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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Viviane Goergen spielt Werke von Lyonel Feininger und Kurt Dietmar Richter

Von Erhard Metz

Es ist schon etwas ganz Besonderes: im Kreise eines kleineren Auditoriums in gediegenem Ambiente einen Klavierabend zu erleben, gleichsam „in Augenhöhe“ mit einer Weltklassepianistin, die sich nach ihrer aktiven Zeit zur Ruhe gesetzt hat, aber auch jetzt noch das virtuose Klavierspiel pflegt und ihre reiche pianistische Erfahrung einem auserlesenen Zirkel von fortgeschrittenen Schülern vermittelt. Vor etwa einem halben Jahr überraschte sie – es ist keine andere als Viviane Goergen – ein Publikum mit einem Konzert, in welchem sie Werke sechs früher Komponistinnen vorstellte (sie spielt sie in diesen Wochen auf CD ein) – ein musikalisches Ereignis! Und nun eine weitere, wenn nicht noch größere Überraschung: Werke des in die Rezeptionsgeschichte überwiegend als Maler und Druckgrafiker eingegangenen Lyonel Feininger und des Komponisten Kurt Dietmar Richter, der sich mit seinem Klavierzyklus „Feininger Impulse“ auf Erstgenannten bezieht. Eingeleitet wurde der Klavierabend, den Goergen wenige Tage später vor größerem Publikum in der Städtischen Galerie Stihl Waiblingen (zur dortigen Ausstellung „Lyonel Feininger. Zwischen den Welten“) wiederholte, von zwei Präludien und Fugen Johann Sebastian Bachs.

Kurt Dietmar Richter zu Besuch bei Viviane Goergen Ende März 2017 (Foto: Erhard Metz)

Dass Lyonel Feininger (1871-1956) sich bereits vor seinem malerischen Wirken intensiv als Geiger der Musik widmete, später als Autodidakt das Klavier- und Orgelspiel erlernte und sich mit dem Klavier- und insbesondere dem Fugen-Werk Johann Sebastian Bachs auseinandersetzte, dabei nicht zuletzt sämtliche 48 Präludien und Fugen des „Wohltemperierten Klaviers“ studierte und auswendig lernte, ist auch heute nur wenigen bekannt, ebensowenig die Tatsache, dass er selbst neben seinen berühmten „Fugengemälden“ mit vielfach architektonischen Motiven im Alter von 50 Jahren eine Reihe von Fugen für Orgel und Klavier komponierte. In den beiden Konzerten waren jetzt die Fuge I e-Moll (1921), die Fuge II „nicht sehr schnell“ As-Dur (1921), die Gigue (Fuge III) G-Dur (1922) und die Fuge VI C-Dur für Orgel oder Klavier zu drei Händen in der Fassung für Klavier „con gravezza“ zu hören; im Frankfurter Hauskonzert spielte der Rechtsanwalt und frühere Goergen-Schüler Christian Wolf die „dritte Hand“, in Waiblingen Kurt Dietmar Richter höchstpersönlich.

(li.) Gedenktafel für Lyonel Feininger, Dellbrückstraße 11, Heringsdorf; (re.) Berliner Gedenktafel, Potsdamer Straße 29, Berlin-Zehlendorf (Bildnachweise: wikimedia commons/OTFW, Berlin, GNU-Lizenz für freie Dokumentation)

„Setzt man den thematischen Aufbau des Grundthemas [der Fuge VI] in eine Grafik um, so ist unschwer die filigrane geometrische Poesie von Feiningers Zeichenfeder, die Poesie der Linien, der Dreiecke wiederzuerkennen“, schreibt der Komponist Kurt Dietmar Richter. „Es gibt also vergleichbare Grundelemente der Gestaltung im Bild wie in der Musik“.

