Pisa von innen / 17
Pisa von innen
Eine authentische Erzählung
von © Salias I.
Zweiter Teil (17)
20.5.8
Der G wird vorstellig: Seine Mutter habe einen Termin mit Herrn P verabredet, morgen um 13.00. Ob ich denn dazu kommen würde? – Das passt mir, ja, sage ich.
Eine halbe Stunde geht damit verloren, zu klären, wer referiert, und dann eröffnet mir O, der Referent, dass er eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet habe, also muss ich ein Notebook besorgen, laufe durch das Haus, komme mit einem Toshiba, mit dem drei Schüler lange herumprobieren, als ich mal über die Schultern schaue, haben sie das Boot-Menü. Lassen Sie das, sage ich, wenn es nicht bootet, hole ich ein anderes, das hier ist wohl kaputt. „Kann ich das mitnehmen“ fragt der A. Nein, sage ich, der A beharrt: Das sei doch kaputt, und so könne ich ihm das ja schenken. Nein, sage ich, das gehört der Stadt. „Und wenn es plötzlich weg ist, dann können Sie doch ein Auge zudrücken!“ – „Nein, das wäre Diebstahl, den ich verfolgen müsste.“
Eine Viertelstunde später bemerke ich, dass von dem Toshiba nur noch das Netzteil übrig ist.
„Herr A, wo haben Sie das kaputte Notebook gelassen?“ – „Ich habe es nicht, Sie können meine Tasche durchsuchen“, empört sich A, weil ich ihn verdächtige.
Ich veranlasse eine allgemeine Suchaktion in der Klasse: Keiner kommt raus, bevor der Toshiba wieder da ist.
Prompt taucht der Toshiba auf, der K reicht ihn mir: Das Gerät sei hinter der Bank vom N gefunden worden.
Der N, der vorne damit beschäftigt gewesen ist, das neue Notebook einzurichten, fährt auf: Das sei eine Sauerei, ihm das unterzuschieben, damit er des Diebstahls verdächtigt wird! Das wären andere gewesen!
K und A und andere weisen diesen Vorwurf zurück, der N fängt an zu streiten, aber ich beruhige ihn, dass ich niemanden verdächtigen würde, denn zu einem Diebstahl sei es ja gar nicht gekommen.
Indes hat O herausgefunden, dass er die PPP-Datei von seinem Stick aus nicht öffnen kann. Ich frage ihn, welche Version er habe? Powerpoint 2008, sagt er, und ich nehme an, dass er 2007 meint und erkläre, dass wir dann die Präsentation vergessen können, weil wir auf den Notebooks der Schule allenfalls mal Office 2003 haben. Ob er denn die Datei nicht an einem PC konvertieren könnte? – Nein, was denken Sie denn, in den PC-Räumen fahren wir noch Office 2000.
Die Schüler glauben das nicht; sie wollen es versuchen, und da ich weiß, dass mit ihnen nichts anzufangen ist, wenn sie nicht ihren Willen bekommen, erlaube ich, dass sie die EDV-Räume der Schule abklappern, um ihre Datei zu konvertieren.
Wer will sonst noch referieren? Der T meldet sich: Er habe das Leben Atatürks.
„Nein, Sie sollten ein anderes Thema referieren“, sage ich und schaue in der Liste nach, wo der Schüler unterschrieben hat. „Hier, Herr T, Sie haben das Thema ‚Atatürks Staat – Demokratie oder Diktatur?’“
„Aber ich habe das Leben Atatürks vorbereitet, kann ich das nicht machen?“
„Das können Sie, aber dann verfehlen Sie das Thema. Aber Sie können es ja anpassen.“
Ich lasse T‘s Widerworte beiseite und suche in der Referatsliste, wer sonst noch an der Reihe sei. Da finde ich den N. Herr N, rufe ich, sind Sie bereit?
