home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Evolution: Höhepunkt der Ruhrtriennale 2019 mit György Ligetis Requiem

Am Wochenende endete die Ruhrtriennale mit einem Fest in der Bochumer Jahrrhunderthalle.

Die Jahrhunderthalle war wenige Tage zuvor Spielstätte der mit Abstand besten Inszenierung der diesjährigen Ruhrtriennale gewesen: der Inszenierung von György Ligetis Requiem.

Von Simone Hamm

v.l.n.r. Virpi Räisänen, Yeree Suh, Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale 2019

Regisseur Kornél Mundruczó und Ausstatterin Monika Pormale haben grandiose Bilder geschaffen, ebenso beklemmend wie großartig.

Sie stellen „Evolution“ die Worte Sören Kierkegaards voran: „Wiederholung und Erinnerung stellen die gleiche Bewegung dar, nur in entgegengesetzter Richtung“.

Wiederholung und Erinnerung, das ist das Thema des Abends. Kornél Mundruczó hat sich für ein musikalisch-dramaturgisches Triptychon entschieden, auf eine fast choreografische Szene fort eine Theaterszene mit Videosequenzen, darauf eine Szene mit surrealen, imaginären Bildern, der schönen, neuen Welt des Internet.

Ligeti hat keine Erlösung komponiert. Geboren 1923 in Siebenbürgen, gestorben 2006 in Wien, hat er unter Faschismus und Kommunismus gleichermassen gelitten. Sein Vater starb im Konzentratiosnalger Bergen Belsen, sein jüngerer Bruder im KZ Mauthausen. Die Mutter überlebte das KZ Auschwitz Birkenau.

Leiter der Bochumer Symphoniker Steven Sloane dirigierte, Foto: Christoph Fein / Ruhrtriennale 2019

Dreimal hören wir Ligetis halbstündiges Requiem, gespielt von den Bochumer Symphoniker unter der Leitung von Steven Sloane. Dreimal singt der lettische Staatschor unter Maris Sirmais.

Im ersten Teil ist auf der breiten Bühne eine verschmutzte Gaskammer in Auschwitz zu sehen. Ockerfarbene Kacheln. Duschköpfe. Drei Putzmänner versuchen die dreckigen Kacheln zu reinigen. Sie ziehen aus allen Ecken Haare. Haare, immer mehr Haare. Das ist beklemmend, albtraumhaft. Sie hören Geschrei, halten inne, finden ein Baby. Da gibt es Leben im Totenreich. Die Männer heben das Kind auf, sie retten es. Plötzlich schießt Wasser hervor, wahrscheinlich aus geplatzten Rohren. Das wirkt wie die Sintflut und hat doch zugleich etwas Reinigendes. Als würde dieser furchtbare Ort, indem unzählige unbegreifliche Morde geschehen sind, einfach weggerissen vom Wasser. Die drei Männer stehen mit dem Kind zusammen. Eben noch waren sie Mörder, jetzt gleichen sie den heiligen drei Königen. Über ihnen bilden die Fontänen einen Bogen.

Im 2. Teil ist Eva eine alte Frau, die in einer schäbigen Wohnküche lebt. Ihre Tochter Lena kommt zu Besuch, will sie überreden einen Verdienstorden anzunehmen. Ausserdem stehe ihr als Holocaustüberlebenden Wiedergutmachung in Form von barer Münze zu. Die Mutter will nichts von alledem. Sie hat Angst vor Listen aller Art, fühlt sich verfolgt – auch heute noch –  und hat zur Sicherheit mehrere Ausweispapiere mit unterschiedlichen Namen.

v.l.n.r. Annamária Láng, Lili Monori / Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale 2019

Videokameras filmen die Schauspielerinnen Lili Monori und Annamária Láng vom Budapester Proton-Theater. Dass sie ungarisch sprechen, schmälert ihre außergewöhnliche Schauspielleistung nicht im geringsten, es gibt ja Untertitel. Im Gegenteil, so konzentriert man sich auf ihre Gesichter, die groß auf eine Leinwand projiziert werden. Die Schauspielerinnen werden aus verschiedenen Perspektiven gefilmt, so wie sie das Leben aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Beides ist gleichermaßen richtig und wahr: der Anspruch von Evas Tochter auf eine bessere Zukunft für sich und ihren Sohn. Er soll das unbeschwerte Leben führen dürfen, dass sie nie hatte. Und auch die Weigerung der stolzen Mutter, sich nicht wegen eines Ordens kompromittieren zu lassen. Sie fürchtet, die Kinder der Täter wollten nur ihr Gewissen erleichtern. Plötzlich wird die Wohnung überflutet. Wassermassen stürzen in die Küche aus Schränken, von Decken, aus Wänden, reißen alles nieder. Mutter und Tochter stehen hilflos in den Fluten.

Dazu erklingt das Requiem bruchstückhaft.

Die dritte Szene ist ein Blick in die Zukunft. Was erwartet Evas Enkelsohn Jonas? Er ist Mitglied in einer What’s app Gruppe. Die Vergangenheit interessiert ihn nicht. Und doch kann auch er ihr nicht entrinnen. Die Kinder hocken am Bühnenrand, ihre Gesichter werden nur von ihren Smartphones beleuchtet. Was die Kinder sich schreiben, wird groß an eine Leinwand projiziert. Evas Enkel wird verspottet, die anderen nennen ihn Pinocchio.

Noch immer werden Juden diffamiert, weil sie Juden sind. Keine „Evolution“, keine Weiterentwicklung.

Packend ist das Schlussbild. Die Bühne in der Jahrhunderthalle öffnet sich nach hinten in eine unglaubliche Tiefe. Es scheint, als käme der Chor aus unendlicher Ferne aus tiefem Blau durch dichte Wolken. Als seien die Sänger aus dem Totenreich gekommen. Am Ende bleibt nichts als eine Kugel, auf die Wolken projiziert sind.

Chor und Orchester agierten – wie die Darsteller – auf höchstem künstlerischen Niveau. Sie klagten an, halten sich nicht zurück. Ligetis Musik ist unversöhnlich, dissonant, aufwühlend.

Nachdem der letzte Ton verklungen war, herrschte erst einmal Stille. Niemand klatschte in die Musik hinein. Alle sind noch gefangen und warten mit dem Applaus. Der fällt dann umso herzlicher und lauter aus.

https://www.ruhrtriennale.de

 

Comments are closed.