architektur der neuen alten Rechten, ist sie ein steingewordener rechter Raum.

Mit der Formulierung und Zuspitzung dieser Grundthese hat der Stuttgarter Architekturtheoretiker Stephan Trüby eine steile Begriffskarriere gemacht, wurde er vielzitierter Spitzen-Kritiker, den auch die „Tagesthemen“ sofort interviewten, als die neue Altstadt mit einem Fest eröffnet wurde. Denn gleichsam stellvertretend begründete er mit wissenschaftlich imprägnierter Beglaubigung, was erkennbar viele Redakteure und Feuilletonisten als innere Rahmenregelung immer noch unter den Vorzeichen von Funktionalismus, Moderne und Fortschitt pflegen: eben die Degradierung des Projekts als Disneyland.

Trüby wurde nicht müde, seine These von einer moralisch verwerflichen Architektur zu verbreiten, die nach seinem Urteil das Ziel verfolgt, Deutschland von seiner historischen Schuld reinzuwaschen, indem Risse, Brüche und Geschichtsschuld in jeglicher Form getilgt werden sollen, zugunsten eines ‚heilen’ Stadtbilds, das eigentlich nur eine Heimeligkeit vortäusche, die es tatsächlich nicht geben könne.

Es ist, gerade wenn man die Nachkriegsgeschichte Frankfurts kennt, eine Wiederholung der Wunden-Ästhetik, wie sie beispielsweise vehement der Publizist Walter Dirks verfocht, als er sich strikt gegen einen Wiederaufbau des Goethe-Hauses wandte. Die Leerstelle sollte – ebenso wie an anderer Stelle die Ruinen der Frauenkirche – auf ewig an Barbarei und Schuld erinnern.

Nach dem fulminanten Aufmerksamkeit-Erfolg mit seiner Altstadt-Verdammnis hat Trüby seinen Blick und seine Sichtweise weiter systematisiert. Und im Sommer bei ARCH+, einer gewichtigen Zeitschrift für Architektur und Urbanismus, eine ganze Ausgabe redaktionell betreut, deren Titel schon das Programm angibt: „Rechte Räume. Bericht einer Europareise.“

Diese Reise fördert folgerichtig das zutage, was Trüby und seine reportierenden Mitstreiter schon wissen, bevor sie eigentlich losfahren: dass unter dem Oberbegriff der Baukultur vielerorts Geschichtsrevisionisten unterwegs sind, welche diese falsche Rückwärtsgwandtheit „mittels einer historisierenden und rekonstruktiven Architektur propagieren“ wollen. Deshalb wird, in der vermeintlich geschichts-angemessenen Gegenbewegung von ARCH+, ein Reisebogen geschlagen, der –  mit Stationen wie Berlin, Dresden, Kyffhäuser, München, Braunau am Inn, Mailand, Predappio und Rom – einem gebauten Faschismus nachspürt, um dann in vielen Ländern Europas die Frage nach struktureller/faktischer Macht mit Architekturbildern zu verbinden, wobei die politisch-gesellschaftlichen Beschreibungsmodelle weit überwiegen und eine stereotypische Erklärfolie bilden. Trüby selbst springt auch nach den USA, wo er, unter anderem, die Talmi-Applikationen des Donald Trump mit der Historie rechtsradikaler Strömungen zusammenschließt.

Ganze acht Seiten widmet er einer mit zahlreichen Fußnoten gespickten Wiederauflage, Ausweitung und Bestärkung seiner Altstadt-Kritik, bei der nicht zuletzt renommierte Journalisten ihr Fett abbekommen: als intellektuelle Dünnbrettbohrer und „Altstadt-Versteher“, wo doch tatsächlich die Altstadt nichts anderes sei als „Opium fürs Volk“. Die Drogenhändler sieht Trüby überall am Werk, korrumpiert, faktenresistent und in der Summe liebedienerische Mittäter („Softcore-Revisionismus“). Hieraus wird ein Leitmotiv des Heftes abgeleitet: Überall Spuren des Faschismus zu sehen, in unterschiedlichen Erscheinungsformen, von Franco- und Mussolini-Pilgerstätten bis zum Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden.