„Was denn, Sie haben mir doch noch gar kein Material gegeben!“
„Ich hatte Ihnen schon zweimal gesagt, dass Sie von mir Material bekommen können, wenn Sie nach der Stunde mit mir kommen, damit wir es heraussuchen.“
„Ich bin noch gar nicht dran. Sie können mir heute das Material geben.“
„Hier schauen Sie, hier steht Ihr Termin: 20.5.08“
„Das stimmt nicht, ich habe einen späteren Termin.“
„Herr N, Sie haben es hier selber unterschrieben, dass das ihr Termin ist. Es ist beurkundet.“
„Das ist doch eine Sauerei! Sie haben mir nichts gegeben und jetzt soll ich referieren! Das können Sie vergessen!“
„Was kann ich dafür, wenn Sie nach der Stunde abhauen, anstatt sich um Ihr Material zu kümmern. Ich laufe Ihnen doch nicht hinterher!“
„Sie müssen mir einen neuen Termin geben.“
Usw., usw …
Der O kehrt zurück, natürlich erfolglos, also muss sein Referat verschoben werden.
„Los, Herr T referieren Sie, wir haben sonst keine Termine mehr frei; es wird schon besser werden als eine Sechs!“
T spult nun das Leben Atatürks ab: So ein großer Mann, die Militärschule hat ihm gut getan, und dann hat er die Türkei vor allen Feinden gerettet!
„Wer waren denn die Feinde?“
„Das war doch Hitler.“
„Falsch, Herr T.“
„Ach nein, Atatürk war mit Hitler verbündet.“
„Nein, Herr T, Sie verwechseln den ersten mit dem zweiten Weltkrieg.“ … Naja, denke ich, der T bricht hier an einem Nebenschauplatz ein, und so stelle ich ihm wichtigere Fragen: „Was war gut an Atatürks Reformen, was war schlecht?“
T zählt zwei Errungenschaften Atatürks auf, Alphabetisierung und Frauenrechte, aber den Begriff Laiszismus kennt er nicht, ich erkläre es…
„So, Herr T, jetzt kommen Sie bitte zur Kritik!“
„Wie, Kritik?“
„Was ist an Atatürks Staat zu kritisieren?“
„Wieso kritisieren?“ T ist ein stolzer Türke. „An Atatürk gibt es nichts zu kritisieren.“
„Wenn Sie in türkischen Schulen etwas kritisieren, werden Sie bestraft. Aber in Deutschland leben wir in einer Demokratie, und die Demokratie lebt davon, dass Sie sich eine kritische Meinung bilden. Wenn Sie hier nichts kritisieren können, kriegen Sie eine schlechte Note.“
Nun helfen wir alle dem T nach, damit er die Kritik schafft. Der K stößt das Thema christliche Minderheiten an, der T weiß auch manches, und nach und nach kommt eine Diskussion in Gang, ob Atatürk rassistisch war, und ich bringe noch die ethnischen Minderheiten ins Spiel, muss den Begriff erklären; führe Kurden, Armenier, Tscherkessen an, plötzlich diskutieren die Schüler; ohne es zu wollen, könnte es sein, dass der eine oder andere etwas lernt …
Nach der Stunde bleibt der N zurück: Der A, der K und der T hätten sich verbündet, würden die anderen unterdrücken, und jetzt hätten sie versucht, das Notebook zu klauen, es ihm untergeschoben, damit er die Schuld bekäme; er würde sich das nicht gefallen lassen, wenn ich nichts dagegen unternehme, würde er es auf seine Art regeln! – „Was meinst du damit?“ – „Ich geb’s denen in die Fresse!“ Davon rate ich ihm ab und verspreche, es demnächst im Unterricht anzusprechen.
Auf dem Schulhof begegnet mir der Kollege V, und weil ich ein paar Minuten Zeit habe, spreche ich ihn an, was denn meine Klasse bei ihm mache?
Koll. V berichtet von Gesprächen mit den Schülern, die er betreut: Die hätten angedeutet, dass die Clique um den K ein Syndikat gegründet hätte, das die Mitschüler mit Schlägen bedroht, um sie gefügig zu halten: So bräuchten die Syndikats-Mitglieder keine Schulsachen mitzubringen, denn die anderen müssten sie mit Stiften, Blöcken und Schreibpapier versorgen.
