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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Hebelgesetze

Versuch einer Annäherung

von © -habust-

Ganz gross in Mode sind sie, die Hebel. Da gibt es Leute, wundergläubige Menschen, die immer noch an die wundersame Geldvermehrung glauben und sich alle möglichen Hebel ausdenken, nur damit immer mehr Staatsknete ohne Sinn und Verstand, ohne Gegenleistung und ohne irgendeine nachvollziehbare Begründung in den Privatsektor, sprich Banken u. ä., gehebelt werden kann.

Leverage-Effekt / Hebeleffekt, Hebelwirkung in der Finanzwirtschaft: Leverage-Formel

Das ist schade um den Hebel, denn der hat es faustdick hinter den Ohren, und seine Gesetze beherrschen oder viel mehr beherrschten die Evolution.

Was ist los? Also das kam so:

Eigentlich fanatischer Kindle-Leser, musste ich mir mangels e-Book-Angebot den tollen Hornblower-Zyklus von C. S. Forester als altmodisches papierenes Schriftwerk in elf Bänden gönnen. Die alten waren einfach zu zerlesen. Ich hoffe aber ernstlich, dass das mein letzter Bücherkauf war.

Wer diese herrlichen Romane nicht kennt: Sie spielen in der Royal Navy zur Zeit der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft, also vor ungefähr 200 Jahren. Faszinierend: Kaum 25 Jahre nach dem grauenvollen Russlandfeldzug Bonapartes fuhr der Adler von Nürnberg nach Fürth (und zurück). Das war keineswegs die erste Eisenbahnfahrt der Welt, sondern nur die erste in Deutschland, aber es machte Fürth unsterblich, zumindest bis der Aufstieg in die Bundesliga die Unsterblichkeit (mehr als die Fürther Vorkriegsmeisterschaften …) endgültig zementierte.

Aber das nur am Rande. Selbst älter und gebrechlicher geworden, hat sich der Fokus beim erneuten Lesen offenbar unmerklich verändert. Plötzlich fällt auf, was für eine unglaubliche, unvorstellbare Schinderei allein der Betrieb eines solchen segelbetriebenen Kriegsschiffs mit sich brachte, von Kriegshandlungen ganz zu schweigen. Und in der Landwirtschaft, beim Häuslebauen oder bei Schwerstarbeit wie etwa der Glockengiesserei war es auch nicht viel besser. Heute unvorstellbare körperliche Belastungen bestimmten den Alltag. Die Leute erbrachten Leistungen, die man nicht für möglich halten sollte. Schafften, wie der verrückte Aguirre, ganze Schiffe über Berge, schipperten Kanonen um die halbe Welt und bewegten Tonnenlasten wie nichts.

Denn vom Anfang der Werkzeugbenutzung – nicht nur durch den Vormenschen, dem dies häufig als Einstieg in den Aufstieg, also den Beginn der Menschwerdung gutgeschrieben wird, sondern auch durch andere Primaten, aber auch Vögel und einige besonders schlaue Vertreter anderer Klassen – vom Anfang der Werkzeugbenutzung an steht ein ganz besonders gelungenes Gesetzeswerk (ja, es gibt auch gelungene!) im Blickpunkt. Die Hebelgesetze. Tatsächlich haben die Millionen von Jahren unumschränkt die Welt beherrscht. Letzten Endes nutzten alle technischen Vorrichtungen die erstaunlichen Möglichkeiten dieser ersichtlich undemokratisch zustandegekommenen Vorschriften hemmungslos aus.

Wirkung des Hebelgesetzes

Hebelgesetz

Das Faszinierende dabei: Bei allem technischen Fortschritt und bei aller Raffinesse der immer abgefahreneren Konstruktionen war deren Funktionsweise stets offenkundig und unmittelbarer Bestandteil der fassbaren Realität. Und es war immer klar, dass man für die unschätzbare Hilfe der in verschiedensten Formen auftretenden Hebel und Hebelwirkungen bezahlen musste. Es dürfte kein prägenderes Gesetz geben als das vom doppelten Weg für die doppelte Kraft. So schön es ist, doppelt so viel heben zu können als mit ohne Hebel, so klar und offenkundig ist auch, dass man dazu doppelt so viel Bewegung braucht. Was ja gesund ist.

Wir sind also durch und durch geprägt von der Vorstellung, unsere Kräfte und damit unsere Leistungen nur gegen einen unmittelbar und sofort zu entrichtenden Preis aufmotzen zu können.

