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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Georg-Büchner-Preis 2025 für Ursula Krechel

Eine wortgewaltige Veranstaltung über Ohnmacht und Selbstbehauptung

von Petra Kammann

Die Schriftstellerin Ursula Krechel wurde in diesem Jahr mit dem Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung im Staatstheater Darmstadt geehrt, was man in ihrem Fall als Auszeichnung für ein sprachlich ausgezeichnetes Lebenswerk begreifen kann. Das umfangreiche Schreiben der 77-jährigen Autorin umfasst Lyrik, Theaterstücke, Hörspiele, Romane und Essays und zu den wiederkehrenden Themen in Krechels Werk zählen Flucht und Exil, Gewalt und Verdrängung, weibliche Autorschaft und literarische Selbstbehauptung. Es gehört zur Tradition, dass neben dem Büchner-Preis in Darmstadt noch zwei weitere Preise verliehen werden: der Merck-Preis für literarische Kritik und Essay, diesmal an die Essayistin und Rezensentin, Übersetzerin und Herausgeberin Ilma Rakusa, und der Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa an den deutsch-israelischen Historiker Dan Diner.

Die Büchner-Preisträgerin im Interview, Foto: Petra Kammann

Büchner-Preis an Ursula Krechel

Der Georg-Büchner-Preis ist dramaturgisch gewissermaßen der Höhepunkt der Veranstaltung, weswegen er als letzter und dritter Preis vergeben wird. Außerdem ist er der krönende Abschluss einer von der Akademie veranstalteten Herbsttagung, die in diesem Jahr unter dem vertrackten Themenschwerpunkt Linguistik der Lüge stand. War das als Hommage an den Romanisten Harald Weinrich gedacht, den dieses Thema bereits vor 60 Jahren beschäftigte, als noch nicht fake news im Raume standen oder ging es da eher um eine grundsätzliche Fragestellung, die sich bereits seit der Antike mit der Bedeutung und Wahrheit von Literatur beschäftigt? Urteilte doch schon der Philosoph Plato, die Dichter würden lügen. Dabei ist Platon weit davon entfernt, die Lüge grundsätzlich zu verdammen. Vielmehr besagt er in seiner Ideenlehre, dass die sinnlich wahrnehmbare Welt lediglich die Kopie einer höheren wahren Welt der Ideen sei, nämlich die des Schönen, Wahren oder Guten. Man könnte auch sagen, die der Ästhetik.

Das trifft zweifellos auch auf das Schreiben der diesjährigen Büchner-Preisträgerin Ursula Krechel zu. Sie fordert nicht nur unüberhörbar engagiert Haltung gegenüber den Themen Flucht, Exil, Gewalt und Feminismus, sondern macht dank ihrer differenzierten Sprache und genauen Beobachtungsgabe Prozesse sichtbar und überlässt uns, den Lesern, das Urteil zum Beispiel in ihrer Romantrilogie „Shanghai fern von wo“ (2008), „Landgericht“(2012) oder „Geisterbahn“ (2018), einer Geschichte der Ausgegrenzten, oder auch der Verdrängung in der frühen Bundesrepublik.

Ihre Laudatorin Sabine Küchler formulierte treffend die charakteristische Vorgehensweise der Autorin so: „Am Rand stehen. Hinschauen. Hinhören. Beobachten“. Ihre Bücher schienen uns zuzurufen: „wir finden uns nicht ab mit dem falschen Einverstandensein, den Lebenslügen einer Gesellschaft, die sich für aufgeklärter und gerechter hält als sie ist. Ursula Krechel nennt unmissverständlich die Dinge beim Namen, die gesellschaftlichen Zustände und realen Machtverhältnisse, die ungeschriebenen Gesetze, die anerzogenen Rollen und gläsernen Wände, mit denen kein denkender und fühlender Mensch einverstanden sein sollte.“

Die komplette Rede können Sie unter folgendem Link finden: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/ursula-krechel/laudatio

Brillante Laudatio von Sabine Küchler über Ursula Krechel, Foto: Petra Kammann

In ihrer Dankesrede entwickelte Ursula Krechel ausgehend von Georg Büchner und dessen Schwester Luise Büchner ihr literarisches Programm: „Schreiben begleitet die Zeit, stolpert, rennt atemlos vor ihr weg oder hinkt ihr nach. Schreiben heißt: Denken, Beobachten, auf Töne und Misstöne achten, Schlüsse ziehen mit weitreichenden Folgen. Schreiben heißt: Lesen und auch das Unscheinbare auflesen. Schreiben heißt: den Tod, den gewaltsamen Tod denken, an Lebensbedingungen erinnern, die töten.“

