Groningen: ein Klein-Amsterdam ohne Sperrstunde
Von Elke Backert
Beste Innenstadt der Niederlande, größtes Kneipenviertel, ungewöhnlichstes Wohnhaus, schönste Sonnenuhr, attraktivster Supermarkt und schönstes Pissoir. So viele Superlative in einer Stadt mit 200.000 Einwohnern fordern zum Überprüfen heraus.
Hinzufügen könnte man: größte Fahrradstadt der Welt, lässt man Chinas Städte mal außen vor. Überall sind sie geparkt, die Fiets. In Massen. In der Bahnhofs-Rad-„Garage“ sogar doppelstöckig. Was liegt also näher, als per Rad die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz zu erkunden. Und am Tag darauf die markantesten Stätten noch einmal per Pedes. Aber Achtung! Fahrräder!
↑ Im 97 Meter hohen Martiniturm, dem Wahrzeichen Groningens, mit vier Umgängen führen unendlich viele Stufen hinauf zu dem sagenhaften Ausblick bis zur Nordsee. Rechts die A-Kirche mit dem goldenen Turm
↓ Das ist einer der Ausblicke vom Martini-Turm
Obwohl Groningen im Nordosten der Niederlande, unweit der deutschen Grenze, schon im Jahr 1040 erstmals namentlich erwähnt wird – als der deutsche König Heinrich III. dem Bischof von Utrecht die „Villa Cruoninga“ schenkte – , ist es eine junge Stadt. Fast die Hälfte der Bewohner ist unter 35 Jahre alt. Das liegt sicher auch an den 50.000 Studenten, die an der 1614 gegründeten Universität eingeschrieben sind. Sie sind wohl mit ein Grund, dass Groningens Kneipen keine Sperrstunde haben.
↑ 50.000 Studenten haben sich an der 1614 gegründeten Universität mit dem Renaissance-Giebel eingeschrieben
↓ Schicke Fassaden am Grote Markt
Zentrum der alten Hansestadt ist der Grote Markt, auf dem dreimal wöchentlich ein Markt stattfindet mit allem, was das Herz begehrt, ob Blumen, Kleidung oder Raritäten. Hier könnte man feudal übernachten – im Hotel de Doelen, einem denkmalgeschützten Gebäude von 1798, dessen Treppenhaus mit der bemalten Bleiglaskuppel allein sehenswert ist. Aber auch aus den Zimmern des Hotel Prinsenhof blickt man auf das Wahrzeichen Groningens, den mehr als 500 Jahre alten 97 Meter hohen Martini-Turm der gleichnamigen Kirche, dessen 263 Stufen es zu besteigen lohnt. Von oben geht der Blick über imposante Stadtarchitektur bis zur Insel Schiermonnikoog in der Nordsee.
↑ Sogar auf den Gullydeckeln ist der Martini-Turm abgebildet. Wunderschön. Rechts: Die „schönste Sonnenuhr der Niederlande“ zeigt im Prinsenhof-Renaissance-Garten die Zeit an.
↓ Markante Giebel im Stil der holländischen Renaissance wie dem des „Goudkantoor“ (Goldkantor, rechts), heute Café-Restaurant, sind zuhauf zu sehen.
Markante Giebel im Stil der holländischen Renaissance wie dem des „Goudkantoor“ (Goldkantor), heute Café-Restaurant, sind zuhauf zu sehen, auch entlang der Grachten, auf denen – wie in Amsterdam – Wohnschiffe ankern. Steht man ahnungslos auf einer der Brücken, um das maritime Flair im Bild festzuhalten, ermahnt einen ein lautes Klingeln, das nicht von einem Fahrrad rührt, schleunigst die Brücke zu verlassen. Es handelt sich nämlich um Zug- oder Drehbrücken, die entweder aufgeklappt oder zur Seite gedreht werden, sollte sich ein Schiff mit hohen Masten den Weg bahnen wollen. Eine Attraktion. Auch die flachen Grachten-Ausflugsschiffe fahren nicht so problemlos. Bei 15 Brücken muss man sich mindestens dreimal sehr tief runterbeugen oder gar auf die Knie gehen, um seinen Kopf zu behalten.