Da gehe ich doch gleich zum Kollegen P, erzähle ihm alles und wir verabreden seinen Besuch in der Klasse. Was aber sollte er dort sagen? Sollte er das Syndikat ansprechen und intervenieren? Auf keinen Fall, der Kollege V hat geraten, unser Wissen über das Syndikat zu verschweigen, um unsere Informanten zu schützen, die eine Abreibung bekämen, wenn es herauskäme …
Unterdessen höre ich von der Kollegin A eine schöne Lehrerzimmergeschichte über meine Klasse: Sie ließ dort eine Englischarbeit schreiben, und eine ihrer Aufgaben kam ganz unerwartet gut an, nämlich:
Es ging um die Steigerung der Adjektive. Der erste Satz war vorgegeben:
„Whitney Houston is good.“
Weitere Sätze waren zu vervollständigen:
a) Diana Ross is__________________ (Lösung: better than W.H.)
b) Tina Turner is ________________(Lösung: the best of the three)
Diese Aufgabe war aus einer Grammatik entnommen und wohl nicht mehr zeitgemäß; jedenfalls fingen die Schüler bei dem Namen „Whitney Houston“ laut an zu singen:
I will always love you … mit schön lang gezogenem „I“ (klingt in etwa: „A—iei“).
Der Affekt sei unaufhaltsam gewesen: Nachdem K angefangen hatte zu singen, hielt ein anderer mit einem anderen Lied dagegen, und immer wieder summten und sangen die Schüler vor sich hin.
O sind sie nicht süß!
21.5.8
Der Kollege P begleitet mich in meine Klasse. Ich führe erstmal die Anwesenheitsliste: Der K ist krank gemeldet, auch manch andere aus der Metall-Berufsgruppe fehlen, was kein Wunder ist, da sie heute eine Klassenarbeit schreiben sollten. Von der Holzgruppe habe ich keine Anwesenheitslisten, weil der Kollege die Akte nicht rechtzeitig übergeben hat.
„Jaja, so entstehen Fehltage“, giftet der R.
„Herr R, ich habe keine Liste von der Holzgruppe hier. Das ist natürlich ein Fehler, aber zu wessen Gunsten?“
„Diese Schule macht doch nur Fehler. Und wir müssen es ausbaden!“
„Habe ich heute irgendeinen aus der Holzgruppe als fehlend eingetragen? Ohne Liste?“
„Jaja, dann tragen Sie das später nach und machen die Fehler, wenn wir es nicht mehr richtig stellen können.“
„Herr R, reden Sie keinen Unsinn. Wer jetzt fehlt, hat eben Glück, dass er nicht erfasst wird.“
Nun übergebe ich dem Kollegen P das Wort.
„Jetzt habe ich schon so einen Hals“, eröffnet der Abteilungsleiter P. „Wenn ich nämlich sehe, wie viele Tische hier vorne frei sind, wie viele Schüler hier sitzen könnten, aber Sie drängen sich da hinten auf der Eselsbank!“
Fünf „Esel“ sitzen in der letzten Reihe, darunter der A und der G. Warum sollten sie sich auch so gefährlich nach vorne setzen? Da hätten sie ja viel bessere Chancen, etwas zu lernen! Von hinten ist das Schussfeld besser – aber das wagen sie nicht zu sagen.
Lang und breit redet Kollege P über Arbeitsmoral und über die Möglichkeiten, die die Schüler jeden Tag verstreichen lassen. Da meldet sich O und fragt ihn um Rat: Wie er denn dafür sorgen könnte, dass er die Klasse 10 wiederholen kann? „Dann müssen Sie sitzen bleiben. Eine freiwillige Wiederholung ist nicht möglich. Aber warum wollen Sie wiederholen?“ – „Weil ich mich mit so einem schlechten Zeugnis nicht bewerben kann. Wie kann ich denn sitzen bleiben?“ – „Sie brauchen mindestens eine Fünf …“ – „Ich habe eine Sechs in Sport. Tut die es auch?“…
Gibt es denn auch Schüler, die versetzt werden wollen?
Jaja, fast alle wollen es schaffen.
Und was tun Sie dafür? Kollege P inspiziert, was die Schüler mitbringen: Der A hat gar nichts dabei und muss sich fragen lassen, was er denn hier will?
