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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Alle Artikel zu documenta Kassel

documenta 13 in Kassel (29)

2012, August 26.

István Csákány: Von feinen Blaumännern und leeren Nähstuben

Hat man je schon einmal solch feine „Blaumänner“ gesehen? Aber wo sind die Näherinnen? Hier kann doch etwas nicht stimmen: Eine kleine Fabrikationshalle, mit Näh- und Bügelmaschinen und allen zugehörigen Einrichtungen und Utensilien, eine Näherei offensichtlich, taghell erleuchtet, aufgeräumt, absolut betriebsbereit, aber menschenleer. Betriebsstillegung, warum? Ist der Betriebseigner erkrankt, gar verstorben? Die Produktion wegen billiger Auslandsimporte nicht mehr rentabel? Was wird hier dann noch produziert ausser Arbeitslosigkeit?

Daneben ein Laufsteg, aber: kein Catwalk. Kein Glamour, keine Models, keine Festspielabendroben, keine Minibikinis, weder hip noch top, weder cool noch sexy, sondern: Arbeitsbekleidung, Blaumänner. Auch hier kann doch wieder etwas nicht stimmen: Die Bekleidung in feinstem Zwirn von edlem Glanz, perfekt verarbeitet, in elegantem Dunkelmarineblau wie ein Nobelblazer im stinkfeinen englischen Adelsclub. Und wieder weit und breit kein Mensch, keine Bewegung oder Begegnung. Die Bekleidung sitzt, über korrekt gebügelten weissen Hemden, auf kopflosen Ausstellungspuppen.

Wir befinden uns im Nordflügel des ehemaligen Kasseler Haupt- und heutigen Kulturbahnhofs. Der Nähereibetrieb mit all seinen kleinsten Details einschliesslich der Elektrokabel ist – man glaubt es kaum – aus Holz, handgeschnitzt und handgedrechselt. Auch die ausgestellte Edel-Arbeits-Bekleidung ist reine Handarbeit. Wieviel an Arbeitswochen, -monaten, gar -jahren verkörpert sich in dieser Installation?

István Csákány beschenkt uns mit einer grossvolumigen, sinnlichen, eindrucksvoll-suggestiven Arbeit, die sich – im Gegensatz zu vielen anderen, die wir auf der documenta 13 antreffen – recht leicht erschliesst: Sie spiegelt zum einen, gerade in ihrer durchaus anachronistischen Handwerklichkeit, den Dualismus – oder sagen wir konkreter das Auseinanderfallen – von „Kunst“ und eben jenen handwerklichen Fähigkeiten wider, die, lang ist es her, für ein „Kunstwerk“ geradezu als konstitutiv angesehen waren.

Csákány spielt mit dem Stilelement der Groteske: Die Welt der Maschinen ist in mühevoller Handarbeit aus Holz gefertigt; die elegant-feinen Blaumänner taugen weder als Arbeits- noch als Ausgeh- oder Festtagskleidung. In ihrer Sinnlichkeit vermittelt uns die Installation daher eine ganze Menge über die Arbeitswelt, über das Verhältnis zwischen den Blazer- und den Blaumannträgern, zwischen den einen, die Bedingungen von Arbeit setzen, und den anderen, die Arbeit gemäss diesen Bedingungen verrichten, über den Widerspruch zwischen Massen- und Handfertigung. Die Abwesenheit von Menschen in der Produktionshalle wie auf dem Laufsteg mag zugleich für die Entfremdung zwischen Mensch und Arbeit wie für den gesellschaftspolitischen Faktor Arbeitslosigkeit stehen.

István Csákány wurde 1978 in Sepsiszentgyörgy, Rumänien geboren. Er studierte an der Hungarian Academy of Fine Arts in Budapest, wo er auch heute lebt und arbeitet. Csákány stellte vielfach in europäischen Ländern aus.

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documenta 13 in Kassel (28)

2012, August 24.

Sam Durant baut den Super-Galgen

Zugegeben – so ganz geheuer kam uns das Holzgerüst in der kilometerlangen Blickachse zwischen dem Orangerieschloss und der Schwaneninsel im Grossen Aueteich nie vor, einer Annäherung an das Monstrum wichen wir, von unbestimmten Ahnungen geplagt und deshalb diese und jene Ausflüchte bemühend, eine Zeitlang aus. Dann jedoch obsiegten Forscherdrang und Neugierde, sich dem Sperrigen mit der Werksbezeichnung „Scaffold“, in Klardeutsch also Schafott oder besser Galgen, anzunähern und es am Ende gar zu besteigen. Es geht in der Tat hoch hinauf, und das auch noch auf eigenes Risiko.

Wie sagte doch einst Tracey Emin: „Ich stehe am Rande des Abgrunds, doch die Aussicht von hier ist grandios“.

Ist sie auch, im Grunde genommen. Und schliesslich stehen wir ja auf einem Kunstwerk, da dürfte uns Schlimmeres wohl kaum zustossen.