Die Entdeckung und Publizierung des kompositorischen Werks Feiningers ist maßgeblich Kurt Dietmar Richter zu verdanken. Er veranlaßte die erste Einspielung des Orgelwerkes Feiningers auf CD. Weltweit gebe es, so Richter und Goergen, nach aller Erkenntnis nur etwa eine Handvoll Pianisten, die sich dieses von Fachleuten vielfach als unspielbar bezeichneten Fugen-Werkes (Klavier bzw. Orgel) widmeten. Zu ihnen gehört – und in erster Linie zu nennen – Viviane Goergen. 1994 nahm sie die jetzt in ihren Konzerten aufgeführten vier Feininger-Fugen auf Tonträger auf (in Ersteinspielung, letzere mit Kurt Dietmar Richter als „dritter Hand“), die anschließend bei dem Label kreuzberg records veröffentlicht wurden. Kopien der von Feininger handschriftlich (wohl auch mit Hilfe kleiner Schablonen) mit spitzem Bleistift gezeichneten Noten aus dem Bauhaus-Archiv lagen der Einspielung und den nachfolgenden Aufführungen zugrunde. Das Notenbild zu interpretieren und in Fingersätze am Klavier zu verwandeln stellt eine ziemliche Herausforderung und Geduldsprobe dar, besonders bei Fuge VI, wo die „dritte Hand“ in den Notensatz hineingeschrieben ist und dem Mitspieler manche spieltechnischen Rätsel aufgibt: So sei es erforderlich, dass der Spieler der „dritten Hand“ sich mit der „ersten“ vielfach quert, er die Notierung deshalb oktavieren und er sowohl mit der rechten als auch der linken in das musikalische Geschehen eingreifen muß, erläutert Richter.

Höchste Konzentration: Viviane Goergen und Kurt Dietmar Richter spielen Feiningers Fuge VI C-Dur für Orgel oder Klavier zu drei Händen (Foto: Erhard Metz)

Eine musikalische Rarität nun stellen die „Feininger Impulse“ von Kurt Dietmar Richter dar. Zu Gehör brachte Viviane Goergen jetzt aus dem Klavierzyklus 5 die vier Stücke „Nachtstück I“, „Ludus“, „Kathedrale der Zukunft“ – patetico – und „Nachtstück III“. Den kompletten Klavierzyklus hat Goergen ebenso auf der erwähnten CD bei kreuzberg records eingespielt.

Lassen wir Kurt Dietmar Richter unmittelbar zu Wort kommen: „Feiningers ‚geometrische Poesie‘ begeistert mich, das Zerlegen realer Vor-Bilder in Liniensysteme, Drei- und Vielecke, Bau-Steine, das Wieder-Zusammenfügen: ein Endprodukt voller Lyrik und Emotionen, von dem vielfältige Impulse ausgehen“. Das Nachtstück I sei „Feiningers Aquarellen nachempfunden, die sich oft auf zwei Farbtöne beschränken. In der Komposition sind es zwei Klangflächen, die sich zunächst etablieren, dann überlagern, durchdringen. Die erste Fläche ist punktuell-diffus, die zweite lyrisch-melodisch angelegt – Hoffnung in erregter Nacht?“ Ludus beschreibt der Komponist als „ein Spiel mit Klangfarben und Bewegungselementen, gegen Ende meldet sich ein melodisch-thematisches Fragment – ein Fragezeichen?“.

Überwältigend die rund sieben Minuten Spielzeit in Anspruch nehmende Komposition Kathedrale der Zukunft, ein Bezug zum Titelblatt (Holzschnitt) des Bauhaus-Manifestes von 1919. Richter schreibt: „Mein Titel bezieht sich auf eine spezielle Gestaltungsweise Feiningers, die sich besonders in den Kirchen- und Kathedralbildern zeigt: Während in der Kathedrale des Mittelalters das Zentrum der Kirche Sammelpunkt aller Lichtstrahlen und aller Botschaften ist, die von außen und von oben kommen, nur auf diesem Weg werden die Farben der gemalten Glasfenster zum Leuchten gebracht, ist bei Feininger dieses Prinzip ins Gegenteil verkehrt: Bei ihm dringen die Lichtstrahlen aus den Kathedralen oder direkt aus der Erde nach oben, bis in den Kosmos, erleuchten die Sterne, transportieren eine optimistische Botschaft von hier in den Raum. Im Stück läuft das nicht so reibungslos wie im Bild, Widerstände tun sich auf, Schwierigkeiten stellen sich ein. Am Ende wird die ‚Botschaft‘ auf den Weg gebracht – es bleibt offen, ob sie ankommt oder angenommen wird“.

