Starke Stücke im Schauspiel Frankfurt / 1
Starke Stücke im Schauspiel Frankfurt – Spielzeit 2010/2011
Teil I: Premieren aus der Spielzeit 2009/2010 (Auswahl)
Ödipus und Antigone
Bartsch, Kindermörder
Lulu
Das Weisse Album
Phädra
Von Renate Feyerbacher
Oliver Reese, Intendant des Schauspiel Frankfurt seit der Spielzeit 2009/2010, ist sehr schnell in dieser Stadt angekommen. Im Sturm eroberte er das Publikum, dem er sich ganz verpflichtet fühlt. Mitgebracht, zum Teil aus Berlin, wo er bis zum Aufbruch nach Frankfurt Intendant des renommierten Deutschen Theaters war, hat er bedeutende Schauspielerinnen und Schauspieler.
Oliver Reese (im September 2009), Foto: Renate Feyerbacher
Ein aktueller Blick auf die Monatsspielpläne zeigt rote Fähnchen, die bei vielen Stücken ein „Ausverkauft“ signalisieren.
Ödipus und Antigone
Begonnen hat es im Oktober 2009 mit dem Doppelpack der Sophokles-Stücke.
Der Oberkörper von Ödipus ist nackt, sein Gesicht ist mit einer Maske verdeckt, die aus einer künstlerisch gestalteten Papiertüte besteht, so schreitet Ödipus langsam, sich aus der Gruppe des Chors lösend, zur Mitte der Bühne. Der Oberkörper ist gekrümmt, eine Haltung, die lange anhält. Holzschnittartig sind die Bewegungen, manchmal wie eingefroren. Eigenwillig die Führung der Hand. Die Füsse stehen auf Kothurnen, die aus Holzblöcken mit Riemen bestehen. Das klappernde Geräusch beim langsamen Schreiten wirkt bedrohlich, lässt Böses erahnen. Starr sein Gesicht, das nur kurz sichtbar wird, als er die Maske nach hinten stülpt. Dargestellt wird dieser Ödipus von Marc Oliver Schulz – eindringlich.
ÖDIPUS, Regie Michael Thalheimer; Marc Oliver Schulze (Ödipus), Constanze Becker (Iokaste), © Sebastian Hoppe
Eindrucksvoll dieser Beginn, der im Theater von Epidaurus hätte sein können, aber im Schauspiel Frankfurt stattfindet. Diese archaische und doch moderne Interpretation von Regisseur Michael Thalheimer durchzieht konstant den „Ödipus“ von Sophokles (496/497 bis 406).
Constanze Becker, die in „Ödipus“ Iokaste zurückgenommen spielte – aus der Rolle wäre mehr zu machen – gibt alles als Antigone. Nun wird offenbar, welches Potential in der Schauspielerin steckt, die Intendant Oliver Reese, wie übrigens auch den Regisseur Michael Thalheimer, vom Deutschen Theater Berlin mitbrachte. Constanze Becker wurde 2008 von „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Grossartig spielt sie auf der schauspielerischen Klaviatur zwischen Trotz und Menschlichkeit. Das Ende ist blutig: Nicht nur das Leben von Antigone zerstört Kreon, sondern sein eigenes und das seiner Familie. Übersteigerte Selbstzerstörung auch hier wie bei Ödipus.
ANTIGONE, Regie Michael Thalheimer; Marc Oliver Schulze (Kreon), Constanze Becker (Antigone), © Sebastian Hoppe
Am 4. Februar gibt es Gelegenheit, diese Aufführung im Grossen Haus zu sehen.
Bartsch, Kindermörder
400 Briefe wechselte Jürgen Bartsch, die „Bestie von Langenburg“, wie ihn die Presse nannte, mit dem in Deutschland lebenden amerikanischen Journalisten Paul Moor. Er veröffentlichte 1972 das Buch „Das Selbstportrait des Jürgen Bartsch“. Oliver Reese hat daraus bereits 1992 einen Bühnenmonolog mit Briefausschnitten entwickelt, der in Ulm uraufgeführt und von dem Schauspieler Thomas Schmidt gespielt wurde. Mit dieser Uraufführungsbesetzung ist das Mono-Drama am 16. Januar wieder in den Kammerspielen zu sehen.
Die Prozesse gegen Jürgen Bartsch, der mit 15 Jahren erstmals ein Kind sexuell attackierte und quälte und in den Jahren von 1962 bis 1966 vier Kinder bzw. Heranwachsende tötete, beschäftigte die Gesellschaft damals in üblicher Prozessgeilheit. Als „der zweitschlimmste Verbrecher des Jahrhunderts“ stufte ihn die Bevölkerung ein – vor Himmler, vor Eichmann, vor Stalin.