Krechel nahm Bezug auf die Hintergründe zu „Dantons Tod“ von Georg Büchner, den Namensgeber des Preises, vor allem aber auf dessen jüngere Schwester Luise Büchner und deren Manifest „Die Frauen und ihr Beruf“ (1855), deren erklärten Ziele „Freiheit, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit“ gelautet hätten, die sich jedoch vor allem auf die bürgerlichen Frauen gezogen hätten.

Sie  beharrte darauf, dass Schreiben den Stummen und stumm Gemachten nicht nur eine Stimme geben müsse, es müsse dieser Stimme Glaubwürdigkeit verliehen werden, vielleicht auch Würde, möchte man Krechels Reflektion noch hinzuzufügen. „Schreiben heißt in diesem Fall: Kunst.“ Dass Krechel diese Kunst beherrscht, daran ließ auch die Hörspielredakteurin und Kritikerin Sabine Küchler in ihrer kenntnisreichen und bestens formulierten Laudatio keinen Zweifel.

Merck-Preis an Ilma Rakusa

Johann-Heinrich Merck-Preis für die Übersetzerin und Essayistin Ilma Rakusa, Foto: Petra Kammann

Zu Beginn der Preisverleihungsfeier stand jedoch zunächst die Vergabe des Johann-Heinrich Merck-Preises an Ilma Rakusa, die in ihrem weit ausgreifenden Werk Sprach- und Kulturgrenzen überschreite und als Essayistin und Rezensentin, Übersetzerin und Herausgeberin mannigfaltige literarische Landschaften erschließe, so die Jury. Die für das mittel- und osteuropäische Programm des Verlags verantwortliche Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe betonte in ihrer Laudatio die Wahrnehmungsintensität der Preisträgerin, ihre Zugewandtheit zu anderen Menschen und ihre Anteilnahme an den Weltereignissen; Eigenschaften, die überhaupt erst durch „unentwegtes Lesen und Schreiben“ entstehen.

Die Dankesrede von Ilma Rakusa war ein engagiertes Plädoyer für die Erkenntniskraft der Literatur. Sie stellte heraus, dass Literatur zwar keine Kriege verhindern, auch nicht beenden, man ihnen aber etwas entgegensetzen könne. Sie forderte zur Lektüre süd-, mittel- und osteuropäischer Literaturen auf, „die mit existentieller Dringlichkeit den Zusammenprall von Geschichte und Gegenwart, von Gewalt und Menschlichkeit vorführen.“ Dabei nahm sie  Bezug auf die aktuelle Situation in der Ukraine, indem sie wiederholt an den Friedenspreisträger aus dem Jahr 2022, den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan erinnerte, der sich inzwischen der 13. Brigade der ukrainischen Nationalgarde angeschlossen hat und dort unter anderem ein Armeeradio betreibt. Und dass er trotz allem weiterschreibe – Gedichte, Kurzprosa, Essays, so es ihm unter diesen Umständen möglich sei.

Freud-Preis an Dan Diner

Akademiedirektor Ingo Schulze verliest die Verleihungsurkunde an den Freud-Preisträger Dan Diner, Foto: Petra Kammann

Als zweiter Preis wurde der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa an den deutsch-israelischen Historiker  und  und politischen Schriftsteller Dan Diner verliehen. Die Laudatio hielt Stephan Malinowski. „Die filigrane Beschreibung der Nichtzugehörigkeit und Verletzlichkeit von Menschen zwischen den Blöcken sowie die seismographische Aufmerksamkeit für das ungeschützte Leben“ reichten bei Diner weit über die jüdische Geschichte hinaus, so Malinowski. Diners Werk zeichne sich durch ein kaleidoskopartiges Erzählen aus, das niemals abgeschlossen sei, bei Leserinnen und Lesern jedoch den Eindruck hinterlasse, im Text den entscheidenden Elementen begegnet zu sein.

