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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei / 9


Erzählung in Briefen

© von Robert Straßheim

Neuntes Kapitel

11.6.

Lieber Markus,

Heute mussten wir nach dem Willen der Frauen die abgeschiedene Welt des Hotels verlassen, um in Cesme, jedoch etwa zehn Kilometer von hier entfernt, Dilas Geburtstag zu feiern: Dort hatte sie Tisch und Torte und hinzu Freunde aus Izmir bestellt. Nun, wir fuhren alle hin, und zum Glück hatte ich mein Buch dabei.

Wir postierten uns am Strassenrand – weder gibt es hier Bushaltestellen noch Fahrpläne –, und nach fünf Minuten kam ein Dolmus-Bus angebraust, der prompt neben uns hielt – zu früh, denn dummerweise fehlte Zelal noch; Dila rannte ins Hotel zurück, sie zu holen, während Zara den Busfahrer hinhielt, damit er wartete – es gab da einiges Hin- und Her-Gerede, bei dem auch Fahrgäste mitschimpften, aber immerhin blieb der Bus stehen; Dila kam mit Zelal zurückgerannt, in der Eile überquerten sie direkt die Strassenbaustelle zwischen Hotel und Bus, doch blieb Dila mit ihren Hochglanz-Stöckelschuhen im frischen Asphalt stecken: Der Lautstärkepegel der Leute im Bus stieg kräftig an, das Warten hatte sich für alle gelohnt! – Mit den teerigen Schuhen in der Hand stieg dann auch Dila ein und der Fahrer gab kräftig Gas.

Indes bremste uns die Baustelle bald wieder aus: Vollsperrung! Ein Schild wies auf eine Umleitung hin, der Busfahrer aber hielt an, kurbelte das Fenster herunter und rief einen Arbeiter an; nach einem kurzen Wortgefecht schob der Arbeiter das Gatter beiseite, und wir fuhren durch die Baustelle: die Nebenspur aufgerissen, Maschinen im Einsatz, Staubwolken überall, die Kinder begeistert am Fenster. Dann wieder ein Stopp: ein schwerer LKW vor uns blockierte auch den Rest der Fahrbahn, dazu Teergestank. Wieder schrie unser Busfahrer herum, immer mehr Bauarbeiter kamen heran, es wurde diskutiert, und schliesslich musste unser Fahrer klein beigeben: Mühsam fuhr der Bus rückwärts, und dann wütend in die Umleitung hinein.

Cesme ist eine süss-touristisch aufgepeppte Hafenstadt, deren Yachthafenbezirk an England erinnert – und mit diesem Eindruck erlosch jeder Reiz für mich. Wir sassen im Café, die Geburtstagstorte liess auf sich warten, die Kinder, schon unterwegs eingeschlafen, schliefen weiter in Buggy und Manduca – das Beste, was sie hier tun konnten -, und so durfte ich mich in meinen Vietnam-Schmöker zurückziehen.

Was nun aber keineswegs eine schöne Urlaubslektüre gewesen ist – stattdessen fühle ich mich dazu getrieben, einige Zeilen daraus abzuschreiben, um vielleicht noch zu begreifen, was ich da gelesen habe – ist das nicht auch in der Therapie so?

„Sieben Millionen Bomben, das Dreifache der Sprengkraft, die im Zweiten Weltkrieg auf alle betroffenen Gebiete zusammengenommen fiel, haben über 20 Millionen Bombenkrater hinterlassen und allein etwa 14.000 ha Anbauland zerstört, 1,5 Millionen Wasserbüffel wurden getötet. Im Norden haben die Bombardements von den sechs existierenden Industriezentren drei vollständig, die anderen teilweise zerstört, zwölf von 30 Provinzhauptstädten dem Erdboden gleichgemacht, die restlichen bis auf zwei schwer beschädigt, fünf Millionen qm Wohnfläche in Steinhäusern und Hundertausende von Strohhütten zerstört, sämtliche Eisenbahnlinien und das gesamte Strassennetz unbrauchbar gemacht, ebenso alle Meeres- und Flusshäfen und alle Stromkraftwerke. Durch Bomben und chemische Kampfstoffe wurde die Hälfte des gesamten Waldbestandes, wurden 40 % der bebaubaren Landfläche verseucht, weitere 43 % lagen brach und sind durch Erosion unfruchtbar geworden.