Der B hat eine Sonnenbrille und einen iPod vor sich liegen. „Was denke ich mir, wenn ich sehe, dass einer diese Dinge dabei hat: Sonnenbrille, iPod, und seine Kappe auf? Denke ich, dass der etwas lernen will? Oder denke ich, dass er sich einen schönen Tag machen will? Also, wenn Sie am Lernen nicht interessiert sind, wenn die Schule so schrecklich ist für Sie und Sie lieber etwas anderes machen wollen, dann reden Sie doch mal mit Ihren Eltern, dass sie Ihnen so einen kleinen Zettel schreiben, der das Problem für Sie löst, nämlich die Abmeldung von dieser Schule.“ Usw. usf.
Ob es denn jetzt einen von den Hinterbänklern gäbe, der sich freiwillig nach vorne setzt? Der A folgt. Die anderen vier bleiben störrisch. Sie behaupten, dass sie auch von dort aus lernen könnten.
„Und warum gab es letzten Mittwoch so ein Chaos bei Ihnen?“ frage ich. „Warum musste ich so hart durchgreifen, um eine Arbeitsatmosphäre für den Test durchzusetzen?“
Damit habe ich nun das Stichwort gegeben für den G und den D, die sich bitterlich beim Abteilungsleiter über mich beschweren:
„Der Herr I hat mir den Test abgenommen, obwohl ich doch nur gefragt habe, weil eine Aufgabe unklar war.“
„Der Herr I hat mir berichtet, dass es vorher verabredet wurde, dass keiner mehr etwas sagen darf, und wenn er etwas sagt, dass das als Täuschungsversuch angesehen wird.“
„Aber ich hatte mich doch gemeldet!“
„Ja, und sind Sie denn auch drangekommen?“
„Ich habe mich gemeldet und gefragt, was die eine Aufgabe bedeutet.“
„Hat der Herr I Sie denn drangenommen?“
„Nein. Aber er hat ja gehört, was ich gefragt habe.“
Geduldig erklärt Kollege P die Regel, die die Schüler seit fast zehn Jahren kennen sollten, dass, wenn man sich meldet, warten muss, bis man drankommt…
Nach und nach löst sich die Eselsbank auf.
Gegen zwölf Uhr kommen zwei Schüler hereinspaziert, der N und der K3.
„Wo kommen Sie denn her?“ frage ich sie.
N übergibt mir ein Attest und erklärt, dass er mit Schmerzen in der Schulter aufgewacht war…
Und Sie, Herr K3?
„Ich bin heute krank, und ich wollte mal vorbeikommen, die Entschuldigung abgeben.“
„So, dann geben Sie mir mal Ihre Entschuldigung!“
„Die habe ich vergessen.“
„Sie wollten die Entschuldigung vorbeibringen und haben sie vergessen. Wozu kommen Sie dann?“
„Naja, ich wollte mal den N begleiten.“
„Soso, Sie sagen, Sie wären krank und kommen nur, um einen Kameraden in die Schule zu begleiten. Dabei sehen Sie gar nicht krank aus. Ja, da bin ich aber froh, dass der Herr P hier ist, wenn ich ihm so etwas erzählen würde, glaubt mir das doch keiner!“
K3 steht grinsend vor uns.
Koll. P kann sich nicht mehr halten: „Sie denken wohl, jetzt könnten Sie mal eben in den Unterricht kommen und den aufmischen? Da haben Sie sich geirrt. Sie gehen jetzt nach Hause!“
„Warum denn das?“
“Für heute haben Sie das Recht verwirkt, am Unterricht teilzunehmen. Kommen Sie am Montag mit der Entschuldigung wieder!“
K3 zieht wieder ab, der Kollege P verlässt die Klasse, die nun von Eseln bereinigt ist. Für wie lange?
Kaum dass der Kollege P fort ist, steht der A von seinem Platz vorne auf, macht sich auf den Weg zurück zur „Eselsbank“; macht dann kehrt: Nur ein kleiner Spaß!