Mächtig erklingt Richters „Kathedrale“ – in der Tat im besten Sinne „patetico“, vom tiefsten donnerhallenden Grollen im Baßregister bis hin zum filigranst perlenden Lichtspiel im Diskant die Klangskala der verfügbaren 88 Tasten des Instruments ausschöpfend, wunderbar transparent und differenziert gestaltet von Viviane Goergen. Von großer Ästhetik sind diese Stücke des Zyklus‘ allesamt, von kompositorischer Kraft und Klarheit wie zugleich sensibelster, hauchzarter Lyrik.

Sein Nachtstück III schließlich bezeichnet Richter als „nächtliche Nuancen in Flageolett-Klängen der Klaviersaiten, Spiegelungen, geometrische Poesie. Als Vergleich bietet sich Feiningers ‚Mondgespinst‘ an“.

Den 1988 komponierten Klavierzyklus hat Richter Viviane Goergen gewidmet. Die Pianistin spielte das Werk im November 1990 im Städel Museum Frankfurt in Uraufführung.

Einladung zur Uraufführung

Kurt Dietmar Richter, Ende September 1931 in Pilsen geboren, entfaltete bereits früh als Mitglied der Thüringer Sängerknaben seine musikalische Begabung. Nach dem Besuch der Landesschule Pforta studierte er am Thüringischen Landeskonservatorium in Erfurt bei den Professoren Dieter Zechlin und Franz Jung. Er wurde Meisterschüler von Professor Johann Cilenšek an der Akademie der Künste in Berlin. Als Dirigent wirkte er anschließend am Stadttheater Döbeln und am Opernhaus Erfurt, am Theater Greifswald und bei der Schweriner Philharmonie. Seine kompositorischen Werke wurden u.a. im Schauspielhaus Berlin, im Theater Greifswald oder im Konzerthaus Berlin aufgeführt. Zu ihnen zählen u. a. die Jugendoper „Der fahrende Schüler“ (1962), die Oper „Pazifik“ (1964), die „Sekundenoper“ von 1970 oder die Fernsehoper „Bewährung über den Wolken“ (1977). Bekannt wurden ferner seine Opern „Der verlegene Magistrat“ (1978), „Die Geschichte von Liebe und Salz“ (1982) sowie „Adam und Eva“ (1985).

Kurt Dietmar Richter (Bildnachweis Kurt Dietmar Richter)

1990 gründete Richter in der Galerie M in Berlin-Marzahn mit Komponisten und Musikern die Künstlerinitiative „die neue brücke“ als ein Forum für „heutige Musik“ mit dem Ziel, sich für den Fortbestand und die weitere Existenz von zeitgenössischer Musik einzusetzen. Gemäß ihrem Motto „Hören und Sehen – Hörend Sehen – Hörsehen“ gehörten von Anfang an auch Maler oder Literaten zu den Partnern der spartenübergreifenden Initiative.

Kurt Dietmar Richter erhielt für sein musikalisches Œuvre zahlreiche Preise, Ehrungen und sonstige Auszeichnungen, neben mehreren Kompositionspreisen zum Beispiel den Carl-Maria-von-Weber-Preis der Stadt Dresden (zweifach), den Hanns-Eisler-Preis oder den Paul Woitschach-Preis des Deutschen Komponistenverbandes.

Zufrieden nach gemeinsamem Musizieren (Foto: Erhard Metz)

Zurück zum Konzertereignis: Zu Beginn spielte Viviane Goergen mit viel Verve und wunderbarer Durchhörbarkeit aus Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ Präludium und Fuge g-Moll, BWV 861, mit dem markanten anhaltenden Triller am Anfang des Präludiums, und anschließend Präludium und Fuge b-Moll, BWV 867. Und natürlich forderte das langen Beifall spendende Auditorium am Ende eine kleine Zugabe, die die Pianistin gerne gewährte.

→ Viviane Goergen spielt Werke früher Komponistinnen: Marguerite Roesgen-Champion, Mélanie Bonis, Germaine Tailleferre, Marie Jaëll, Vítezslava Kaprálová, Otilie Suková-Dvořákova

 

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