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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Präsentation des neuen Ritschl-Werkverzeichnisses in Wiesbaden

Ritschls faszinierendes Spätwerk – ein Fest der Farbe

Von Hans-Bernd Heier

Otto Ritschl, geboren 1885 in Erfurt, gestorben 1976 in Wiesbaden, gehört zu dem Kreis abstrakter Maler, die nach dem Zweiten Weltkrieg die westdeutsche Kunstszene prägten. Er hat ein immenses Werk von rund 1.900 Arbeiten hinterlassen, darunter etwa 1.600 Ölgemälde. Trotz hoch qualitativer Kompositionen ist dem vielseitigen Künstler der internationale Durchbruch versagt geblieben. „Da bin ich doch so alt geworden wie ein Methusalem, hab‘ geschafft wie ein Pferd, den großen Erfolg, nein, den hab‘ ich nicht gehabt“. Dieses lapidare Bekenntnis legte der bedeutende Einzelgänger als Neunzigjähriger nach nahezu 60 Jahren künstlerischen Schaffens ab.

Otto Ritschl „Komposition 76/9“, Öl auf Leinwand, 155 x 130 cm; Foto: Museum Wiesbaden Foto: @ Bernd Fickert

Mit dazu beigetragen hat sicherlich die Diffamierung Ritschls als „entarteter Künstler“ durch die Nationalsozialisten. Er verzichtete deshalb während der Nazi-Diktatur auf weitere Ausstellungen und malte nur noch heimlich. Auch nach dem Krieg mied der Maler, der häufig gegen den Strom schwamm, den von ihm abgelehnten „Kunstrummel“ und zog sich als Einsiedler in sein Wiesbadener Atelierhaus zurück. Beim Verkauf seiner Werke hielt er sich ebenfalls zurück. Wenn ein Kunstfreund ein Gemälde erwerben wollte, das er nicht verkaufen wollte, musste sein Adlatus Wolff Mirus dieses im Schlafzimmer sicherstellen. „Dem Sammler wurde gesagt, das Bild befände sich irgendwo auf Ausstellungstournee und wäre zur Zeit nicht greifbar. Mit der Zeit mussten immer mehr Bilder ins Schlafzimmer gebracht werden“, so Mirus. Ritschl selbst sprach schmunzelnd von „Schlafzimmerbildern“.

↑ „Drei Frauen“ 46/5, Öl auf Leinwand, 130 x 97 cm, Foto: Museum Wiesbaden Foto: @ Bernd Fickert
„Maler und Model III“, 46/4, Öl auf Leinwand, 130 x 97 cm, Foto: Museum Wiesbaden Foto: @ Bernd Fickert

Um die Lebensleistung dieses großen abstrakten Malers in seiner ganzen Fülle zu würdigen und sein Werk auf Dauer öffentlich präsent zu halten, hat sich der Museumsverein Ritschl e.V. entschlossen, ein neues Werkverzeichnis von Ritschls großartigen Arbeiten erstellen zu lassen. Nach über zwei Jahren akribischer Recherchen und systematischer Dokumentation hat Wolff Mirus, der wohl beste Kenner der Kunst und der Person Otto Ritschls, jetzt ein vollständiges Werkverzeichnis des Wiesbadener Malers vorgelegt. Das erste Verzeichnis aus dem Jahre 1973 war nicht vollständig, da Ritschl bis ins hohe Alter produktiv war und noch über 100 weitere Bilder nach Drucklegung gemalt hat. Aus finanziellen Gründen konnten die meisten Bilder damals nur in Schwarz-Weiß abgebildet werden – ein großes Manko angesichts der leuchtenden Farbpalette dieses Malers.

Im Vorwort der schwergewichtigen Dokumentation (über 400 Seiten) schreibt der Verfasser: „Das Buch lädt dazu ein, Otto Ritschls Beitrag zur abstrakten Kunst des 20. Jahrhunderts, sein so wundervoll inspiriertes Werk, in seiner Gesamtheit kennenzulernen“. Dies ist dem kompetenten Verfasser mit dem opulenten Druckwerk voll gelungen. Denn Mirus – in seiner Jugend Schüler und Assistent Ritschls in dessen Wiesbadener Atelierhaus – bringt seine profunden Kenntnisse über das umfangreiche Werk des autodidaktischen Meisters engagiert ein.

Ritschl beginnt seine berufliche Laufbahn als Schriftsteller. 1915 wird sein erstes Theaterstück „Der Rechnungsdirektor. Komödie in drei Akten“ am Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt. 1918 wendet sich der Spätberufene jedoch von seiner Tätigkeit als Schriftsteller ab und beginnt mit ersten Malversuchen. Im darauffolgenden Jahr hat er sein erstes Gemälde „Der irrende Soldat“ – ein Großformat von 2,5 x 1,5 Metern – mangels ordentlichen Malwerkzeugs mit Wattebäuschchen auf Leinwand getupft und gerieben.

