„Große Realistik & Große Abstraktion“ im Städel. Zeichnungen von Max Beckmann bis Gerhard Richter (1)
Widersprüchlich und extrem: Vielstimmiges 20. Jahrhundert
Eine Ausstellung mit Organismen aus Linien, Flächen und Farben, mit herrlichen Blättern, geschaffen „aus der Lammäng“. Die Souveränität individueller Zeichnungen als Medium des Suchens, Erfindens, Experimentierens und freien Denkens
Von Petra Kammann
Emil Nolde (1867–1956), Vierwaldstätter See, ca. 1930, Aquarell auf Velin-Japanpapier, 340 × 470 mm (Blatt), Städel Museum, Frankfurt am Main© Nolde Stiftung Seebüll, Foto: © Städel Museum
Ich stutze: Dieses leuchtende Nolde-Aquarell soll eine Zeichnung sein? „Ja“, klärt mich die Sammlungsleiterin der Graphischen Sammlung, Regina Freyberger, auf. Die Grenze zur Malerei sei zwar nicht immer eindeutig zu ziehen. Eine Zeichnung, das sei aber ein Bild, das ein Motiv in vereinfachender Weise mit Linien, Strichen und Lavierendem darstelle. Dies unterscheide Zeichnungen prinzipiell von der Malerei, welche mit großen Farbflächen und Tonwerten arbeite. Man könne sich dem Sujet schon von vornherein mit Pastellkreide oder mit dem Pinsel nähern, und so eben auch mit verlaufender Wasserfarbe, um eine Komposition anzulegen.
Wie auch immer: Noldes Seenlandschaft – so teilt es sich ganz direkt mit – muss mit traumwandlerischer Sicherheit „aus der Lammäng“ entstanden sein, frei aus der Hand heraus, was diese saloppe Redensart, die aus dem Französischen von „la main“ abgeleitet ist, ja auch besagt, wobei die Hand der Wahrnehmung und dem Auge für die Gesamtkomposition unmittelbar gefolgt sein muss …
„Wie der Mensch, so wandeln sich auch seine Formen“, schrieb noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs, 1912, der Künstler August Macke. Nicht nur die Gattungen, auch die Formen beginnen sich spätestens zu Anfang des 20. Jahrhunderts aufzulösen, denn die Künstler wandten sich da von der realistischen Darstellung der Wirklichkeit ab, sie erprobten neue Darstellungsformen, lösten sich von der räumlichen Darstellung. Da wird aus dem reliefartigen Gebirge „Vierwaldstätter See“ eine Fläche aus verschieden nuancierten Blaus, welche vom sich im See spiegelnden gelben „auslaufenden“ Sonnenlicht überstrahlt wird.
Ja, es war in der Tat der Beginn eines Stilpluralismus, des Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit, der Chiffren und der Arabesken, der Spielarten des Informel und schließlich des Realismus im geteilten Deutschland, in dem sich die Trends nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei verschiedene Richtungen entwickelten, in die „große Realistik“ des Gegenständlichen und in die „große Abstraktion“, in die des Ungegenständlichen, wie schon Kandinsky die beiden gegensätzlichen Pole genannt hatte.
Dafür öffnet uns die gelungene intime Kabinettausstellung im Peichl-Bau, die unter dem Motto „Große Realistik & Große Abstraktion“ einen glücklichen Griff in ihren fabelhaften Sammlungsbestand getan hat, die Augen. Jenny Graser, noch Mitarbeiterin der Graphischen Sammlung und Kuratorin der Ausstellung, die leider das Städel in Richtung Berlin verlässt, hat hier außerdem geschickt zusammengeführt, was bislang in Deutschland allzu oft säuberlich dann auch in Ost- und Westkunst getrennt wurde.
Kuratorin Dr. Jenny Graser in der Ausstellung, Foto: Petra Kammann
Wie in einem inneren Netz werden in der feinen Schau die Fäden zwischen den 100 Blättern der 40 Künstler der Moderne gespannt. Ergänzt werden deren Zeichnungen lediglich durch zwei Gemälde aus dem Hause, welche die Transformation und die Finition der skizzierten Werke illustrieren wie im Falle August Mackes, dessen „Mädchen am Abend auf der Bahnüberführung“ von 1913 neben dem Ölgemälde „Zwei Mädchen“ hängt.
Aus der Fülle der etwa 1.800 Werke deutscher Zeichenkunst des 20. Jahrhunderts hat Graser dabei ihre kluge Auswahl getroffen. Die auf den beruhigend blauen Hintergrund gehängten Exponate vermitteln sowohl Kostbarkeit als auch Nähe. Auf dem Fond tritt die Besonderheit des je einzelnen Blattes hervor und zeigt, auf welch individuelle Weise sich die Künstler mit der Wirklichkeit, oder wie sie sie verstanden, auseinandergesetzt haben.
Hier sei nur ein Beispiel gegensätzlicher Ansätze erwähnt. So weich und fließend wie Noldes Seeaquarell ins Gemüt dringt, so schroff und dynamisch springt einen gleich beim Eintritt in die Ausstellung Ernst Ludwig Kirchners urbane Berliner Straßenszene aus dem Jahr 1914 an. Mit Pastellkreiden und Kohle hat sie der Künstler in wesentlichen Umrissen rasch und dynamisch auf das Büttenpapier gebannt und mit farbigen grellgrünen Schraffierungen versehen, um damit die Aufmerksamkeit auf das herausfordernde Kostüm der Prostitutierten wie auf die Gesichter der beiden „Passantinnen“ zu lenken.
Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), Berliner Straßenszene, 1914, Pastellkreiden und Kohle auf beigem geripptem Büttenpapier, 677 × 503 mm (Blatt), Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: © Städel Museum
Fortsetzung folgt.
Die Ausstellung „Große Realistik &Große Abstraktion“
Zeichnungen von Max Beckmann bis Gerhard Richter
läuft bis zum 16. Februar 2010
Die Künstler der Ausstellung:
Altenbourg, Gerhard; Baselitz, Georg; Baumeister, Willi; Bayrle, Thomas; Beckmann, Max; Beuys, Joseph; Bohrmann, Karl; Buchheister, Carl; Feininger, Lyonel; Gilles, Werner; Glöckner, Hermann; Götz, Karl Otto; Graubner, Gotthard; Greis, Otto; Grützke, Johannes; Heckel, Erich;
Höckelmann, Antonius; Immendorff, Jörg; Kiefer, Anselm; Kirchner, Ernst Ludwig; Klee, Paul; Kreutz, Heinz; Lüpertz, Markus; Macke, August; Mueller, Otto; Nay, Ernst Wilhelm; Nesch, Rolf; Nolde, Emil; Pechstein, Max; Penck, A. R.; Polke, Sigmar; Rainer, Arnulf; Richter, Gerhard; Rohlfs, Christian; Schmidt-Rottluff, Karl; Schönebeck, Eugen; Schultze, Bernard; Schumacher, Emil; Sorge, Peter; Thieler, Fred; Trier, Hann; Tübke, Werner; Wols