Dann kam James Watt, und die Welt stellte sich auf den Kopf. Und machte mit dieser Jahrmillionen währenden Entwicklung ein- für allemal erbarmungslos Schluss. Plötzlich gab es die Dampfmaschine und damit Kraft und Leistung aus dem Nichts. Natürlich musste man Holz oder Kohle immer noch herbeischaffen, ebenso das Wasser, aber die dafür aufgewandte Energie machte nur einen Bruchteil der Kraft aus, die so eine Dampfmaschine erzeugte. Plötzlich war der Zusammenhang zwischen Aufwand und Ergebnis weg. Kein Wunder, dass die Zahl epochemachender Erfindungen im 19. Jahrhundert in unvorstellbarem Ausmass explodiert ist.

Nun mag mancher einwenden, der Wirkungsgrad einer solchen Dampfmaschine sei doch geradezu jämmerlich, sie heize im wesentlichen ihre Umgebung und vermöge nur einen ganz geringen Bruchteil der im verbrauchten Material ruhenden Energie zur Erzeugung von Kraft und Leistung zu nutzen. Das war den Fans aber schnuppe. Die hatten ja nicht ihre eigene Energie in Holz und Kohle gesteckt, sondern die Sonne für sich arbeiten lassen. Die verglichen einfach, wieviel aktuelle menschliche Leistung mit und ohne Dampfmaschine in die Erledigung einer bestimmten Transport- oder Hebeaufgabe gesteckt werden musste, und bei dem Vergleich gewann natürlich die Dampfmaschine, auch wenn ihr Wirkungsgrad noch so bescheiden war. Die Fans brauchten ja nur zu sagen: Wie viele Menschen oder Pferde brauchst du denn, um einen Zug mit 20 oder 50 schweren Waggons 500 km weit zu ziehen? Jedenfalls viel mehr als für die Beschaffung des Brennmaterials und den Betrieb der Lokomotive.

Kein Wunder aber auch, dass Zahl und Ausmass schwerster Menschlichkeitsverbrechen ganz genauso explodiert sind, bis die Welt buchstäblich in Schutt und Asche gelegt war und jede Hoffnung auf natürliche Hemmschwellen endgültig aufgegeben werden musste. Nachdem wir nun aber immerhin mehr als 60 Jahre ohne die ganz entsetzlichen selbstverschuldeten Katastrophen geschafft haben, darf man sich vielleicht so ganz leise der Vorstellung annähern, das Schlimmste sei geschafft und der Schock über den Verlust der Herrschaft der Hebelgesetze verkraftet. Wer weiss das schon?

Faszinierend ist es aber doch: Man konnte sich wenigstens noch vorstellen, wie die Sonne in Millionen Jahren unsere geliebten fossilen Brennstoffe zubereitet hat. Viel Mühe dürfte ihr das nicht gemacht haben, aber immerhin steckt doch eine Menge strahlender Arbeit darin. Schon viel geheimnisvoller gab sich der elektrische Strom, den man weder sehen noch hören noch riechen, aber ordentlich abkriegen kann. Ganz und gar unbegreiflich: die Atomenergie. Das Zeug liegt oder steht einfach da und erzeugt Hitze und damit Kraft. Einfach so. Kein Hebel weit und breit.

Allein das viel zu spät erfundene (dass er sich mit halben Sachen zufriedengab, nehme ich Drais noch heute persönlich übel – den Kettenantrieb hätte er ruhig auch noch erfinden können) Fahrrad, die Krone der Hebelgesetzanwendung, hält deren Fahne unbeirrt und milliardenfach hoch.

Draisine

Oder ist es die Sehnsucht nach der Offensichtlichkeit der Hebelgesetze, die uns nicht nur radeln, Radmuttern lösen und Tresore aufstemmen, sondern auch das Land mit gigantischen Windmühlen überziehen lässt? West in uns ein unstillbarer Drang nach einem Leben ohne geheimnisvolle und gefährliche Energiegeschenke? West er in Angela Merkel? Das wüsstest du gern, gell?

Bildnachweise: Hebel-Formel: wikipedia; Wirkung des Hebelgesetzes: © 2004 César Rincón/wikimedia commons GFDL; Dampfmaschine: Panther/wikimedia commons GFDL; Draisine: Wilhelm Siegrist (1797-1843, publiziert 1817), wikimedia commons; Warnzeichen Radioaktivität: wikipedia

 

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