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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Passionsspiele 2010 in Oberammergau

Von Erhard Metz

Samstag, 15. Mai 2010, 14.30 Uhr: Premiere der Passionsspiele in Oberammergau, alle zehn Jahre nur finden sie statt. Bis knapp 23 Uhr dauert die Aufführung, unterbrochen von einer dreistündigen Pause. Oberammergau toppt darin Bayreuth!

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Das Passionsspielhaus in Oberammergau (Foto: Erhard Metz)

Es regnet ununterbrochen an diesem nebelverhangenen Tag, die Temparatur liegt bei etwa 6 Grad, es sind gefühlte 2 bis 3 Grad Celsius. Das 4700 Sitze umfassende Passionsspieltheater ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Wir sitzen ganz vorn, Reihe 6, nahe der zwar grossenteils planenüberspannten, aber dennoch zugigen 70 Meter breiten Freiluftbühne. Die Kälte dringt weit in den Zuschauerraum ein. Wir wurden vorgewarnt und sind deshalb in einen Pullover, zwei Strickjacken und einen Wintermantel eingehüllt. An den Eingängen werden Vliesdecken ausgegeben – wir nehmen gerne eine, um sie um die Beine zu schlingen – in leuchtendem Rot. (Eventuelle Souvenirsammler haben da nach Vorstellungsende „schlechte Karten“.)

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Jesus (Frederik Mayet) und die jüdischen religiösen Hierarchen (Bildnachweis: Passionsspiele Oberammergau; Foto: © Arno Declair)

Die alle zehn Jahre stattfindenden, heute 41. Passionsspiele gehen auf ein Pestgelübde der Oberammergauer aus dem Jahr 1633 zurück. Jeder der rund 2400 Mitwirkenden – 21 Haupt- und rund 120 Nebenrollen, über 60 Choristen und Gesangssolisten, 55 Instrumentalisten des Orchesters sowie eine Vielzahl von Statisten – muss entweder in Oberammergau geboren sein oder dort seit mindestens 20 Jahren leben. Der Text des Spiels geht auf den Pfarrer Joseph Alois Daisenberger (1799 bis 1883) zurück, die Musik auf  den Komponisten Rochus Dedler (1777 bis 1822). Bis Anfang Oktober 2010 stehen 102 Aufführungen auf dem Programm.

Es ist das „Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“. Menschen aus allen Erdteilen kommen, um es zu sehen, zu erleben. Es ist ein Mysterienspiel in dramatischer und zugleich meditativer Form: Seit 1750, der Passio nova des Benediktiners und Dramatikers Ferdinand Rosner (1709 bis 1778), ergänzen „Tableaux vivants – Lebende Bilder“ mit von Personen als Stillleben gestellten Szenen aus dem Alten Testament das Spielgeschehen, heuer sind es 13 an der Zahl. Als von Musik untermalte meditative Elemente unterbrechen sie den dramatischen Handlungsablauf und verschmelzen in ihrer heutigen Aufbereitung – wie die Spielleiter Christian Stückl und Otto Huber betonen – die Tradition des katholischen Passionsschauspiels und des protestantischen Passionsoratoriums, „das das Geschehen auf eine innere, seelische Bühne hebt und bei Johann Sebastian Bach einen Höhepunkt erlebt“. In ähnlicher Weise möchte die Spielleitung mit der Einbettung der Tableaux vivants in das neutestamentliche Geschehen „in den Vergleichen und Analogien der Glaubenserfahrungen eine Brücke zwischen Judentum und Christentum sehen“.

