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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Demokratie gut

Von Hans-Burkhardt Steck

Wenn eine Überzeugung die Bewohner des sogenannten „Westens“ halbwegs eint, dann die von der moralisch und politisch unbestreitbaren Führungsrolle der Demokratie, die die beste Regierungsform sei. Wer sie nicht habe und/oder wolle, sei irregeleitet und müsse, notfalls auch mit ein paar Bomben, eines besseren belehrt werden. Churchills alter Witz von der Demokratie als der schlechtesten Regierungsform, nur kenne er keine bessere, wird allgemein eben als alter Witz und Churchill als britischer Scherzkeks betrachtet.

Komischerweise teilen Milliarden Menschen unsere Begeisterung für die Demokratie nur sehr begrenzt bis gar nicht. Beharrlich bleiben sie bei ihren Diktaturen, Stammesstrukturen, Beratungsversammlungen und Sippen ohne übergeordnete staatliche Strukturen.

Sie begreifen nicht, was wir mit dem One-man-one-vote-Prinzip wollen. Wieso soll die Mehrheit die Minderheit dominieren können? Wieso sollen die Argumente der Minderheit nichts wert sein, bloss weil die ein paar Anhänger weniger hat? Was zum Teufel ist eigentlich „besser“ an der Mehrheit? Wieso kriegt sie die Geldtöpfe und die gutbezahlten Posten und darf sich die Gesetze massschneidern? Wieso darf eine Person wie Angela Merkel über Menschen wie Helmut Schmidt, Franz Beckenbauer, Sebastian Vettel oder gar die Grande Dame des deutschen Comics Erika Fuchs „herrschen“, bloss weil sie einige Wähler mehr bezaubert?

Früher gab’s so was nicht Wie kam es eigentlich dazu?

Human Evolution, Bildnachweis: M. Garde/Gerbil/wikimedia commons cc

Als Säugetiere und Primaten ist die Blutsverwandtschaft für uns von grosser Bedeutung. Unsere ursprüngliche Lebensform ist die Grossfamilie. Natürlich kennt da jeder jeden. Auch auf dem Dorf kannte und kennt jeder jeden. Die Menschen wachsen dort mit der Erfahrung heran, dass sie die anderen Menschen, die sie sehen, sobald sie aus dem Haus treten, kennen, einschätzen und einordnen können, wissen, ob der ihnen was zu sagen hat oder sie ihm, die Verwandtschaftsverhältnisse kennen und mit den anderen Personen mehr oder weniger vertraut sind. Deshalb wissen sie auch genau, dass die Menschen eine Eigenschaft dramatisch von allen anderen Lebensformen abhebt: Die Individuen sind extrem unterschiedlich. Körpergrösse, Kraft, Intelligenz, Gedächtnis, Auffassungsgabe, Sprachvermögen und was es alles an mess- und vergleichbaren Eigenschaften so gibt, ist krass unterschiedlich ausgeprägt. Völlig unvergleichbar mit den individuellen Unterschieden selbst bei den nächsten Verwandten im Tierreich.

Deshalb wäre unser Kumpel aus der Steinzeit kaum auf den Gedanken verfallen, als 18jähriger Rotzlöffel auf One-man-one-vote-Abstimmungen und auf das Mehrheitsprinzip zu pochen. Die Älteren, Erfahreneren, oft auch körperlich Überlegenen hatten ganz selbstverständlich das Sagen, bis die unerbittliche Natur ihrem Herrscherdrang ein Ende setzte.

Dann kam aber Gutenberg mit seinem Buchdruck und löste die intellektuelle und damit die industrielle Revolution aus, mit der wir uns in den letzten Jahrhunderten herumzuschlagen haben. Eine ihrer Folgen: Einzelne konnten enorm Kohle machen, mussten dazu aber möglichst viele Arbeitskräfte an einen Ort bringen und ihnen möglichst wenig dafür bezahlen. Trotz der Trennung von der Sippe und der elenden Entlohnung erlagen Millionen dem Lockruf der Stadt, vor allen Dingen um dem bis in unsere Zeit hinein stets virulenten Risiko des Verhungerns – gerade auf dem Lande! – zu entgehen.

Der Lohn reichte freilich eher selten, die Familie mitzunehmen und zu ernähren.

So entstanden gigantische Siedlungen mit Bevölkerungszahlen weit jenseits der zehn Millionen, und wer immer von diesen Millionen auf die Strasse ging, der sah Fremde. Der sah nicht Onkel Romulus oder Vetter Remus, sondern irgendeinen muffigen Patron, den anzusprechen man sich nicht traute.

Blick auf Manhattan, Bildnachweis: Jerry Ferguson/wikimedia commons cc

Irgendjemand musste so eine Riesensiedlung allerdings mindestens verwalten, wenn nicht sogar regieren. Die Erfahrensten, Ältesten, Klügsten natürlich. Aber woran erkennt man die unter lauter Fremden? Steht ja nicht an ihnen angeschrieben!

