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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„BRASILIANA. Installationen von 1960 bis heute“ in der SCHIRN Kunsthalle Frankfurt

Ein Parcours intensiv erlebbarer Räume

Zeitlich in etwa parallel zur Retrospektive “Hélio Oiticica. Das grosse Labyrinth” im Museum für Moderne Kunst präsentiert die SCHIRN Kunsthalle Frankfurt eine Gruppenausstellung mit Installationen brasilianischer Künstlerinnen und Künstler; gezeigt werden acht raumgreifende Arbeiten von Lygia Clark, Dias & Riedweg, Cildo Meireles, Maria Nepomuceno, Ernesto Neto, Hélio Oiticica/Neville D’Almeida, Henrique Oliveira sowie Tunga.

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Noch Minuten vor der SCHIRN-Pressekonferenz wird Hand angelegt an den Aufbau der Installationen in der Ausstellungshalle

„Unterwegs zu einer neuen tropischen Kultur hat Brasilien seine eigene Form der Moderne entwickelt“, sagt Martina Weinhart, Kuratorin der Ausstellung, „die sich aus mannigfaltigen Einflüssen speist. Es entstand eine dynamische Kunst, die eng mit dem Leben verbunden ist und das internationale Vokabular der Moderne in typisch brasilianischer Sprache ausdrückt. Jenseits der gängigen Brasilien-Klischees haben brasilianische Künstler seit den 1960er Jahren höchst spannende und multisensorische Strategien entwickelt, bei denen die Beteiligung des Betrachters, das Taktile, die Berührung des ganzen Körpers eine zentrale Rolle spielen. Brasilianische Installation wird zum Medium des persönlichen Erlebens“.

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SCHIRN-Direktor Max Hollein und Kuratorin Martina Weinhart in der Pressekonferenz

Begeben wir uns also, bevor die Ausstellung mit Ablauf des 5. Januar 2014 schliesst, auf eine – wie SCHIRN-Direktor Max Hollein formuliert – „Reise zu den künstlerischen Ideen- und Vorstellungswelten Brasiliens. Erlebbar sind ästhetisch und sinnlich beeindruckende Installationen, die sich durch ihren kommunikativen und partizipativen Charakter auszeichnen“. Vier der acht präsentierten Werke greifen wir exemplarisch auf.

Gleich zu Beginn überrascht, als der „Hingucker“ der Ausstellung, die eigens für die diesjährige Präsentation in der SCHIRN entwickelte Arbeit  „Magmatic“ der 1976 in Rio de Janeiro geborenen Künstlerin Maria Nepomuceno. Ein abgeteilter Raum der Ausstellungshalle ist in tiefes, leuchtendes Orange getaucht.

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Magmatic, 2013, Seile, Plastikperlen, PVC, Keramik, Glasfasern, geflochtenes Stroh, Harz, Rasen, Kaktus, Kunstrasen; diverse Ausstllungsansichten, Courtesy of the artist and Victoria Miro, London

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Wir sehen fantasievolle Organismen, absonderliche Wucherungen, blicken auf uns vertraut erscheinende Gegenstände wie auf Gebilde aus exzessiven Träumen. „Archaisch und mit einer primitivistischen Formensprache spielend, sind sie auch hochartifiziell aus billigen industriellen Materialien gefertigt“ (SCHIRN). Skulpturen und Raum wechselwirken, scheinen sich miteinander zu verweben. Das warme, glutvolle Orange der Installation vermittelt einen eruptiven schöpferischen Prozess, in den sich der Besucher hineinbegibt.

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Ebenso surreal wie „barock“ mutet die Installation „Tríade Trindate“ des 1952 in Palmares geborenen Künstlers Tunga (eigentlich Antônio José de Barros Carvalho e Mello Mourão) an. Sie erinnert an Vorstellungen von Alchimistenlaboren, mittelalterlichen Folterkammern, archaischen, gar kannibalischen Kulten und Feuerstätten, an Beschwörungszeremonien, an Bühnenbilder für die Hexenküche aus Goethes „Faust“, an Mythen und Magie.

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Tríade Trindate, 2001/2013, Installationsansichten, Gusseisen, Magnete, Eisenkette, Schminke, Wolldecken; Courtesy of the Artist

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Über dem grossen Feuertopf eine schwere Glocke, andere Schüsseln und Töpfe, dicke Taue, an pastorale Hirtenstäbe gemahnende riesige wie auch kleinere Stöcke, das Ganze umgeben von wie Lumpen dahingeworfenen Wolldecken – eine alptraumhafte Szenerie, surreal, theatralisch wie zugleich spirituell.

Wiederum eigens für die Ausstellung in der SCHIRN fertigte Henrique Oliveira, 1973 in São Paulo geboren, seine begehbare Skulptur „Parada dos Quasólitos“.