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Ränkespiel von Politik und Macht: Kaiphas und Pilatus (Bildnachweis: Passionsspiele Oberammergau; Foto: © Arno Declair)

Wer von den Oberammergauer Passionsspielen lediglich ein Laienspektakel erwarten wollte, ginge gänzlich fehl. Inszenierung und Aufführung muten keinesfalls semi-, sondern hochprofessionell an. Seit fünf Jahren bereiteten sich die Oberammergauer auf die diesjährigen Spiele vor – nicht nur im Wachsen der Bärte und Haare (der traditionelle „Haar- und Barterlass“ trat erst am Aschermittwoch 2009 in Kraft). Die intensive Probenarbeit begann im November 2009. Fast alle Protagonisten haben – oft in langer Familientradition – Theaterblut in den Adern und wirkten bereits bei früheren Passionsspielen mit. Die 21 Hauptrollen sind gleichberechtigt-doppelt besetzt, die Premierenbesetzung wird durch das Los entschieden.

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Jesus, mit Purpurmantel und Dornenkrone, und Pilatus, umgeben von Volk, jüdischem Klerus und Militär (Bildnachweis: Passionsspiele Oberammergau; Foto: © Arno Declair)

Dieses Spiel nimmt den Zuschauer unmittelbar in das Geschehen auf der Bühne hinein. Alles wird sinnlich erlebbar. Erschütternd – jedoch auch erschreckend – dessen Aktualität, ja Parallelität in der Welt von heute: die Begeisterungs- und Überzeugungskraft der in der Bergpredigt verkörperten neuen wie radikalen Lehre des Jesus inmitten der Schar seiner Jünger, der – nähme man sie denn wirklich beim Wort – der Charakter einer kommunistischen Utopie innewohnt; der selbstgefällig-eitle, im Althergebrachten verharrende Mummenschanz des Jesus-feindlichen Klerus, dessen hohler Herrschaftsanspruch sich in geradezu lächerlicher Weise im wilden Bunt der Gewänder und turmartigen Kopfbedeckungen (an den Turmbau zu Babel erinnernd!) manifestiert; der opportunistische, feige-verschlagene Polit-Zynismus im Zusammenspiel der Machthaber – des Hohen Priesters Kaiphas und des Römischen Kaisers Statthalter Pilatus, wenn es um Ruhe und Ordnung und Machterhalt geht, denn der eine wäre nichts ohne den anderen; der den Tempel und das gesamte religiöse wie gesellschaftliche Leben durchdringende Kommerz in Gestalt der Händler und Geldwechsler, die Jesus aus der Stätte der Besinnung und des Heiligen verjagt; das – oh ja, es bleibt uns nicht erspart zu sagen – das „einfache“ Volk, unalphabetisiert, verarmt, wankelmütig und aufwiegelbar heute in seinem „Hosianna“ und morgen in seinem „Kreuzige ihn“.

Nicht zu vergessen: Judas‘ Schuld, die ihn, der an Vergebung und Erlösung zweifelt, in den Freitod führt; der Verrat des Petrus, der im „bitterlichen“ Weinen hingegen die Kraft gewinnt, auf Vergebung zu vertrauen; und die Abendmahlsszene mit der siebenarmigen Menora auf dem Tisch (!) – eine Herausforderung nicht nur an eine in tiefer Krise verharrende katholische Kirche, an eine erbärmlich versagende Ökumene!

Wir fliegen heute in Flugzeugen, bauen Atombomben und Weltraumstationen, telefonieren mit dem Handy in Sekundenschnelle um die ganze Welt – und doch erscheint die Menschheit im Eigentlichen so armselig und bedürftig wie vor 2000 Jahren.

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(Bildnachweis: Passionsspiele Oberammergau; Foto: © Arno Declair)

Passionsspiele 2010 Oberammergau – sie haben uns mit den hervorragenden Leistungen ihrer Mitwirkenden bewegt und fasziniert. Sie seien Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, durchaus ans Herz gelegt. Kommen Sie im Sommer, auch dann erhalten Sie für die Abendstunden die wärmende signalrote Vliesdecke. Apropos Souvenir: Die Decke können Sie überall in Oberammergau für ein paar Euro als Mitbringsel erwerben.

 

 

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