R wird wieder frech, ich habe mir nicht behalten, mit welchen Dummheiten er sich brüstet; ich ermahne ihn, der J verteidigt R, ich lege mich mit dem J an, er solle den Mund halten, wenn er nicht dran ist, aber J gibt Widerworte, so dass ich auch ihn mit Rausschmiss bedrohe, aber J gibt grundsätzlich freche Bemerkungen zurück. „Ja, der J muss immer das letzte Wort behalten, auch wenn es ihm den Hals umdreht“ – „So ist es“, bestätigt J, und wir sind uns einig.
Nun führe ich die Klasse zur Arbeit, zunächst biete ich an, dass jeder den misslungenen Test von der letzten Woche wiederholen darf, und dass dann die beste Note zählt – es gab nur Fünfen und Sechsen. Also, in den letzten zehn Minuten freiwillige Wiederholung.
Dann wollen wir in zwei Wochen die Deutscharbeit schreiben … – „Von Wollen kann keine Rede sein“, schallt es mir entgegen! – „Doch, doch wollten Sie das. Ich wollte die Arbeit eigentlich schon nächste Woche schreiben, und Sie wollten sie verschieben, und ich habe Ihnen nachgegeben! Also, wir sollten üben!“ – Der B beschwert sich, dass die Übung zu schwer sei usw. usw …
Welche Gruppe kann ihre Ergebnisse vortragen?
B meldet, dass der K, der alles protokolliert hätte, nicht da ist; sie könnten nichts vortragen. Sofort fallen andere Schüler ein mit Ausfallmeldungen. Ich schreie ihnen entgegen, dass mich ihre Ausreden nicht interessierten, dass sie wohl nicht begriffen hätten, dass jeder für sich selbst Verantwortung trägt, etwas zu lernen. Der R gibt wieder freche Widerworte, ich schicke ihn nach Hause, und R entfernt sich mit Geschimpfe, und schließlich: „So einen idiotischen Lehrer habe ich noch nie erlebt.“
Als R draußen ist, erkläre ich, dass wir den R nicht mehr abmahnen, weil er sowieso bald ausgeschult wird: Er hat die Zehn schon wiederholt, und ein zweites Mal wiederholen kann er nicht.
Jetzt geht es etwas besser. Ich rufe die Gruppen nacheinander auf, jede hat einen Grund, warum sie nichts vortragen kann, ja sie setzen mich matt mit dem Argument, sie hätten in der letzten Stunde ihre Blätter mit den Arbeitsergebnissen bei mir abgegeben! – Ich kann mich nicht daran erinnern, suche in meinen Unterlagen, da ist nichts, es könnte noch zu Hause sein bei dem misslungenen Test. Ich bin eben zu unordentlich.
So fange ich alles anders an. Ich peitsche einen strengen Frontalunterricht durch, für eine Viertelstunde, dann wird der Test wiederholt, und Schluss.
Die Frau G erwartet mich, ich lege ihr den Sachverhalt dar, und sie ist damit zufrieden, dass G seinen Test wiederholen konnte.
Befreit radle ich nach Hause, dehne mich aus in das verlängerte Wochenende und in einen ersten Mittags-Nachmittagsschlaf.
Mit frischen Kräften setze ich mich an den PC, recherchiere Prüfungsstoff und verbringe all die Tage damit, Aufgaben für meine 19 mündlichen FOS-Prüfungen zusammenzubasteln.
28.5.8 Mit nachlassenden Kräften sitze ich am PC und dokumentiere für die K-Akte:
Vier, fünf Schüler sind pünktlich, das Gros trudelt vier Minuten später ein. Dazu zählt auch K, der sich prompt beschwert, dass er als verspätet eingetragen wird, weil er doch gar nicht später sei als andere. Außerdem will er all seine Fehltage wissen, damit er die richtigen Entschuldigungen beibringen kann. Stattdessen kündige ich ihm ein Gespräch mit der Mutter an, bei dem ich auch die Fehltage nennen würde. K beschwert sich, weil er die Fehltage sofort haben will und kein Gespräch. Ich erkläre aber, dass wir im Gespräch auch noch anderes klären könnten. Damit ist er noch weniger einverstanden und will genau wissen, was ich denn mit der Mutter besprechen wolle! Ich erkläre ihm, dass sein Arbeits- und Sozialverhalten noch zu verbessern sei, und dass wir auch die Testatbögen noch auszuwerten hätten. Damit ist er nicht zufrieden. Er lamentiert, dass er nur die Fehltage wissen wollte, und dass ich das nicht verweigern dürfte. Das können wir alles besprechen, wenn wir den Termin haben, sage ich, und jetzt soll er sich hinsetzen, weil ich den Unterricht beginnen will. K bleibt vor mir stehen: Er will erst die Fehltage haben! Noch zweimal, dreimal geht es so hin und her, bis er endlich abzieht.