Das Stück hat durch die Missbrauchenthüllungen an Aktualität gewonnen.
Jürgen Bartsch war ein uneheliches Kind. Die Mutter starb kurz nach der Geburt. Die Adoptiveltern trimmten ihn auf Sauberkeit und Gefügigkeit. Im katholischen Internat erfuhr er Demütigungen und Prügel durch Mitschüler und sexuellen Missbrauch durch Erzieher.
Älter geworden, behandelte er die kleineren Jungen so, wie man ihn behandelt hatte.
Er demütigte, bedrohte, vernichtete die Würde der Jungen, so wie es ihm geschehen war, und spiegelte und weidete sich an deren Not.
Thomas Schmidt, im feinen Anzug, manchmal leicht spöttisch oder auch zynisch, berichtet von verkorkster Kindheit und Jugend, von den Greueltaten. Um Differenzierung ist das Stück bemüht. Das Bild vom menschlichen Mörder kommt nicht auf, wohl aber der Wunsch nach Auseinandersetzung mit Jürgen Bartsch, der 1976 bei dem Versuch, ihn zu kastrieren, starb. Das Narkosemittel war überdosiert.
Ein faszinierender Abend.
Lulu
„Sie will geliebt, von den Männern begehrt sein, erst dann lebt sie, geniesst sie. Sie lässt sich nicht beherrschen. Sie zerstört, ohne es zu wollen. Ihr Verhalten ist „ein Selbstrettungsversuch, sich in der Gesellschaft zu behaupten“ (Programmheft). „Dabei geht sie brachial vor, versucht, sich gegen die Begierde der Männer zu wehren, die sie zum Objekt machen und nach und nach zerstören. Sie wird verführt und sie verführt. Unschuldig schuldig ist sie. Nie bekommt Lulu die Chance, ein eigenes Leben zu führen.“
„Lulu“ ist die Geschichte einer Kindfrau, einer Muse, eines Strassenmädchens, eines Opfers ihres Vaters, der sie zur Hure machte. Das Thema ist Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelt, aber immer noch aktuell. Die publik gewordenen Verführungen Minderjähriger in heutigen Internaten erzwingen einen anderen Blick auf Lulu.
Die Figur der Lulu hat Frank Wedekind (1864 bis 1918) in verschiedenen Versionen beschäftigt. Die erste Fassung eines Lulu-Schauspiels lag bereits 1894 vor. Er nannte Lulu „ein Prachtexemplar von Weib, wie es entsteht, wenn ein von der Natur reich begabtes Geschöpf … in einer Umgebung von Männern, denen es an Mutterwitz weit überlegen ist, zur schrankenlosen Entfaltung gelangt“ (zitiert nach Knaurs Schauspielführer von 1957). Der Schriftsteller und Schauspieler Wedekind stemmt sich gegen das heuchlerische Sexualverhalten der Gesellschaft. Seine Liebe gilt den eindeutigen Gestalten, deren Triebausbrüchen und Leidenschaften. „Der Schwanz ist der Lebenszweck. Der Kopf ist der Tröster des Schwanzes“, schreibt er in seinem Tagebuch.
LULU Regie Stephan Kimmig; Michael Goldberg (Eduard Schwarz), Kathleen Morgeneyer (Lulu), © Sebastian Hoppe
Damals, 1904, als im Intimen Theater in Nürnberg die Uraufführung der „Büchse der Pandora“, so hatte er das Stück zunächst genannt, uraufgeführt wurde, kam es zum Skandal, einem der grössten der Theatergeschichte. Die juristischen Verhandlungen im Laufe der Jahre endeten stets mit Freispruch. Durchsetzen konnte sich das Stück aber erst 1918, nach Aufhebung der Zensur. Erst in unserer Zeit, vor etwa zwanzig Jahren, als Teil I „Die Büchse der Pandora“ und Teil II „Erdgeist“ zu einem Lulu-Projekt zusammengefasst wurden, konnte eine Neuentdeckung gefeiert werden.
Es war die Urfassung, die Theatermacher Peter Zadek damals inszenierte.
Diese Fassung hat der mehrfach ausgezeichnete Regisseur Stephan Kimmig auch für Frankfurt auf die Bühne gebracht. Er sieht Lulu als „Lust- und Angstbild“ für die Männer. Die Besetzung dieser Rolle mit der Schauspielerin Kathleen Morgeneyer überrascht zunächst, erscheint sie doch äusserlich keinerlei Verführungsreiz-Talent zu haben. Die Stimme hat manchmal so etwas wie Sprechgesang, etwas Larmoyantes – als Lulu kaum vorstellbar.