Wo immer die ARCH+-Autoren hinschauen, entdecken sie Verdrängung, sehen sie eine verfälschende „urbane Vergangenheitsbewältigung“ (Dresden), wird das „Moment der Retrospektive“ als „stadträumliche Herstellung anachronistischer Gesellschaftsordnungen“ interpretiert, wird historisierendes Bauen als reine Strategie der kapitalistisch getriebener Wertsteigerung verstanden, ist Kolonialismus im Spiel, führt ein diagnostizierter grenzüberschreitender Nationalismus zur Zerstörung von gemeinwohlorientierten Infrastrukturräumen. Auslöschung wird so zu einer Schlüsselvokabel. Alles, was sich am Weg oder über die Präsentation historischer Bilder ganz verschiedener Quellen, auch über pointierte Fotos aus dem Alltag einsammeln lässt, wird in diesem Sonderheft zum Beleg der Hauptthese, dass die Rechten, die Rechte – diese Pauschalierung gehört zu diagnostizierten (braunen) Linie – in zunehmendem Maße die Diskurse und eben auch die gebaute Gegenwart bestimmen.

Ein Kontinent auf totalem Rechtsdrift, das ist der ARCH+-Befund. Eine Auseinandersetzung, die beispielsweise in einer Analyse zu ergründen suchte, worin für viele Menschen die Attraktion früherer Architektursprachen besteht (warum also ein Welterfahrener und Weltliebhaber wie Freddy Langer ein solches Augen- und Lebensvergnügen in der neuen Frankfurter Altstadt empfindet), sie fehlt auch auf den zweiten und dritten Blick. ARCH+ (das sich als Zeitschrift schon immer als ausgesprochen sozialkritisch verstanden hat) und ihr Editions-Mentor Stephan Trüby haben damit nichts im Sinn, sie exekutieren vielmehr ihre These, what ever it takes.

Ob damit Augen geöffnet werden? Ob sich Menschen in Mengen zur Umkehr entschließen? In einem Deutschlandfunk-Interview hatte Trüby einmal diese für ihn feststehende Mehrheits-Blindheit benannt: „In breiten Bevölkerungsgruppen gibt es einen Konsens – einen falschen Konsens – darüber, dass Architektur und Altstädte unpolitisch sind, dass es hier nur um Schönheit gehen würde. Ich behaupte, dass hinter der Rhetorik einer angeblichen Schönheit, einer angeblichen Tradition einer angeblichen europäischen Stadt durchaus auch eine rechtsradikale Kultur- und Architekturpolitik stehen kann, die wir nicht unterschätzen sollten“.

Dreimal: angeblich. In seine eigene Richtung fragt Trüby nicht kritisch zurück, ob darin vielleicht auch „Angebliches“ steckt. Aber das ist sicher auch ein weiteres Fortwirken jener lange vorherrschenden Richtung der funktionalismusgeprägten Moderne in Architektur und Städtebau, die sich radikal gegen jegliche Form von Tradition und frühere Auffassungen wandte, von einem Bauziel wie Schönheit nichts wissen wollte.

Arno Lederer, der Architekt des in seinen äußeren Grundzügen nun historisierenden neuen Frankfurter Historischen Museums – das in den 70er Jahren in eine scharfkantige Trutzburg des Beton-Brutalismus einziehen musste –, benennt diesen Tatbestand der lange vorherrschenden Geschichtsfremdheit in einem sehr lesenswerten Gespräch, das zu einer Reihe gehört, welche die Architekturfakultät der Technischen Universität München organisiert hatte. Diese Gespräche – in denen, aus der Gegenwart betrachtet, die Relevanz von Themen, Positionen und Konzepten vorangegangener Generationen von Architekten und die Bezüge zu eben unserer Gegenwart erörtert wurden –, diese Gespräche also hat gerade der in einem sehr lesenswerten Band zusammengefasst.