Es fügt sich, dass ein kühler, kräftiger, in Böen fast stürmischer Wind bläst, auf dem sonst so friedlichen Aueteich, unsere Grossmutter kannte ihn noch unter dem Namen „Grand Bassin“, entfacht er ein kleines Meer von ungewohntem Wellengang. Aus der Ferne grüsst der klassizistische Tempel auf der Schwaneninsel. Doch der als „Seepromenade“ bekannte, bei der Kasseler Bevölkerung beliebte Platz in der eingangs erwähnten Blickachse ist ein anderer geworden. Weiterlesen

documenta 13 in Kassel (27)

2012, August 23.

documenta-Splitter / 3

Ein Brief
von Robert Straßheim

Kassel, im August 12

Lieber Markus,

melde mich kurz aus einem Zwischenurlaub, den zu nehmen mir meine werte Gattin unverhofft, da das Baby noch kaum ein Monat alt, mir großzügig gestattete, sodass ich dir nun aus Kassel schreibe, denn wie könnte dieser Sommer vorüber gehen, ohne auf der Documenta gelebt zu haben?

Nichts zu spüren von Documenta, als der Zug einfuhr in die Wilhelmshöhle: diese dunkle betongraue Gruft, das ist Kassel pur, der kalte Hauch von Betäubung jeglichen ästhetischen Empfindens. Hell dagegen und aufgeschlossen der Hauptbahnhof, wo dann auch die documenta gefunden werden kann.

Jetzt sitze ich im libanesischen „Schnell-Restaurant“ in der Nähe des Hauptbahnhofs und frage mich, warum das nicht zur Documenta zählt? Der Libanon ist ja nun auch ein Ort, wo Menschenrechte wenig geachtet werden, Mächte und Großmächte an humanitären Lösungen desinteressiert sind. Das sollte doch reichen, um diesem geschmacklos eingerichteten Laden das d13-Label überzustülpen, und schon wär’s Weltkunst? – Allein, eine entscheidende Zutat fehlt hier: Das d-Publikum, diese bunt gefächerten Individualisten, deren Aufmerksamkeit alles adelt, was sonst durchschnittlich oder gar banal wäre.

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documenta 13 in Kassel (26)

2012, August 21.

Nalini Malani: „In Search of Vanished Blood“

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documenta 13 in Kassel (25)

2012, August 15.

documenta-Splitter / 2

Die Polizei – im Wohnwagen, auf der documenta, ein Kunstwerk? Oder echt?

Foto: FeuilletonFrankfurt

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documenta 13 in Kassel (24)

2012, August 9.

Kader Attia: Erschütternde Begegnungen

Wir möchten Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, den Besuch dieser Installation in der zweiten Etage des Fridericianums, einschliesslich der Dia-Projektion, als ein „must see“ sehr ans Herz legen, auch wenn sie dem Betrachter einiges an Arbeit zumutet. Ein Kunstwerk zu errichten oder herzustellen ist ein oft langwieriger, durchaus mühsamer und schmerzensreicher Prozess; warum sollte man dem Betrachter nicht Ähnliches an Sich-Zeit-Nehmen, Mühe und Schmerzen abverlangen dürfen?

Kader Attia verbrachte viele Aufenthalte in Algerien, Kinshasa und Brazzaville. Sein besonderes Interesse fanden dabei afrikanische künstlerische Objekte, die nach Frakturen oder anderweitigen Beschädigungen wiederhergestellt wurden, in einer Weise jedoch, dass diese Reparaturen sichtbar blieben. Der Künstler identifiziert damit einen wesentlichen Unterschied zur europäischen Auffassung von Restaurierung, die eine gleichsam unsichtbare Wiederherstellung eines beschädigten Werkes zum Ziel hat.

Kader Attia nimmt als „Vorbilder“ im Gesicht verwundete, notdürftig chirurgisch-plastisch operierte Soldaten des Ersten Weltkriegs zum Modell. Derart verletzte Physiognomien lässt er von afrikanischen Holz-Bildschnitzern in freier Weise nachmodellieren. In seiner Dia-Projektion stellt Attia die „Vorbilder“ und die Schnitzarbeiten gegenüber. Natürlich erzählt er dabei auch ein Stück Kolonialgeschichte, wie sie wieder auf die Europäer zurückkommt, theatralisch in seiner Regallandschaft inszeniert. Eine Art von „kultureller Rückaneignung“ will darin erkennbar werden.

Dazu zählen hunderte, in zig Vitrinen ausgestellte Fundstücke, insbesondere in Afrika vorgefundene Artefakte der bereits erwähnten Art.

Ob der Künstler mit seiner Arbeit die erhoffte Brücke zwischen abendländischer und maghrebinischer Kultur schlägt, wie manche Rezensenten es postulieren, mag dahingestellt sein. Auf alle Fälle ist sie eine der unverzichtbar sehenswerten Präsentationen der diesjährigen documenta.