Bücher, Arbeitsmaterialien? Ich habe schon keine Kraft mehr, das alles nachzukontrollieren. Ist auch nicht nötig, auch so kriege ich mit, dass die Hälfte der Schüler das Info-Blatt über die Welle, das ich vor Wochen verteilt hatte, nicht mehr haben. Allen voran beschwert sich der K: Da sei er ja nicht in der Schule gewesen! Ich aber erinnere mich genau an die Stunde, weil wir da ausnahmsweise im Pavillon Unterricht hatten, und ich weiß, dass der K da war – er ist eben unvergesslich! – Damit aber ist K’s Beschwerde keineswegs abgetan: Ich solle ihm jetzt eine Kopie geben, sonst könne er nicht mitarbeiten! – Leider habe ich nur noch zwei Kopien übrig, und die gebe ich an die Schüler aus, die damals gefehlt hatten! – Nun schimpft der K, dass die Schule doch das Allerletzte sei, ihm kein Arbeitsblatt zu geben!
„Soll ich mich jetzt aufregen? Du beschuldigst die Schule und hast doch selber ein Arbeitsblatt bekommen, und hast es nur deiner Unordnung zuzuschreiben, dass du es nicht dabei hast!“
„Naja, Sie haben schon recht“, lenkt K ein, „aber wenn Sie es sehen könnten: Bei mir zu Hause ist es sehr ordentlich! Ich habe alles in Regalen und Schränken!“
„Soll ich etwa zu dir nach Hause kommen und dort kontrollieren, ob es ordentlich ist?“
„Nein, nein, lieber nicht.“
„Das wäre mal eine Idee, aber ich selber wollte da nicht rumschnüffeln, das wäre vielleicht etwas für pädagogische Hilfskräfte.“
Nun aber verwahren sich der D und andere gegen die Vorstellung, dass sie bis in ihr Zimmer hinein von der Schule verfolgt werden.
Naja, der K hat damit meinen Nervenhöhepunkt für heute ausgereizt, und fortan geht es etwas ruhiger. Was eben heißt, dass es nur kleine Aufwallungen gibt, weil K sich nach vorn zu Kameraden setzen soll, welche das Arbeitsblatt besitzen, aber K3 und A wollen gar nicht K’s Kameraden sein und weigern sich , ihn reingucken zu lassen. Ich lasse der Dynamik ihren Lauf, der K setzt sich natürlich durch und landet bei A, und nach vielem Hin und Her schreibt er auch etwas, er ist ja intelligent, leider nur ein paar Sätze, dann lässt er es genug sein. Ist schon viel besser als bei J, T, und A: Die tun nichts, haben nicht mal Lust zum Spazierengehen, und so lasse ich sie gewähren. Sollen sie doch sehen, wie sie nächste Woche ihre Klassenarbeit hinkriegen, wenn sie nicht üben. Nur der V tut mir Leid, ein braver Schüler, der freiwillig tausend Seiten für mich gelocht hat; jetzt nehme ich ihm den Locher wieder ab, damit er die Charakterisierung schreiben kann; aber ohne Locher weiß er gar nicht mehr, was er tun soll. Ich versuche, ihm und ein paar anderen aufs Papier zu helfen, also, sich auf sein Blatt zu konzentrieren, zu lesen und vielleicht auch einen Stift in die Hand zu nehmen. Gegen Ende wollen manche Schüler, dass ich ihre Ergebnisse lese, und ich bestärke sie, oder ich korrigiere etwas, so dass sie nachher vor der Klasse vorlesen; es sind sechs Schüler, die das tun, darunter K, K3 und D, und sie kriegen alle ein Plus.