Der Begriff der Schönheit, so Lederer gleich am Anfang eines Gesprächs, sei ihm und seinen Mitstudenten im Studium in Stuttgart und Wien „ausgetrieben“ worden. Es sei eine Zeit (der späten 60er bis in die 70er Jahre) der „großen Leere“ gewesen, nach der vorher vorherrschenden Schule der Nachkriegsmoderne. Nach dem Interregnum sei die Konstruktionsästhetik („alles horizontal und aus Beton“) dominant gewesen, bis dann die 68er Generation gleich alles in Frage gestellt habe: „Das hatte natürlich eine große politische Komponente, vor allem in Deutschland aufgrund des Dritten Reiches“ (hier, so steht zu vermuten, wird die Hauptwurzel der beschriebenen Trüby-Ideologie sichtbar).

Auch Hans Kollhoff (in Frankfurt prominent präsent mit dem achteckigen Mainplaza-Hochhaus am Deutschherrnufer und der Goldenen Schere in der Altstadt) ist in der Münchner Dialog-Reihe vertreten. Gerade ihm schreibt ARCH+ eine bedeutende Negativ-Rolle zu. Nach diesem Urteil ist er Teilhaber eines Architektur-Narrativs, zu dessen Erscheinungsformen gehöre, dass „in erster Linie Rekonstruktionsarchitektur“ einen „Anschluss für rechtes und nationalistisches Gedankengut“ biete, leicht zu vereinnahmen für eine „interventionistische und identitäre Geschichtspolitik“.

Der markante Turm des Mainplaza-Hochhauses von Hans Kolhoff zwischen Dreikönigskirche und EZB (links) von Coop Himmelb(l)au, Foto: Petra Kammann 

Kollhoff nun sagt im aktuellen Gespräch – das sich um den formal sehr strengen und rigiden Oswald Matthias Ungers dreht (in Frankfurt u.a. durch die prägenden Messebauten des Torhauses, der  Galleria und der Halle 9 bekannt oder auch des Architekturmuseums) –, dass erst in dieser Zeit (bis in die 90er) Architektur wieder „zur Sprache gebracht“ worden sei, mit einer Vielzahl guter Veröffentlichungen in Amerika, Italien, England. Nur Deutschland mache da eine Ausnahme, „weil dieses Land bis heute mit der Vergangenheitsbewältigung zu schaffen hat.“

Sein Gesprächspartner Jasper Cetl, der in Dessau Architekturtheorie lehrt, nimmt an anderer Stelle das Geschichtsargument auf. Es sei eine moderne Haltung, Geschichte zu überwinden und auf eine vermeintliche daraus destillierte Essenz zu kommen. Was schnell zur Idee führe, man könne eine Kernform bauen und die Kunstform weglassen, „und dann hat man diese Architektur, bei der alles abgeschliffen ist“, eine „glattgebügelte Kiste“.

Das Torhaus in der Frankfurter Messe von Matthias Ungers, Foto: Uwe Kammann

Diese oft als Konfrontation verstandene Konstellation von Idee und Erscheinung durchzieht viele der versammelten Gespräche. Typisch scheint auch hier, dass Kollhoff erst spät, bei Hans Hollein (Architekt des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, eine Ikone der Postmoderne, deren Reiz nach der kürzlichen Renovierung wieder integral zu erleben ist), ein „opulentes formales Repertoire“ kennengelernt hat, „das dem Funktionalismus vollkommen fehlte.“ In einem Interview mit der FAZ vor acht Jahren, am Anfang des Altstadt-Abenteuers, hatte er der traditionsvergessenen Branche das schlechteste Zeugnis ausgestellt, auch als Antwort auf die Abwendung eines Großteils der Menschen von dezidiert moderner Architektur: „Auf die Erfahrung unseres Metiers können wir uns nicht mehr berufen – wir haben sie verspielt und mit Füßen getreten.“