Das manifestierte sich unmittelbar in der Dankesrede von Dan Diner, der sich dabei vor allem auf das Romanfragment „Der erste Mensch“ des algerisch-französischen Schriftstellers und Philosophen Albert Camus, bezog, das sich, so Diner, als Lehrstück anbiete. Dieser unvollendet gebliebene Text verleihe Camus‘ algerischem Dilemma Ausdruck: „zwischen der Liebe zu seiner Mutter, die offenbar auch für das verloren gehende französische Algerien zu stehen kommt, und der Vorstellung einer universell gültigen Gerechtigkeit“, der er sich „zutiefst verpflichtet fühlte“ und die ihn „in Richtung der muslimisch-algerischen Bestrebungen zog“, denen er sich gleichwohl „aus Gründen seiner Zugehörigkeit nicht ergeben konnte“. Diner entzifferte das Fragment als den Versuch, eine Zukunft jenseits der „im Kampf miteinander verkeilten Kollektive“ des Algerienkrieges zu denken. Eine Parabel der aktuellen Lage im Nahen Osten?

Ein Plädoyer für die Unabhängigkeit der Literatur: Kulturstaatsminister Wolfram Weimer sagte auch Unterstützung für die nächste Herbsttagung zu, Foto: Petra Kammann

Zur Feier des besonderen Tages kam auch erstmalig Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, der  in seinem Grußwort die Bedeutung echter und notwendiger Literatur hervorhob, deren Dringlichkeit in dieser Veranstaltung besonders einleuchtend war: „Wir brauchen Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Ursula Krechel mit radikal subjektiven Sprach- und Denkfiguren, die die Grenzen des Denkbaren und Sagbaren ausloten und damit auch Möglichkeitsfenster für ihre Leserinnen und Leser öffnen.“ Auf erzählerisch virtuose Weise reflektiere Ursula Krechel in ihrem aktuellen Roman ‚Sehr geehrte Frau Ministerin‘  sowohl Macht als auch Deutungsmacht: „Wer darf sprechen? Wer darf über wen schreiben? Gibt es überhaupt die Hoheit über die eigene Biografie? Und nicht zuletzt: Wem steht politische Macht zu? So entstehen auf mehreren Ebenen ineinander verschlungene Narrative über Ohnmacht und Selbstbehauptung, über limitierende Rollenerwartungen und weibliche Selbstermächtigung.“

Eine Sternstunde der zivilisierten Formulierungen derer, die nicht nur „Haltung“ bewiesen, sondern auch weitere Horizonte eröffneten.

Adademiedirektor Ingo Schulze und Ursula Krechel Georg-Büchner-Preisträgerin 2025 bei der Verleihung der Akademiepreise 2025. Foto: Andreas Reeg DASD

Ursula Krechel

geboren am 4. Dezember 1947 in Trier, studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität zu Köln und wurde 1971 mit einer Arbeit über den Theaterkritiker Herbert Ihering promoviert. Nach dem Studium arbeitete sie als Dramaturgin an den Städtischen Bühnen Dortmund und engagierte sich ehrenamtlich in der Theaterarbeit mit jugendlichen Untersuchungshäftlingen. Ihr Debüt gab sie 1974 mit dem Theaterstück »Erika«, 1977 folgte mit »Nach Mainz!« der erste Gedichtband und 1981 ihr erster Roman »Zweite Natur«. Ab 1985 trat sie als Regisseurin eigener Hörspiele hervor. Bis heute arbeitet sie als, wie sie einmal über sich sagte, »chronische Spurwechslerin« in den literarischen Gattungen Lyrik, Epik und Essayistik. Die Themen Flucht, Exil, Gewalt, Feminismus sind von Anfang an in ihrem Werk präsent.

Zu ihren letzten Veröffentlichungen zählen »Beileibe und zumute. Gedichte« (2021) und der Essayband »Gehen, Träumen, Sehen. Unter Bäumen« (2022). In diesem Jahr erschienen der Roman »Sehr geehrte Frau Ministerin« (2025) – in seinem Mittelpunkt stehen vier Frauen in Antike und Gegenwart, deren Leben von erlittener und ausgeübter Gewalt geprägt ist – sowie der Band »Vom Herzasthma des Exils« (2025).

 

Die Preise

Der Georg-Büchner-Preis  ist mit 50.000 Euro dotiert und wird finanziert von dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur und der Stadt Darmstadt.

Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay ist mit 20.000 Euro dotiert und wird vom Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck finanziert.

Der Sigmund-Freud-Preis ist mit 20.000 Euro dotiert und wird von der ENTEGA Stiftung finanziert.

 

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