Kader Attia, 1970 in Dugny / Seine-Saint-Denis in einer algerischen Familie geboren, studierte an der Pariser École Supérieure des Arts Appliqués Duperré, an der Escola de Artes Applicades La Massana in Barcelona sowie an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs, Paris. Er stellte vielfach weltweit aus und nahm 2003 an der 50. Kunstbiennale in Venedig teil. Der Künstler lebt und arbeitet in Berlin und Algier.

Fotos: FeuilletonFrankfurt

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documenta 13 in Kassel (23)

2012, August 6.

Lara Favaretto: Alles Schrott – oder?


„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis …“ (Beginn der letzten Verse in Johann Wolfgang Goethes Faust II) Weiterlesen

documenta 13 in Kassel (22)

2012, August 5.

Christian Philipp Müller baut die Mangold-Fähre
oder: „Der Russe kommt nicht mehr über die Fulda“

Das Technische Hilfswerk (THW) hilft – wie schon der Name sagt -, wo immer es kann. Übrigens auch Künstlern. Zumal dann, wenn der Künstler zugleich Rektor der Kunsthochschule Kassel ist und wenn die Hilfe zur Geburt eines neuen Kunstwerks beiträgt. Christian Philipp Müller besorgte sich also von verschiedenen THW’s drei Pontons, wie sie beispielsweise zur provisorischen Überbrückung von Flüssen benötigt werden. Pontons kamen und kommen auch in kriegerischen Auseinandersetzungen zum Einsatz, um Truppen über Gewässer zu führen, wenn Brücken zerstört sind. Auf Letzteres spielt in ironischer Weise der Untertitel von Müllers Arbeit an: Kassel lag jahrzehntelang im „Zonenrandgebiet“ nahe der ehemaligen DDR, wenige Dutzend Kilometer entfernt von den dortigen sowjetischen Besatzungstruppen. Das ist nun bereits – dem Himmel sei ’s gedankt – alles eine lange Zeit her.

Drei Pontons bilden also, verschränkt nebeneinander vertäut, temporär fixiert und dennoch auf ihre eigene Weise schwankend-mobil, eine Art von Brücke über den Küchengraben, eine der künstlich angelegten Wasserstrasssen der barocken Karlsaue unweit der Gebäude der Kasseler Kunsthochschule. Wir erkunden den Weg von einem Ufer zum anderen und wieder zurück, die Passage eignet sich wahrlich nicht für Gehbehinderte, es geht mehrfach über steile Leiterchen und Treppenstufen, wir haben auch Zweifel daran, ob die längst der Pontons gespannten Drahtseile einen Ungeschickten oder Fehltrittigen wirklich vor einem unfreiwilligen Bad im Küchengraben bewahren könnten. Und wer will schon pitsche patsche nass auf der documenta herumlaufen.

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documenta 13 in Kassel (21)

2012, August 1.

Amy Balkin: Post an den Bundesumweltminister

Für den Pessimisten ist es die versponnenste Utopie (Utopien sind unrealisierbar), für den Optimisten die kühnste Vision (Visionen sind oft realisierbar) dieser documenta 13: die Eintragung der Erdatmosphäre als UNESCO-Welterbe.

Die US-amerikanische Künstlerin, treffender gesagt Konzeptaktivistin Amy Balkin kämpft mit „Public Smog“ um diesen Eintrag, seit Jahren. Ihr Ziel ist es, in der Atmosphäre einen „Park der sauberen Luft“ zu schaffen.

Amy Balkin formuliert die schlechthin essenzielle wie existenzielle künstlerische Forderung dieser Ausstellung an Politik und Weltöffentlichkeit.

Hat sie bereits oder wird sie in Politik und Gesellschaft Gehör finden? Natürlich nicht Weiterlesen

documenta 13 in Kassel (20)

2012, Juli 30.

Maria Loboda: In Preussischer Ordnung –
Vormarsch auf das Orangerieschloss


Nicht auf der documenta zu sehen, sondern im Historischen Museum Berlin: „Langer Kerl“ vom Preussischen Roten Leibbataillon, der Riesengarde Friedrich Wilhelms I., Grenadier Schwerid Rediwanoff, Gemälde von Johann Christof Merk (zugeschrieben), Potsdam 1718/19, Öl auf Leinwand, Foto: wuselig/wikimedia commons

Wäre da nicht eine gewisse Verbindung, ja Gemeinsamkeit, wenn man sie nebeneinander stellte: einen „Langen Kerl“ vom preussischen „Roten Leibbataillon“ und Maria Lobodas schlanke Zypresse in ihrem orangeroten Topf? Und welch eindrucksvollen Anblick böten erst recht 20 „Lange Kerls“, in Reihe und Glied aufgestellt, den 20 Zypressen der Künstlerin entsprechend? Weiterlesen