Das war doch eine erfolgreiche Stunde, oder?
30.5.8 Heute habe ich mal nach der 2. Stunde unterrichtsfrei. Bei dieser Gelegenheit erledige ich ein paar Extradienste, u.a. trage ich meiner Klasse die Einladungen zum Klassenausflug hinterher. War ja auch grob fahrlässig von mir, zu glauben, es sei gut damit, einfach so viele Einladungszettel zu kopieren wie es Schüler in der Klasse gibt, jedem eine Kopie zu geben und zu glauben, dann würde es funktionieren. Nur 3, 4 Schüler haben die von den Eltern unterschriebene Einverständniserklärung bei mir abgegeben; die meisten anderen können sich zwar daran erinnern, so eine Einladung mit Einverständniserklärung bekommen zu haben, aber sie haben sie vergessen oder verloren. Ich solle ihnen eine neue geben! Aber ich hatte keine mehr und forderte barsch, dass sie sich dann eben eine von Kameraden kopieren sollten. Damit produzierte ich natürlich den Misserfolg, dass nichts passierte.
Nun will ich aber die Klassenfahrt nicht scheitern lassen; also habe ich das ganze noch mal kopiert und suche beide Klassenhälften in den Werkstätten auf. Die Metall-Gruppe ist nicht da. Aber in der Holzwerkstatt verteile ich die Zettel, notiere, wer die Zweitkopie brauchte, und als ich gehen will, fragt der O, ob ich denn einen Tee mit ihnen trinken würde?
Ich muss erst zur Pausenaufsicht, danach komme ich in die Werkstatt, und dank des Langmuts von Koll. T2 sitzen wir zu viert mit vier Tassen Tee an einem Arbeitstisch. Der K3 zeigt Cartoons mit Tieren auf seinem Handy, und der O erzählt, auf welchen Bahnhöfen er heute umsteigen muss, um zu seinem Vater zu kommen. Zwölf Jahre lang habe er ihn nicht gesehen. Da O noch immer ein Zimmer im betreuten Wohnen sucht, fragt ihn der R, ob er denn nicht zum Vater ziehen wolle?
„Nein, der kann mir keine Grenzen ziehen.“
„Aber du bist doch alt genug, dass du das selber kannst.“
„Mein Vater will mir meine Wünsche immer erfüllen. Er achtet nicht darauf, ob ich etwas erreiche. Ich meine, dass ich mal Zuspruch brauche, damit ich Erfolg habe.“
„Dann zieh doch zu uns. Bei uns wird ja ein Zimmer frei.“
„Ja, das würde ich machen, aber das Jugendamt hat noch nicht entschieden, ob ich das darf.“
Der K3 zeigt eine Katze, die einen Hund niederstreckt, und der O deutet auf eine Wunde hinter seinem Ohr, „von meiner Freundin.“
„Warum verletzt Sie denn Ihre Freundin?“
„Sie hatte mir oft von ihrem früheren Freund erzählt, und einmal habe ich etwas von meiner Ex erzählen wollen, da hat sie mich geschlagen. Da habe ich ihr gesagt, wenn sie mich wieder schlägt, würde ich mich trennen.“
„Du hast richtig reagiert, du musst ihr Grenzen setzen.“
Nach 20 Minuten verabschiede ich mich. Der K3 fragt: „Meinen Sie immer noch, dass wir so schlimm sind?“
„Überhaupt nicht. Ich will ja auch gerne mit euch den Ausflug unternehmen.“
Dem O wünsche ich alles Gute mit seinem Vater; ich danke für die Einladung und für die Toleranz des Kollegen; der Kollege T2 sagt lächelnd, dass das ja auch mal sein dürfte.
An diesem Freitag fahre ich mit dem Gefühl im Herzen, dass ich diesen Jungs gerne Vater wäre. Sind sie nicht liebenswerte Geschöpfe?
Ich bin ihr Klassenlehrer, und zum ersten Mal merke ich, wie nötig es ist, diese Aufgabe mit Liebe zu erfüllen.