Da greift man zu der eigentlich grotesken Vorstellung, alle Menschen seien gleich und jeder müsse die gleiche „Macht“ haben, mit anderen Worten: Jedem eine Stimme. Allgemeine, gleiche und geheime Wahlen. Das ist die Lösung!

Bis heute hat keiner eine bessere Idee gefunden als das Mehrheitsprinzip, und es ist auch keinem eine Methode eingefallen, wie man politische Kenntnisse beim Wähler messen und sie gegebenenfalls mit der Zuteilung zusätzlicher Stimmen belohnen könnte. Sowohl das Mehrheitsprinzip als auch One-man-one-vote sind zur Zeit state of the art, weil, ganz recht, Herr Churchill, noch keinem was Besseres eingefallen ist.

Bildnachweis: wikimedia commons

Nun versuchen wir mit aller Kraft und sogar mit militärischen Mitteln, zum Beispiel die Herrschaften in Afghanistan zur Vernunft zu bringen. Die mit ihrer albernen Loya Djirga! Da sitzen sie und sitzen, jeder darf reden, und sie diskutieren so lange, bis ein für jeden akzeptabler Kompromiss gefunden ist, der dann in die Tat umgesetzt wird. So was Blödes! In der Zeit, die die für ihre Debatten verplempern, bauen wir mindestens hundertfünfzig Qualitäts-Kampfpanzer.

In der Ratsversammlung hat zum Beispiel der Älteste dafür plädiert, eine Brücke über den nahegelegenen Fluss zu bauen, um schneller zu den Mohnfeldern auf der anderen Seite zu gelangen. Die örtliche Lehrerin ist dafür, weil die Kinder dabei viel Technisches lernen könnten. Der Arzt ist dafür, weil das Krankenhaus dann drei Stunden näher rücken würde. Eine ganze Menge von den jüngeren Männern ist allerdings strikt dagegen – sie müssten nämlich die Brücke bauen, für ganz wenig Geld. Sie sind dafür, den staatlichen Zuschuss auf den Kopf zu hauen und jetzt und hier sofort zu versaufen. Also mit Fruchtsaft natürlich, sind ja mehrheitlich Muslime.

Eine Abstimmung gewönnen sie spielend.

Artikulieren können sie sich allerdings nicht so besonders, da kommen sie mit dem Ältesten, der Lehrerin und dem Arzt nicht mit. Je länger die Diskussion dauert, desto mehr von den Unentschiedenen sprechen sich für die Brücke aus, und schliesslich sehen es auch die Jungen ein, nachdem man ihnen den doppelten Lohn und täglich ein Mittagsschnäpschen, halt, nein, einen Mittagsimbiss versprochen hat.

So ein Ergebnis kommt vor allem deshalb zustande, weil sich die Leute gegenseitig kennen. Sie wissen, was sie von wem zu erwarten haben, wer seine Versprechen einhalten wird und wer nicht, und können die Folgen ihres Votums weit besser überblicken als wir in unserer seltsamen Welt, in der wir nie Gelegenheit haben, mit sachkundigen Entscheidungsträgern ein uns direkt betreffendes Vorhaben auch nur zu diskutieren. Kein Wunder, dass sich Menschen aus solchen Systemen an den Kopf greifen, wenn sie unser Gemurkse sehen. Und völlig entgeistert sind, wenn wir ihnen einreden wollen, One-man-one-vote und das Mehrheitsprinzip seien nicht nur das allerschönste und beste, sondern auch und gerade moralisch zwingend geboten.

Allerdings kriegen sie natürlich dazu erklärt, dass man die wunderbaren Errungenschaften des Westens nur um den Preis einer Gesellschaft, in der keiner keinen kennt, kriegen kann. Andernfalls könne man nicht konkurrenzfähig produzieren. Ausserdem sei es in den grossen Städten ganz toll. Sie sollten nur mal nach Berlin kommen und den Reichstag und das Kanzleramt angucken, da würden sie sich nichts sehnlicher wünschen, als solche Herrlichkeiten auch in der Heimat bewundern zu dürfen. Aber dazu braucht man eine Menge Leute … siehe oben.

Naja, sagen die ausländischen Herrschaften, ganz so doll finden Eure Leute ihr anonymes Leben aber nun auch wieder nicht. Wie kommt es denn, dass sie kaum noch Kinder kriegen, die doch Ausdruck und Ergebnis von Lebensfreude und Vertrauen in die Zukunft sind? Und wieso kuscheln sich Milliarden Westler elektronisch an ihre Friends und lieben ihre Mobiltelefone?

Mark Zuckerberg, Gründer von Facebook, Bildnachweis: Elaine Chan und Priscilla Chan/wikimedia commons cc

Weil sie die Leute kennen wollen, denen sie begegnen. Und sei es auf dem Datenhighway.

 

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