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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die indische Autorin Arundhati Roy auf der Lit.COLOGNE Spezial

Urgewalten

von Simone Hamm

Unberechenbar ist sie und herrisch. Aber auch stark und selbstbewusst. Die Mutter von Arundhati Roy. Sie ist die Zuflucht und der Sturm im Leben von Indiens berühmtester Schriftstellerin gewesen. „Meine Zuflucht und mein Sturm“. Das ist auch der Titel des Memoir von Arundhati Roy. Der englische Originaltitel klingt weit weniger pathetisch „Mother Mary Comes To Me“ eine Zeile aus dem Beatlessong „Let It Be“.

Die indische Bookerpreisträgerin Arhundaty Roy auf der Lit.Cologne Spezial, Foto: Katja Tauber

Gemeinsam mit Moderatorin Jagoda Marinic und dem Publikum sang Arhundaty Roy, die indische Schriftstellerin, Drehbuchautorin, Booker-Preisträgerin, (1997 für ihren Erstling „Der Gott der kleinen Dinge“), sang sie dieses Lied am Ende des Abends in der Kölner Flora. Es war einer von nur zwei Auftritten in Deutschland. Ans brummende Publikum gewandt, meinte sie: es gäbe die Freiheit, falsch zu singen.

Von einer Mutter, die sich die Freiheit nimmt, Falsches zu tun, handeln Arundhati Roys Erinnerungen. Und von der Beziehung von Mutter und Tochter, „einer respektvollen Beziehung zwischen Atommächten“, wie Roy betont. Sie bittet darum, dieses Memoir wie einen Roman zu lesen: „(Ich) lernte, dass die meisten von uns eine lebende, atmende Brühe aus Erinnerung und Phantasie sind – und nicht die besten Schiedsrichter darüber, was das eine und was das andere ist. Also lesen Sie dieses Buch wie einen Roman. Es will nichts Größeres sein.“

Zunächst liest sie aus dem Eingangskapitel. Sie ist regelrecht geflohen vor dieser Mutter. Mit 18 Jahren ist sie nach Delhi gegangen, „nicht weil ich sie nicht liebte, sondern um sie weiterhin lieben zu können. Sieben Jahre sehen die beiden sich nicht, sprechen auch nicht miteinander.

Die deutsche Übersetzung liest Therese Hämer ausgezeichnet. Unaufgeregt an den düsteren Stellen, lässig an den humorvollen. Moderatorin des Abends ist Jagoda Marinic. Ich hätte mir viel mehr Arhundhati Roy und viel weniger Jagoda MariniÄ gewünscht.

Moderatorin Jagoda Marinic unterbrach häufig die Ausführungen der Erzählerin, Foto: Katja Tauber

Marinic leitete jede Frage ziemlich ausführlich damit ein, wie sie die betreffende Stelle im Buch ge- und empfunden hatte und vergaß, dass das Publikum nicht gekommen war, um etwas über Marinics Empfindungen beim Lesen zu erfahren, sondern um Arhundati Roy zuzuhören. Die wiederum wurde, sobald sie in einen Redefluss kam, der interessant hätte werden können, sofort von der Moderatorin unterbrochen, die ihr manchmal sogar ins Wort fiel, damit sie das gerade Gehörte schnell auf Deutsch zusammenzufassen konnte.

Arhundhati Roy schildert die Welt, in der sie lebt, manchmal als Groteske, als Kampfzone, niemals als Idylle. Dennoch schreibt sie voller Humor. Schonungslos hingegen erzählt sie, wie die Gewaltausbrüche und die Unberechenbarkeit ihrer Mutter sie bis heute geprägt haben: „Ich tat so, als würde ich schlafen in der Nacht, als sie meinen Bruder holte und ihn – den schlafwandelnden kleinen Jungen – in ihr Zimmer führte. Ich folgte ihnen leise und beobachtete durch das Schlüsselloch, wie sie ihn schlug, bis das dicke, hölzerne Lineal zerbrach. ,Mein Sohn kommt nicht mit einem Zeugnis nach Hause, in dem „durchschnittlicher Schüler“ steht‘.

Am Morgen nahm sie mich in den Arm und sagte: ,Du hast ein ausgezeichnetes Zeugnis‘. Ich schämte mich. Seit damals werden alle meine persönlichen Erfolge von einer unguten Vorahnung begleitet. Wenn auf mich angestoßen oder mir applaudiert wird, habe ich immer das Gefühl, dass jemand anderes, jemand, der still ist, im Zimmer nebenan geschlagen wird.

Doch Arundhati Roy sieht auch andere Seiten ihrer Mutter. Als sie drei Jahre alt war, trennte diese sich von ihrem alkoholkranken Mann und ging zurück in ihr kleines Dorf nach Kerala in Südindien, eine syrisch-orthodoxe Gemeinschaft. Sie war und blieb dort Außenseiterin. Sie gründete eine Schule, die überaus erfolgreich wurde. Sie kämpfte bis zum obersten indischen Gerichtshof dafür, dass das Erbrecht in Kerala zu Gunsten von Frauen verändert wurde. Ebenso erfolgreich.

Kämpferisch zieht die engagierte Autorin von dannen, Foto: Katja Tauber  

Als die unkontrollierbare Mutter stirbt, reagiert Arundhati Roy heftig. Ihr Herz sei gebrochen, schreibt sie. Um ihre widersprüchlichen Gefühle zu verstehen, schreibt sie dieses Erinnerungen:

„Mein Bruder legte den Finger auf die wunde Stelle. ,Ich verstehe Deine Reaktion nicht. Niemand hat sie so schlecht behandelt wie Dich.‘ Er mochte Recht haben, auch wenn meiner Meinung nach ihm diese Trophäe zustand.“

Leider beschränkt sich Jagoda Marinic nur auf die ersten Kapitel des Buches. Dabei geht im Leben Arundhati Roys überaus spannend weiter.  Sie hat ja nicht nur Architektur studiert und Kuchen in Goa verkauft. Wie sie etwa atemlos beschreibt, wie begeistert Agenten und Verleger von ihrem Erstling „Der Gott der kleinen Dinge“ gewesen sind, wie ein Wettrennen um ihren Zuspruch begann, wie sie plötzlich eine Millionen Vorschuss erhielt, das ist grandios.

Heute gehört Arundhati Roy zu den anerkanntesten Schriftstellerinnen der Welt. In ihrer Heimat ist sie jedoch weit mehr als Schriftstellerin, als kluge Essayistin, streitbare Aktivistin und scharfe Kritikerin des nationalistischen indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi bekannt. Und das, obwohl viele ihrer Schriften in Indien nicht erscheinen dürfen. Auch darüber erfährt man in der Flora leider nichts.

Wer also eintauchen will über das Leben Arundhati Roys, dem sei das brillant geschriebene Memoir „Meine Zuflucht, mein Sturm“ unbedingt empfohlen.

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