Zunächst züchtig im strengen Business-Kostüm kurz auftretend, entwickelt sie schnell eine unglaubliche Frechheit, Respektlosigkeit, Schamlosigkeit, Dreistigkeit, die man bisher bei Kathleen Morgeneyer nicht sah und vielleicht auch nicht erwartete. Schon bald lässt sie die Hüllen fallen, ist nur bekleidet mit einem lila Höschen und vielen Goldketten, um auch diese später komplett abzulegen. Auf dem Boden liegend, fährt sie Dr. Goll mit dem Fuss ans Glied. Sie ist keine femme fatale, sondern eine unverschämte, liebestolle Kindfrau, raffiniert, witzig, den Männern überlegen, die ihre Nacktheit, vor der sie sich, wie sich die Schauspielerin äusserte, fürchtete, geschickt einsetzt. Ihr elfenhafter, zarter Körper lässt den Zuschauer – nicht alle natürlich, wie zu hören ist – das verkraften. Sie umgarnt, sie lockt, sie poltert, sie tanzt, nicht unbedingt verführerisch, sondern ausgelassen, etwas ungelenk. Jack, the Ripper, wird ihr Mörder sein.
LULU Regie Stephan Kimmig; Till Weinheimer (Dr. Franz Schöning), Kathleen Morgeneyer (Lulu), Michael Goldberg (Eduard Schwarz), © Sebastian Hoppe
Kathleen Morgeneyer hatte „Angst“ und wusste nicht, was diese Wahnsinnsrolle mit ihr macht. Seit der Spielzeit unter Intendant Oliver Reese gehört sie zum Frankfurter Ensemble. In „Die Möwe“ von Anton Tschechow (Berliner Gastspiel Oktober 2009 in Frankfurt), der einmaligen Inszenierung des mittlerweile verstorbenen Regisseurs Jürgen Gosch, spielt sie die Nina. Für diese Rolle erhielt sie den Alfred-Kerr-Preis 2009. Jutta Lampe, die einzige Jurorin des Preises, eine der grossen Schauspielerinnen, die seit Jahrzehnten auf der Bühne steht und im Film spielt, Star weltberühmter Regisseure war und noch immer ist, sagte in der Laudatio über Kathleen Morgeneyer: „Sie spielt nicht, nein, sie lebt auf der Bühne“.
Davon konnte sich das Publikum in Frankfurt schon in den „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow und „Mutter Courage und ihre Kinder“ von Bertold Brecht überzeugen. Als Katrin, die stumme Tochter der Mutter Courage, ist sie der Höhepunkt der ansonsten nicht überzeugenden Inszenierung. Sie spielt Irina, die jüngste der „Drei Schwestern“, in einer beeindruckenden Inszenierung.
„Lulu“ steht am 13. Februar 2011 auf dem Spielplan im Grossen Haus.
Das Weisse Album
Am 14. Januar ist dieser aussergewöhnliche Theaterabend zu erleben. Er begeistert nicht nur Beatle-Fans und zeigt die vielfältigen Talente des Frankfurter Teams.
1968 begaben sich die vier Pilzköpfe mit Ehefrauen in den Ashram von Guru Maharishi Mahesh Yogi und blieben einige Wochen. 40 Songs entstanden, die nicht alle auf das „White Album“ passten. Das Jahr 1968 war auch der Anfang vom Ende der legendären Popgruppe.
Roland Schimmelpfennig, einer der viel gespielten Dramatiker der Gegenwart, hat 30 Songs ins Deutsche übertragen, und Florian Fiedler hat den Abend in Szene gesetzt. Grosse Schau mit Live-Orchester. Aus den vier Beatles sind drei plus zwei weibliche Beatles geworden. (Rückblick: Ringo Starr verliess zeitweilig das Aufnahmestudio, weil Yoko Ono, John Lennons Freundin und spätere Ehefrau, mitsang.)
DAS WEISSE ALBUM Regie Florian Fiedler; Ensemble, © Katrin Ribbe
Mit dabei Marc Oliver Schulz, der als wuchtiger Ödipus / Kreon im Sophokles erlebt wird, Christoph Pütthoff („Karaoke mit Pütti“ in der Panorama-Bar) auch unglaublich tanzend, Torben Kessler, Nadja Petri, Nele Rosetz: sie bescheren einen wunderbaren szenischen Konzert-Abend.