Groningen lädt ein, entlang der Grachten zu schlendern, zu radeln oder eine Grachten-Fahrt zu unternehmen. Aufregend ist es, die Klapp- und Drehbrücken in Funktion zu beobachten
Enge Gassen mit schmalen Hausfassaden wollen entdeckt werden, wobei man ungewollt in die zwei Rotlicht-Gassen Groningens geraten kann: die eine heißt Vishoek, die andere, Nieuwstad, befindet sich bei der Synagoge, zu der in das Kopfsteinpflaster eingelassene silbrige Halbmonde führen. Rotlicht ist wörtlich gemeint. Vertikale rote Neonlampen an den Fenstern weisen den Weg. Die Mädchen in erotischen Dessous dahinter erinnern an die Zeiten, als in den Armenhäusern auch Irre wohnen durften, die sonntags gegen Gebühr wie Ausstellungsobjekte angegafft werden konnten.
Groningen, Vishoek: Ein Teil des Rotlicht-Viertels
In den „Hofjes“, jenen Armenhäusern mit stillen Innenhöfen hinter reich verziertem Tor versteckt, leben heute begüterte Menschen. Ebenso in den urigen alten Packhäusern aus Backstein.
Auch einen Renaissancegarten gilt es zu bewundern. Hinter dem Prinsenhof, heute Hotel, umgürtet von einer Mauer, auf der die „schönste Sonnenuhr der Niederlande“ die Zeit anzeigt, wartet er, auf dass Ruhe Suchende unter dem begrünten, Schatten spendenden Wandelgang spazieren und durch die hineingeschnittenen Fenster den Rosenduft erhaschen – wie anno dunnemals die hochherrschaftlichen Damen.
Schöne Giebel in Groningen; Nachtwächter am Coendershuis
Der „schönste Supermarkt“ auf dem Fischmarkt erhielt die Auszeichnung, weil ihn der klassizistische Bau der ehemaligen Getreidebörse beherbergt. Bitte nicht verwechseln mit dem klassizistischen Rathaus in der Nähe! Zwei gebogene Wände aus Milchglas mit einer tiefblauen Fotocollage, Mann und Frau darstellend, sind eine Kreation des Architekten Rem Koolhaas und des Fotografen Erwin Olaf. Hier hat Frau nichts zu suchen, aber Mann darf das Kunstwerk anpinkeln, das „schönste Pissoir“ der Niederlande.
Das architektonisch ungewöhnliche Wall House südlich von Groningen
Wegen des südlich von Groningen mit Blick auf das Hoornse Meer gelegenen und vom amerikanischen Architekten John Hejduk geschaffenen Wall House reisen Architekturfans von weither an, aus Japan und den USA. Es ist das wohl ungewöhnlichste Wohnhaus der Welt, nur für ein oder zwei Personen bestimmt, und mindestens von außen gewöhnungsbedürftig.
Ebenso ungewöhnlich mutet die Bauweise des Groninger Museums an. Vom italienischen Stararchitekten Alessandro Mendini 1994 wie ein Schiff ins Wasser gebaut, verblüfft im Innern die inszenierte Zurschaustellung der Objekte, ob es sich um die große Sammlung chinesischen und japanischen Porzellans handelt, wo Altes mit Gegenwartsdesign kombiniert wird, oder um die Gemäldeausstellung oder die Sonderausstellungen. Die Form steht über der Funktion.
Vom italienischen Stararchitekten Alessandro Mendini 1994 gebaut – das Groninger Museum. Schon der Treppenaufgang des Museums ist sehenswert
Als einer der wichtigsten international aktiven chinesischen Künstler wurden seinerzeit Werke von Song Dong gezeigt, etwa Installationen, Videos und eine Weltkarte aus Tausenden Süßigkeiten, bewacht von erschreckender Militärpolizei. Seine sammelwütige Mutter trug Hausrat zusammen, der in der Installation „Waste Not“ zu sehen war – wirklich unglaublich, was sie alles aufgehoben hat.
Mit der Retrospektive „H. N. Werkman (1882-1945), Leben & Werk“ erinnerte das Museum an Hand von Drucken, Gemälden und experimentellen Druckwerken an Werkmans siebzigsten Todestag. Am 10. April 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, war der Groninger Drucker und Künstler von den deutschen Besatzern erschossen worden. Wegen illegaler Schriften, wegen seiner von den Nazis verbotenen Werke? Man weiß es bis heute nicht.
Die Fahrräder, die der Italiener Mendini ebenfalls entworfen hat, führen einen sicher durch die vor Lebensfreude überschäumende und die als „beste“ ausgezeichnete Innenstadt der Niederlande.
Fotos: Elke Backert