Kultur und Heimat. Anmerkungen zur Heimat als Kulturbegriff in Zeiten der Migration
Von Gunnar Schanno
Heimat als Ursprung
Bei aller Vielfalt des Begriffs in seiner Verwendung: Im allgemeinen Kulturverständnis ist Heimat der Urbegriff für Ursprung und Nähe zur eigenen Lebenswelt, ist Herkunft und früheste Erfahrung und Erleben eines jeden in subjektivster Weise, ist verwoben mit familialer Bindung und Geborgenheit. Heimat steht für Tradition und prägende Sozialisation. Im Heimatlichen ist nichts Zivilisation, sondern alles Kultur, wenn wir die Unterscheidung wieder treffen zwischen rational und emotional durchdrungener Lebenswelt. Heimatliches kann nicht zur Disposition gestellt werden. Heimat steht in vorrationaler Beziehung zum eigenen Selbst. Nichts kann in ihr ersetzt und erneuert werden. Sie ist, was sie ist: Bleibendes und Unvergängliches, Erlebtes und Gefühltes, sie steht am Lebensbeginn und ist Sehnsuchtsort am Lebensende.
So ist Heimat auch das, was wir anstrengungslos wiedererkennen, ist das, was Vertrautheit wachruft, Identifikation bildet, was Tradition und Verbundenheit bedeutet, was innere Entspanntheit auslöst, was keinen stürmischen Veränderungen unterliegt, was – anders als im Kontext des Zivilisatorischen – Ewigkeitswunsch hervorruft. Darin ist Heimat immer Ausprägung und ursprünglichstes Erleben des Kulturellen.
Heimat nämlich leuchtet wie mittragender Grund für die persönliche Lebenswelt vornehmlich in schönen und unverfänglichen Bildern auf, aus vollem Lebensgefühl heraus, im Empfinden nie neutral und nicht vom Rationalen her erfasst, sondern immer fühlend und schicksalsbestimmend. Nichts Furchtbareres als die Konnotation des aus früher Kindheit entstandenen Heimatsgefühls mit erlebter psychischer oder physischer Gewalt!
Der Heimat analog ist die Muttersprache. Das Konnotative, das Mitschwingende, das Atmosphärische, all dies wird in keiner nachkindlich erlernten Zweitsprache gleichrangig erworben. Kann auch eine Zweitsprache Muttersprache werden? Das nur mit kindlicher Frühzeit einhergehende Verschalten von Synapsen, von denen die Neurolinguistik spricht, oder das damit verbundene spannende Phänomen des Bilingualen, soll hier nicht Thema sein. Muttersprache und Heimat, Dialekt und Habitat, sie finden sich auch in verdinglicht gepflegter und gewürdigter Nachschau und in öffentlicher Gestaltung in Volkskunde- und Heimatmuseen – wie wir sie freilich auch in und um Frankfurt aufsuchbar vorfinden.
Nieblum, Insel Föhr, Jens-Jakob-Eschel-Str. 11; Bildnachweis Abhoefer/wikimedia commons CC
Heimat global
In Zeiten geballter Migration erhält der Heimatbegriff einen ganz neuen Klang. In manchen Diskussionen ist er gar in Misskredit geraten, wenn er auf Unveränderlichkeit fordernde nationale oder religiöse Enge oder gar in die Nähe von Ethnie und Territorium hin gezwungen wird. Auch Heimat ist nicht statisch. Wer deshalb Heimat solcherlei gedeuteter Dimension der Abgegrenztheit und Abgeschottetheit unterwirft, staatlich-willkürliche Verfügungsgewalt oder religiösen Absolutheitsanspruch ihr aufzwingt, der sieht Heimat „verkehrt“, der lässt Heimat zum Flucht-, nicht zum Sehnsuchtsort werden. Heimat kann dann nur noch zum erzwungenen oder bewusst gewählten „neugesetzten Ursprung“ und zu einer Art Reproduktion des Originals „Heimat“ werden.
Dennoch soll Heimat unter Schutz und Schirm des strukturell übergeordneten Zivilisatorisch-Staatlichen stehen, soll der Beheimatete sich unbedroht fühlen, auch gegenüber benachbarter, vielleicht ganz anders geformter Heimat. Und wer wird Heimat als Lebensraum schon der Zerstörung aussetzen wollen. Sie muss nicht gleich Idylle sein, aber sie kann auch nicht verwüstetes Land und Region der Bedrohung sein, ein Ort gnadenloser Intoleranz. Diese Sicht erscheint in Zeiten der Migration für den, der seine Ursprungsheimat flieht, der eine andere, eine zweite Heimat gesucht oder gefunden hat. Heimat als Empfinden von Geborgenheit widerspricht aller Gewalt, allem Hässlichen und Zerstörten. Zugegebenermaßen kann auch eine Region, die im Zuge industrietechnischer Ausbeutung und liebloser Zersiedlung landschaftlicher Verwüstung und Verwundung ausgesetzt wurde, als Heimat gelten. Aber auch dann ist sie nicht die gewünschte, sondern wird immer verbunden mit der Hoffnung auf Heilung ihres Zustands.