Vor allem der Einsatz von dioxinhaltigen Herbiziden wie Agent Orange, mit denen die Befreiungskämpfer des Schutzes der sie umgebenden Natur (Dschungel, aber auch Felder) beraubt werden sollten, hatte ungeahnte Folgen. Diese waren, wie sich später herausstellte, jedoch vorhersehbar gewesen – das entsprechende „Entlaubungsmittel“ war in den USA längst verboten worden. Dazu kam, dass die US-Regierung auf eine schnelle Produktion riesiger Mengen drang. Deshalb wurde der Produktionsprozess dadurch beschleunigt und vereinfacht, dass man den Gehalt an Dioxin erhöhte – und damit auch die für Menschen tödliche Wirkung. Dies war den Herstellern bekannt, sie beschlossen aber, die US-Regierung nicht eigens darauf hinzuweisen. Das Dioxin bewirkte, dass bei der vietnamesischen Bevölkerung und auch bei den diese Operation mit Namen „ranch hand“ durchführenden Soldaten Erkrankungen auftraten, die sich nicht auf die Generation der unmittelbar Betroffenen beschränkten. Somit war der Vietnamkrieg der erste Krieg in der Geschichte der Menschheit, dessen Auswirkungen sich über unabsehbar viele Generationen erstrecken – noch heute leben in Vietnam Hunderttausende Kinder mit Behinderungen und Missbildungen.

Darüber hinaus wurden etwa eine Millionen Tote ¹) und etwa 500.000 Kriegsversehrte im Süden, 800.000 Waisenkinder und über 10 Millionen durch Bomben oder mit Gewalt aus ihren Dörfern vertriebene Bauern (das ist fast die Hälfte der Einwohner Südvietnams) direkte menschliche Opfer des Krieges. Ausserdem hat dieser Krieg drei Millionen Arbeitslose, 500.000 Prostituierte und ebenso viele Drogensüchtige produziert: Dies sind nur einige aus den verschiedenen Bereichen herausgegriffene Zahlen, um ein Kriegserbe zu beschreiben, das eine Fülle materieller, moralischer und politischer Probleme aufwarf, von denen jedes einzelne für sich eine schwere Hypothek für den Aufbau darstellte.“  ²)

– Nein, lieber Markus, es hilft wenig, das Unfassbare nochmals in Worte zu fassen, es bleibt mir unfassbar. –

Nun, der Kellner brachte endlich die Geburtstagstorte, drei Wunderkerzen wurden entzündet, ich fuhr vor Funkenschlag und Rauch zurück und brachte auch die Kinder in Sicherheit, ass dann brav mein Stück pinkfarbener, überzuckerter Torte, und um einen Anflug von Übelkeit zu unterdrücken, guckte ich die fürsorgliche Dila an und in die fröhliche Gesellschaft. Ich gönnte es ihnen ja – ich gönne es ihnen allen -, und ich fragte mich, warum ich dieses Buch lese?

Ach, lieber Markus, so bin ich nun mal, und so kennst du mich.

Dir zuliebe will ich mal die positive, vorbildliche Seite hervorheben: Jahrzehntelang, insgesamt sogar etwa ein Jahrhundert lang verteidigten die vietnamesischen Freiheitskämpfer ihr Land und ihre Kultur gegen feindliche Eindringlinge, die ihnen brutale Diktaturen aufzwangen. Dass die Befreiungsarmee sich gegen die militärisch übermächtigen USA behaupten konnte, ist vor allem der Einigkeit und Solidarität des vietnamesischen Volkes zu verdanken.

Für einen solch aufopferungsvollen Einsatz für Freiheit und Selbstbestimmung empfinde ich tiefsten Respekt.

____________________________________________

¹) [Neuere Schätzungen gehen von 3 Millionen in ganz Vietnam aus.]

²) Günter Giesenfeld: Land der Reisfelder. Vietnam, Laos und Kambodscha. Geschichte und Gegenwart. 2013, Argument Verlag, S. 261f.

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /1o

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /1

→  s. a. “Urlaubsbrief aus der Türkei”

 

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