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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Taryn Simon – die Realität hinter der Fotografie

„An American Index of the Hidden and Unfamiliar“ im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK)

Realität hinter der Fotografie? Ein Widerspruch? Ist nicht die Fotografie ein Dokument der Wirklichkeit? Das war nur in deren Anfangsjahren so. Bald kam die Verfälschung durch immer raffiniertere Retuschetechniken. Mit der Digitalisierung folgte der Absturz: Eine Fotografie taugt in aller Regel nicht mehr für die Dokumentation: Jeder Beliebige kann mit überall verfügbarer Software Fotografien manipulieren und verfälschen. (Exkurs: Die Befreiung der Fotografie von der Last, zu dokumentieren, verhalf ihr andererseits schon vor langem zu neuen Spielräumen als eigenständiges künstlerisches Ausdrucks- und Gestaltungsmedium).

Was ist also jetzt das Besondere an dem fotografischen Werk von Taryn Simon? Als erstes ihre Versicherung, keine digitalen Manipulationen unternommen zu haben. Wir schenken ihr gerne Glauben und wissen um die Integrität ihres künstlerischen Schaffens.

Das nächste Besondere – und damit ein Wesen ihrer Kunst – ist, wie ich meine, der Weg, auf dem sie uns zu einer bislang verborgenen Realität führt, zu nicht gekannten Einblicken, zu Erkenntnissen über uns und über die Befindlichkeit, den Zustand unserer Gesellschaft. Taryn Simon wäre keine Künstlerin, wenn sie uns nicht diesen besonderen Weg führte: den Weg zunächst der sinnlichen Wahrnehmung von Schönheit und Opulenz ihrer Fotografien; der damit Hand in Hand gehenden Verführung, sich auf optisch-kulinarische Pfade zu begeben, die sich, früher oder später, als Irrwege entpuppen; den Weg der plötzlichen Wendung von Schönheit zu Ernüchterung und Erschrecken; zu der Verlegenheit und Unmut weckenden Selbsterkenntnis, ausgelegte Fallstricke nicht rechtzeitig erkannt zu haben.

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U.S. Customs and Border Protection, Bannware, John F. Kennedy International Airport, Queens, New York

„Afrikanische Rohrratten übersät mit Maden, afrikanische Süßkartoffeln (dioscorea), Andenkartoffeln, Kürbispflanzen aus Bangladesh, Buschfleisch, Cherimoya-Frucht, Curryblätter (murraya), getrocknete Apfelsinenschalen, frische Eier, afrikanische Riesenschnecke, Impala-Schädeldecke, Jackfrucht-Samen, Cythera-Pflaume, Kolanüsse, Mango, Okra, Passionsfrucht, Schweinsnase, Schweinsmaul, Schweinefleisch, rohes Geflügel (Huhn), südamerikanischer Schweinskopf, südafrikanische Strauchtomaten, südostasiatische Limonette infiziert mit Zitronenkrebs, Zuckerrohr (poaceae), ungekochtes Fleisch, unidentifizierte subtropische Pflanze in Muttererde.

Alle Gegenstände auf dem Foto wurden aus dem Gepäck von Passagieren beschlagnahmt, die innerhalb eines Zeitraums von 48 Stunden aus dem Ausland kommend am Terminal 4 des JFK Airport in die Vereinigten Staaten einreisten. Die beschlagnahmten Gegenstände werden identifiziert, analysiert und dann entweder zermahlen oder verbrannt. JFK fertigt mehr internationale Passagiere ab als jeder andere Flughafen in den Vereinigten Staaten.“

(© Taryn Simon für Bild und Text, Courtesy Gagosian/Steidl)

Taryn Simon stellt in der Tat „schöne“, an Malerei, an Stilleben erinnernde, sorgfältig ausformulierte und komponierte Fotografien her. Sie arrangiert die Sujets, auch wo diese statischer Natur sind, leuchtet sie auf das Sorgfältigste aus, fotografiert sie mit hohem professionellen technischen Aufwand. Oft dauert es Tage, sagt sie, bis sie mit dem Ergebnis einer fotografischen Arbeit zufrieden ist. Sie präsentiert ihre Werke im MMK sämtlich in einheitlicher Grösse, mit gleichen Passepartouts versehen, in identischen Rahmungen und versetzt somit den Betrachter in eine artifizielle Galerie. Wenn er jetzt nicht acht gibt, ist es zum Irrweg nicht mehr weit. Acht geben heisst hier konkret:

Er sollte – nein, er muss – den neben jeder fotografischen Arbeit positionierten Text lesen. Diese Texte sind von sachlich-enzyklopädischer Nüchternheit. Sie gehören untrennbar zu der jeweiligen Fotografie, sind Bestandteil der künstlerischen Komposition und Aussage. Taryn Simon sorgt auf subtile Weise dafür, dass der ernsthafte Betrachter diesen Zusammenhang mit vollzieht: Die Texte sind in sehr kleiner Schrift gehalten, die ihn zu einem genaueren und Zeit in Anspruch nehmenden Studium zwingt.