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Henrique Oliveira, Parada dos Quasólitos, 2013, Sperrholz, PVC-Röhren; Courtesy of the Artist; Eingang und Inneres der „Höhle“

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„Arme“ Materialien, beispielsweise Abfälle von Sperrholz, wie es in Brasilien für Baustellenzäune dient und anschliessend in den Hütten der Favelas verbaut wird, verwendet Henrique Oliveira für seine oft monumentalen und ortsspezifischen, begehbaren, raumgreifenden Installationen. Die Wuchtigkeit ihres äusseren Erscheinungsbilds steht im Widerspruch zu der Leichtigkeit des Materials.

Lygia Clark, 1920 in Belo Horizonte geboren, verstarb 1988 in Rio de Janeiro. Sie gilt, mit anderen Kunstschaffenden und Literaten, als Begründerin eines brasilianischen Neokonkretismus – in Europa versuchte u. a. Kurt Seligmann (1900-1962) zwischen der antifigurativen Abstraktion und dem figurativen Surrealismus den sogenannten Neokonkretismus als Kunstform durchzusetzen. Clark, wie auch andere der hier austellenden Künstler ursprünglich von der Malerei kommend, gelangte zu künstlerischen Formen, die Gefühls- und Erlebniswelten des Betrachters erschliessen und seine aktive Teilnahme an dem Werk anregen sollten. Das in der SCHIRM aufgebaute Labyrinth „A casa é o corpo“ entwickelte sie bereits für die Biennale 1968 in Venedig (zuvor hatte sie schon an den Biennalen 1954, 1960 und 1962 teilgenommen).

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A casa é o corpo: Penetração, ovulação, germinação, expulsão, 1968/2013, Ausstellungsansichten; Holz, Stoff, Gummiband, Schaumgummi, Sprungfedern, Luftballons, PVC-Blase, Gebläse, Verbindungsschlauch, Zerrspiegel, Stahlstangen, Scheinwerfer; Courtesy of the Associação Cultural O Mundo de Lygia Clark

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Der Besucher legt – seine Schuhe muss er zuvor ausziehen – einen Parcours durch allerlei Irritationen und verschiedene, mit Vorhängen getrennte Kabinette zurück, auf Sprungfedern und zwischen Luftballons, durch einen Wald von bunten Vorhängen und über einen zum Straucheln verleitenden „Teppich“ bunter Kugeln. Auf diese Weise kann bzw. soll er „die Stadien von der Empfängnis bis zur Geburt noch einmal symbolisch durchschreiten … Die Arbeit erlaubt dem Beteiligten, seine eigene psychische und physische Realität zu erkunden und den Blick darauf zu schärfen“ (SCHIRN Kunsthalle).

Die Ausstellung will – komplementär zur Retrospektive auf das Werk Hélio Oiticicas im MMK – dem Besucher eine originär brasilianische, selbstbestimmte und charakteristische, kraftvolle und ausdrucksstarke Kunst vermitteln, „in der das sinnliche, körperliche und intellektuelle Eindringen in die Kunst eine zunehmend zentrale Rolle spielt. Die Transformation des gemalten Bildes in eine lebendige Erfahrung ausserhalb des Bildes ist seitdem ein zentrales Anliegen. Brasilianische Künstlerinnen und Künstler produzieren in diesem Geist eine extensive, raumfüllende Kunst, die den Betrachter zur Gänze involviert, ihn umfasst, beschäftigt, einverleibt, ihn körperlich, taktil und visuell herausfordert. Bis heute ist dieser besondere, sinnliche Gehalt der Installationen, die gleichzeitig auch politische, soziale und ethische Fragen thematisieren, lebendig geblieben. Anhand von Installationen der frühen 1960er Jahre bis hin zu jüngsten künstlerischen Positionen demonstriert die Ausstellung das spezifisch brasilianische Moment dieser ‚Kunst der Erfahrung‘, in die der Betrachter partizipatorisch unmittelbar eingebunden wird“ (SCHIRN Kunsthalle).

Wer die beiden verwandten Ausstellungen im MMK und in der SCHIRN noch nicht besucht haben sollte, sollte überlegen, dies an den Feiertagen oder in der ruhigeren Zeit „zwischen den Jahren“ nachzuholen. Sie versprechen einen reichen Ertrag.

„BRASILIANA. Installationen von 1960 bis heute“, SCHIRN Kunsthalle Frankfurt, bis 5. Januar 2014

Abgebildete Werke © die beteiligten Künstlerinnen und Künstler; Fotos: FeuilletonFrankfurt

→ “Hélio Oiticica. Das grosse Labyrinth” im Museum für Moderne Kunst


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