Phädra
Und immer wieder Klassiker. Diesmal „Phädra“ des französischen Dichters Jean Racine (1639 bis 1699), der nach dem Tod der Eltern zunächst bei den Grosseltern, dann im Kloster Port Royal unweit von Versailles, dann in Paris eine wegweisende Ausbildung erhält. Sie kommt ihm später am Hofe von König Ludwig XIV. (1638 bis 1715) zugute. Molière, mit dem er sich später entzweite, förderte ihn. In den Jahren 1664 bis 1677 schrieb er zehn Bühnenstücke. Dann ernannte ihn der König zum Chronisten, was bedeutete, dass er in allen kriegerischen Auseinandersetzungen mit ihm unterwegs war. Und das zehn Jahre lang.
„Phädra“ ist Racines bedeutendste Tragödie.
Liebesleidenschaft ist an sich nicht strafbar, aber wenn krankhafte Eifersucht und Lügen, die andere vernichten, und Götterwille hinzukommen, dann wird sie zur Schuld. Phädra, Gemahlin von Theseus, liebt ihren Stiefsohn Hippolytos. Als die Nachricht eintrifft, Theseus sei tot, gesteht sie dem jungen Mann ihre Liebe. Er ist entsetzt. Aber dann kehrt Theseus nach langer Abwesenheit von Athen doch zurück. Phädra beschuldigt Hippolytos des versuchten Inzests. Der Vater verflucht ihn. Der Fluch nimmt dem Sohn das Leben. Phädra erkennt und bekennt ihre Schuld und richtet sich selbst.
PHÄDRA Regie Oliver Reese; Stephanie Eidt (Phädra), © Sebastian Hoppe
Kloster Port Royal, in dem Racine seine erste und entscheidende Bildung erhielt, war eine Hochburg der Jansenisten, benannt nach Bischof Cornelius Jansenius. Er bekannte sich zur Augustinus-Lehre, die auf dem Götterwillen allein basiert. Die Jesuiten, ihre Gegner, berufen sich dagegen auf die Fähigkeit des Menschen, mit Gottes Willen gute Werke zu vollbringen. Aus dieser Schule gingen ausser Racine der Mathematiker Blaise Pascal und andere berühmte Franzosen hervor.
Der Wissenschaftler und mittlerweile emeritierte Professor Jean Firges, der 2008 „Phèdre“. Die Dämonie der Liebe“ schrieb, ist der Ansicht, dass die jansenistische Weltanschauung die Liebe negativ darstellt. Sie führe als Triebkraft einer verderbten menschlichen Natur den Menschen in den Abgrund. Jansenitisch-christliche und antike Weltanschauungen klingen in Racines Tragödie an. Dennoch ist „die griechische Götterwelt mit dem christlichen Gott nicht gleichzusetzen. Phèdres Selbstmord als Sühne widerspricht christlichem Denken“, schreibt Werner Frick im Programmheft.
Felix von Manteuffel zündet an der Rampe eine Kerzenreihe an. Die Kupfer-Wand, die die Bühne der Kammerspiele auf einen schmalen Steg verkleinert, zeigt den warmen Farbton de Metalls. Die Schauspielerinnen und Schauspieler zwängen sich einzeln durch den Spalt, den die Wand preisgibt. Die Nähe zum Publikum ermöglicht die Konzentration auf die Sprache. Ein Kammerspiel der Emotionen, die direkt überspringen.
PHÄDRA Regie Oliver Reese; Stephanie Eidt (Phädra), Christoph Pütthoff (Hippolytos), © Sebastian Hoppe
Arrogant und rasend tritt Phädra auf mit grosser Sonnenbrille, mit Cape und mit bronzenfarbenem, rückenfreiem Abendkleid. Sie beherrscht die Szene. Stephanie Eidt spielt die Liebestolle, die durch Verleumdungen rasant ihrem Untergang zustrebt, überzeugend, eindringlich. Eine aussergewöhnliche Schauspielerin, die in „Drei Schwestern“ die besonne Olga und in Rainer Werner Fassbinders „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ die Titelfigur spielt. Es ist die Geschichte eines untergehenden Stars. Sie ist der Lebensgeschichte des UFA-Stars Sybille Schmitz, die sich nach dem Kriege nicht mehr zurechtfindet, nachempfunden. (mehr in Teil II).
„Phädra“ ist die erste Regiearbeit Oliver Reeses in Frankfurt. Ihn interessieren Menschen mit radikalen, aussergewöhnlichen Geschichten. Seine Inszenierung macht aus dem über 300 Jahre alten Klassiker ein Stück für die Jetztzeit. Das Thema ist zeitlos.
Am 31. Januar, 14. und 21. Februar und am 2.März 2011 in den Kammerspielen.