So ist der Begriff Heimat mehr denn je auch verbunden mit unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen und Herkünften. Er ist legitim. Er ist nicht neu. Heimat ist in solcher Weise auch ein Begriff für das Wohlbefinden, das Bene esse, der Ort, wo Wohlsein entsteht. Ubi bene, ibi patria (bei Cicero, 106-43 v.Chr. in den Tuskulanischen Gesprächen) – da wo mir’s gut geht, ist mein Vater- sprich Heimatland. Darin steckt auch ein Funke von Opportunismus, Instrumentalisierung, von zivilisatorischem Anspruch.
Der Heimatbegriff muss durchaus mit dem heutigen Lebensgefühl in Verbindung gebracht werden. Was rettet ihn da noch? Heimat ist im „globalisierten“ Sinne überall (besonders da, wo mir‘s gut oder besser geht). Ist der durchrationalisierte Ketten-Supermarkt auch ein Teil der Heimat im zunehmend fordernden Anspruch des materiellen Versorgtseins an sie? Die „Ambienten“ der Arbeits- und Freizeitwelten, die auch Teil des heimatlichen Raumes sind? Gleichen sich nicht zunehmend in verwechselbarer Weise die urbanisierten Lebensräume bis in die ländlichen Gebiete hinein? Die Lebensstile nähern sich einander an, in welchem Land, auf welchem Kontinent, in welcher Religions- und Kulturgemeinschaft auch immer.
König-Otto-Str.1 Kiefersfelden; Bildnachweis Rufus46/wikimedia commons CC
Heimat rational
In der kulturellen Vielfalt unseres Lebensraums ist der gesellschaftlich-soziale Aspekt von Heimat im dramatischen Migrationsgeschehen der Gegenwart drängend geworden, fällt der Heimatbegriff häufiger denn zuvor im öffentlichen Diskurs aus pragmatisch-zivilisatorischer Perspektive. Aus ihr ist zu erkennen, dass auch heute, wie zu allen Zeiten von Flucht und Vertreibung aus Heimatregionen, das unschätzbar Wertvollste, wie es die Heimat ist, „unter die Räder“ politischer oder religiöser Totalität geraten ist.
Wir kennen durchaus das oben angedeutete Bild der heimatlichen Idylle als einen Ort, zu dem der Fernwohnende im Schließen des Lebenskreises wieder zurückkehrt im Alter, weil das Alter anders als die Zeit der Jugend und der Lebensmitte auch Zeit der Bedächtigkeit, des Bewahrens und des Rückblicks ist. Doch ahnen wir auch, dass mit der immer globaler werdenden Mobilität jenes Ideal von Heimat als Ur- und Sehnsuchtsort an Leuchtkraft verliert.
Der einst so Heimatverwurzelte war in biographischer Sicht immer zunächst das Kind, in dem sich die Urerlebnisse, die Urbeziehungen, die Urerfahrungen, die Ursprache als die Muttersprache zu dem Begriff des Heimatlichen verschmolzen. Sodann der Alte, der Senior, der Zurückblickende und intensiv Erinnernde, der Wiederfindende, derjenige, der besagterweise Anfang und Ende seines Lebens zusammenführen will. Doch gestehen wir im schnellen Überwinden großer Räume gerne zu, dass Heimatgefühl als Wohlfühlwelt heute überall möglich zu werden scheint, auch auf südlichen Inseln, fernen Refugien und Alterssitzen entstehen kann. Hat das so verstandene gesuchte und gebuchte Paradies der Heimat den Rang abgelaufen?
In vielen Berichten hören wir aber, dass die Wurzeln, die „roots“ dennoch gesucht werden. Dann nämlich reicht es nicht mehr aus, die eigene Biographie auf ein paar Lebensjahre des Wohlseins und vielleicht des Erfolgs und Erlebnisreichtums in der Mitte des Lebens begrenzt zu sehen. Bezeichnend und mitbestimmend für den Heimatbegriff bleibt besagte Muttersprache als ein Medium, das nicht nur Information transportiert, sondern auch heimatliches Vertrautsein und Atmosphärisches bildet. Genau in diesen Zusammenhängen hat sich ein Feld öffentlicher Diskussion im interkulturellen Raum erschlossen, darüber hinaus sogar im zusammenwachsenden Raum einer Weltgemeinschaft, das unseren hier erörterten Zusammenhang übersteigt.
Welche Bedeutung hat Heimat als eben doch „schwerwiegend“ gebliebener Begriff nach der Zweijahrtausendwende und in einer Zeit von Fliehenden aus einstürzenden Gesellschaften? Was ist das Bleibende an ihm? Irgendwann im ureigenen Lebenslauf ringt jeder um diesen Begriff. Sind in dieser Perspektive nicht auch die Räume, aus denen die Flüchtenden kommen, Heimat- und Kulturregionen, die trotz aller Zerstörung auch Sehnsuchtsorte bleiben?