Das Museum für Moderne Kunst MMK in Frankfurt, erbaut vom Architekten Hans Hollein, Foto: Petra Kammann

Es ist diese Diskussion, die in all’ den Gesprächen der Münchner Reihe exemplarisch geführt wird. Und genau deshalb lohnt es sich, vergleichend das Sonderheft von ARCH+ und diesen Sammelband von Hirmer parallel zu lesen. Und dabei intensiv zu vergleichen, wie offen oder wie geschlossen Argumentation vertreten werden, wie diskussionsbereit Autoren sind oder wie entschlossen-kampfeslustig, weil es eine bestimmte Auffassung durchzusetzen gilt.

Und hier ist eben im Vergleich auffällig, wie abgeschottet das Autorenteam von ARCH+ wirkt, wie eng in seinem Welt- und Gesellschaftsbild, wie wenig zugewandt denjenigen, die mit den Ergebnissen des architektonischen Denkens und Handelns doch leben müssen, jeden Tag, unausweichlich (ganz anders als bei anderen Kunstformen): die Menschen.

Deren Emotionen und ästhetische Bedürfnisse, dies wird bei der Behauptung vom Siegeszug der rechten Räume völlig klar, spielen in den Überlegungen der Polit-Kämpfer keinerlei Rolle: weil sie ein mechanisch-ideelles Bild von einer gerechten und zukunftsgerichteten Gesellschaft haben – als soziologisch-wissenschaftliches Fortschrittskonstrukt, gestützt durch korrekte Gesinnung des politisch-medialen Hauptstroms.

Wie verschiedenartig die architektonischen Antworten auf menschliche Urbedürfnisse sind, wie stark sich Schulen und ganz individuelle Ausprägungen bei den Vorstellungen gelungener Architektur unterscheiden, das lässt sich mit immensem Gewinn an und in einem Buch studieren, das so groß wie schwer ist, aber auf einem soliden Schreibtisch bestens durchblättert werden kann. Es trägt den Titel „Baukunst im Archiv“ und sagt im Untertitel, worum es geht: „Die Sammlung der Akademie der Künste“, gemeint ist jene in Berlin. Das bei DOM publishers erschienene Buch ist eine unergründliche Fundgrube, auch und gerade, wenn es ums wertende Vergleichen geht, um das Nachspüren von Tendenzen, Großströmungen, Methoden, Modellen, natürlich auch von Moden.

Zu studieren ist ein Überblick über die Arbeitszeugnisse von Architekten, Landschaftsarchitekten, auch Architekturfotografen und –kritikern, ebenfalls natürlich von Ingenieuren, die wesentliche Beiträge zur Konstruktion und damit auch zur Gestaltung von Bauten geliefert haben. Der Blick zurück reicht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, mit Dokumenten von Lehrern und Schülern der damals preußischen Akademie. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dann im beginnenden 20 . Jahrundert, vor allem aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit, verdichtete sich die Archivarbeit; seither wurden auch Architektennachlässe systematisch in das Archiv aufgenommen. Heute umfasst es rund 350.000 Zeichnungen und Pläne, ca. 100.000 Fotografien und auch 450 Modelle, dazu kommt eine umfangreiche Sammlung von schriftlichen Zeugnissen.

Natürlich kann der von Eva-Maria Barkhofen herausgegebene Band nur einen winzigen Bruchteil dieses Archivschatzes zeigen. Doch schnell wird klar: Die Auswahl ist klug gewählt und pointiert, so dass sich schnell ein mäandernder (kein roter) Faden erkennen lässt. Er beginnt mit Zeugnissen aus der hohen preußischen Zeit der Akademie (die damals ja auch diesen Namen trug), zeigt dann Schwerpunkte wie den Expressionismus, die Entwicklung der Moderne, dann die Nachkriegsmoderne, weiter die Reaktionsvolten auf das lange Zeit vorherrschende Dogma der Reduktion und Abstraktion, reicht dann bis unsere Zeit. Kurze, tabellarisch aufgebaute Biografien zu den aufgenommenen ‚Urhebern’, um es generalisierend zusammenzufassen, erlauben eine schnelle persönliche Einordnung und die Verortung des Werkes im Gesamtzusammenhang der jeweiligen Architekturphasen und Zeitschichten, die oft Ähnliches hervorbringen, aber auch mit vielen individuellen Abweichungen überraschen.