Wir lesen den Text, betrachten erneut die Fotografie und erkennen, wir haben uns – in den meisten Fällen – getäuscht, müssen abrücken von unseren ersten „inneren Bildern“, die sich mit dem Blick auf die Fotografie in unserer Vorstellung festgesetzt haben, wir müssen die Realität erkennen, die in ihrer Unmittelbarkeit und oft Brutalität bedrohliche Ausmasse annehmen kann. Taryn Simon öffnet dem Betrachter Zugänge in zwar Erahntes, Vermutetes, Befürchtetes – aber eben noch nicht Erblicktes und womöglich Verdrängtes. Diese Erkenntnis bedeutet für ihn: Arbeit.

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Kryokonservierungseinheit, Cryonics Institute, Clinton Township, Michigan

„Diese Kryokonservierungseinheit enthält die Leichen von Rhea und Elaine Ettinger, der Mutter und der Ehefrau des Pioniers der Kryokonservierung Robert Ettinger. Robert, Autor von The Prospect of Immortality und Man into Superman, lebt noch.

Das Cryonics Institute bietet Gefrier-Dienstleistungen für Menschen und Tiere nach ihrem Tod an. Kryostasis wird in der Hoffnung praktiziert, dass das Leben durch zukünftige Entwicklungen in der Wissenschaft, Technologie und Medizin verlängerbar wird. Falls diese Entwicklungen eintreten, erhoffen sich die Mitglieder, zu einem ausgedehnten Leben bei guter Gesundheit und frei von Krankheiten oder Alterungsprozessen wiedererweckt zu werden. Mit der Kryostasis muss unmittelbar nach Eintritt des juristischen Todes begonnen werden. Eine Person oder ein Haustier erhält eine Infusion mit Substanzen, welche die Vereisung verhindern und wird schnell auf eine Temperatur heruntergekühlt, bei welcher der körperliche Verfall effektiv aufgehalten wird. Das Cryonics Institute erhebt eine Gebühr von 28.000 US-Dollar für den Vorgang, wenn dieser lange vor dem Eintritt des juristischen Todes geplant werden kann, und 35.000 US-Dollar bei kurzfristigem Entschluss.“

(© Taryn Simon für Bild und Text, Courtesy Gagosian/Steidl)

Nun mag manches der über sechzig fotografischen Werke unter amerikaspezifischen wie amerikakritischen Aspekten zu betrachten sein, allein, wir sollten uns nicht täuschen: Die reale Welt, die Taryn Simon beleuchtet und hinterfragt, ist auch die unsrige im „Alten Europa“. Der Blick auf die Startkonsole und das taktische Auslösesystem eines Atomwaffen tragenden U-Bootes der Ohio-Klasse mit der nachhaltigsten atomaren Schlagkraft der unterseeischen US-Streitkräfte geht auch uns unmittelbar etwas an. Das Bild eines der dekadent-degenerierten, in der freien Natur keine Stunde überlebensfähigen, in selektiver Inzucht erzeugten, in den USA einst beliebten weissen Tiger spiegelt die eigene Perversität der Menschen wider, die diese Monster zu ihrem Vergnügen „erschaffen“. Sind wir in Europa vor solchen Exzessen wirklich sicher gefeit?

Und noch ein Besonderes: Taryn Simon lehrt uns mit dem Mut und der Beharrlichkeit, mit der sie ihre künstlerischen Ziele verwirklicht, nicht nachzulassen in unserem Herangehen, Hinschauen, Hinterfragen und Erkennen. Es hat mitunter, wie sie berichtet, Monate, ja ein Jahr und länger gedauert, bis sie in die der Öffentlichkeit verschlossenen Machtzentren von Politik, Militär, Forschung und „Okkultismus“ eintreten konnte, bis sie von Behörden, wissenschaftlichen Laboratorien oder Organisationen wie der CIA und der NASA, dem Watergate-Archiv, der Church of Scientology oder dem Ku-Klux-Klan die erbetene Fotografiererlaubnis erhielt. Ist Taryn Simon, 1975 geboren, heute in New York lebend, eine „politische“ Künstlerin? Ja, aber im Vordergrund ihrer jetzt im MMK gezeigten Arbeiten steht zunächst die selbst gestellte Aufgabe, Fakten, immer wieder Fakten aufzuzeigen.

 

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