Zu Beginn malt Ritschl expressionistische Werke, bei denen der Einfluss von Oskar Kokoschka deutlich spürbar ist. Menschenbilder und figurale Szenen sind damals sein bevorzugtes Thema. Nach einem sozialkritischen Intermezzo im Stile der Neuen Sachlichkeit wendet er sich Mitte der 1920er Jahre dem zeitgenössischen Kunstgeschehen in Frankreich zu und unternimmt mehrere Reisen nach Paris. Es kommt zu Begegnungen mit Pablo Picasso und Max Ernst. 1925 zerstört er seine bis dahin gemalten Werke und setzt sich mit dem Surrealismus ebenso wie mit dem Kubismus auseinander, insbesondere mit Georges Braques Arbeiten. Ritschl malt nun ungegenständlich, beeinflusst von den Formen und Symbolen des Surrealismus und des Kubismus. Er gründet 1925 die Freie Künstlerschaft Wiesbaden. Er lernt in dieser Zeit auch den ebenfalls in der Weltkurstadt lebenden Alexej Jawlensky kennen, der ihn durchaus schätzte.

„Komposition 1957/8 “, Öl auf Leinwand, 97 x 130 cm, Foto: Museum Wiesbaden Foto: @ Bernd Fickert

Nach dem zweiten Weltkrieg entstehen Gemälde und Zeichnungen, die nachhaltig von Pablo Picasso und der Moderne der 1930er Jahre beeinflusst sind. Von diesen Vorbildern kann er sich zunehmend lösen. In den 1950er Jahren beschreitet er gegenstandsloses Terrain und findet seinen persönlichen abstrakten Malstil, dem strengere geometrische und konstruktivistische Formen zugrunde liegen. Gegen Ende der 50er werden die gegenstandsfreien Formen weicher, farblich fein gestufte Übergänge und Differenzierungen halten Einzug in seine Bilder. Unscharfe, weiche wolkenartige Formen dominieren im Spätwerk, das mit seiner leuchtenden Farbkraft brilliert – ein Farbfest fürs Auge. Im hohen Alter erreicht Ritschl mit seiner abstrakten Malerei etwas, was er zeitlebens angestrebt hat: „Das Bild, das etwas ist und nichts mehr darstellt“.

„Das Werk des unter Kennern hochgeschätzten Malers Otto Ritschl bietet einen Querschnitt durch die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie kaum einem anderen europäischen Maler seiner Zeit war es Ritschl gegeben, ein spannendes, von hoher Inspiration beseeltes Alterswerk zu schaffen“. Mit diesen Worten umreißt Kurt Leonhard, ein Freund und Wegbegleiter Ritschls, dessen großartige Malerei.

„Komposition 1972/22 “, Öl auf Leinwand, 130 x 97cm, Foto: Museum Wiesbaden Foto: @ Bernd Fickert

Ritschl, der Musik liebte und sich besonders von Jazzmusik anregen ließ, gab seinen Arbeiten keine Titel, sondern nannte sie schlicht „Komposition“. Mit Beginn eines jeden Jahres nummerierte er die Gemälde fortlaufend durch.

Für Ritschl war Malerei einziger Lebenswert, insbesondere nach dem Tod seiner Frau Dora im Jahre 1958. Er hat an zahlreichen Ausstellungen, auch mit internationaler Strahlkraft, teilgenommen. Erwähnt seien nur die vom Bundeskanzleramt 1984 ausgerichtete Schau, bei der Ritschl u. a. zusammen mit Willi Baumeister, Max Ackermann, Ernst Wilhelm Nay, Fritz Winter und Georg Meistermann in die vielbeachtete Präsentation von abstrakten Malern der „Inneren Emigration“ einbezogen wurde, sowie die großen Retrospektiven im Museum Wiesbaden und im Von der Heydt-Museum Wuppertal 1997/98. Auch waren seine Arbeiten auf der ersten und zweiten „documenta“ zu sehen. Eine Professur, die dem zurückgezogen Lebenden angetragen wurde, lehnte er ab. Unter: www.otto-ritschl.org. ist eine ausführliche Biografie zu lesen.

Cover des Werksverzeichnis; @ Museumsverein Ritschl

Einen Überblick über die Lebensleistung dieses bedeutenden abstrakten Meisters bietet die systematische Dokumentation mit dem schlichten Titel „Ritschl – Das Werkverzeichnis 1919 – 1976“. Das Landesmuseum Wiesbaden, in dessen Besitz sich rund 160 Gemälde des Künstlers befinden, und der Museumsverein Ritschl haben mit berechtigtem Stolz das gewichtige Druckwerk präsentiert.

Der Museumsverein Ritschl wurde 1971 vom Künstler testamentarisch als Erbe der noch in seinem Besitz befindlichen Bilder eingesetzt und damit beauftragt, von ihm gekennzeichnete Bilder unter dem Titel „Der Weg meiner Malerei“ der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ursprünglich war sogar an ein eigenes Museum gedacht, daher der Name. Der Museumsverein schloss 1994 einen Kooperationsvertrag mit dem Museum Wiesbaden. Prof. Dr. Tom Sommerlatte, der seit 1988 dem Verein vorsteht, ist auch ohne eigenes Ausstellungshaus davon überzeugt, dass Otto Ritschl den wirklichen Durchbruch noch vor sich hat.

Um den Namen des Meisters der reinen Malerei lebendig zu halten, wurde der Otto Ritschl-Preis ausgelobt, der dem Preisträger eine Ausstellung im Museum Wiesbaden mit Katalog bietet und ein Preisgeld einschließt. Der rührige Verein vergab den Otto Ritschl-Preis“ 2001 an so renommierte Künstler wie Gotthard Graubner, 2003 an Ulrich Erben, 2009 an Kazuo Katase und 2015 an Katharina Grosse.

„Ritschl – Das Werkverzeichnis 1919 – 1976“ ist im Kunstbuchverlag Hirmer erhältlich, 406 Seiten, Preis: 59,90 €.

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