Besonders lehrreich ist zu sehen, wie sich stadtgestalterische Großformen ablösen, wie es lange Zeit einen Hang zu Großformen gab, eine mehrheitlich geteilte Zielrichtung, historische Stadtformen und Straßengrundrisse aufzugeben, zu ‚überschreiben’. Und dies beileibe nicht nur, um dem Ziel einer autogerechten Stadt näherzukommen, sondern weil Architekten und Stadtplaner weite Räume schaffen wollten, eine fließende Folge freiheitsverheißender Perspektiven. Verbunden war das oft mit strengen Gegenfiguren, mit der Reihung von Großblöcken, ganz im Geiste der rigiden Umgestaltung, die Le Corbusier für eine zuvor planierte Pariser Innenstadt vorgesehen hatte.

Exemplarisch lässt sich das an den verschiedenen Entwürfen im Rahmen des Wettbewerbs Hauptstadt Berlin ablesen (hier gibt es verblüffende West-Ost-Spiegelungen zu sehen). Zu erkennen ist leicht: Es herrschte die Lust an der Vogelperspektive vor, in der alle Großfiguren leicht zu erkennen sind, als grafische Muster und skulpturale Formen. Aus dieser Betrachtung heraus erklärt sich vieles, was mit dem jetzigen Streit um historisierendes, auf alte Formensprache zurückgreifendes Bauen zu tun hat. Im tiefsten Grunde ist es ein Streit um das Recht auf maßstabslose Rücksichtslosigkeit auf der einen und um die Pflicht auf Rücksichtnahme im menschlichen Maßstab auf der anderen Seite.

Was auffällt, wenn man an den Diskurs über Architektur denkt: die wenig präsente Kritik. Auch in den großen Qualitätsblättern ist sie nur marginal vertreten. Journalistische Persönlichkeiten wie Manfred Sack (2014 verstorben) oder Wolfgang Pehnt – beide Meister darin, in so genauer wie verständlicher Sprache über Architektur zu schreiben und deren Eigenschaften kenntlich zu machen und zu vermitteln –, sie fehlen heute, bis auf drei, vier Ausnahmen, in schmerzlicher Weise. Im Archivband ist Sack mit zwei ungewöhnlichen, augenzwinkernd ironischen Collagen vertreten. In der Kurzbiographie gibt es Hinweise auf wesentliche Arbeiten, die von Architektur und Moral handeln, aber in ganz anderer Art als jene der ARCH+-Autoren, deren Texte sich auf Polit-Formeln, soziologische und ideologische Zuschreibungen sowie Kapitalismus-Kritik kaprizieren.

Wer nachlesen möchte, wie offen, anregend und nachdenklich sich über Architektur sprechen lässt, dem sei ein Interview empfohlen, das allerdings nicht in dem sehr empfehlenswerten Akademie-Buch, sondern im Archiv der „Zeit“ zu finden ist, unter folgendem Link:

https://www.zeit.de/1990/02/das-ist-doch-technisch-ne-ganz-einfache-sache/komplettansicht

Es ist vielleicht mehr ein Ping-Pong-Spiel, das Manfred Sack und sein Gesprächspartner, der 1996 gestorbene Architekturhistoriker und -kritiker Julius Posener, dort  austragen, vor nunmehr drei Jahrzehnten. Mit einem Dialog darin, der vielleicht nicht zu übertreffen ist, wenn es um Architektur geht. Manfred Sack fragt: „Also kann man die Qualität eines Gebäudes nicht zuletzt daran empfinden, wie es auf Menschen wirkt?“ Posener antwortet schlicht: „Ja. Ja.“

 

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