Jorinde Voigt: „Die gefaltete Zeit“ im neuen Hochhaustum FOUR
Schwingungen und schwebende Elemente im Raum
Von Petra Kammann
Frankfurt leuchtet. In der 29. Etage des neues Towers FOUR 1, im Entrée der großen Anwaltskanzlei Freshfields, wird man in luftigen Höhen mit Blick auf die Stadt von einem Kunstraum empfangen. Dieser ungewöhnliche Raum wurde gestaltet von der international angesehenen und multidisziplinär arbeitenden Konzeptkünstlerin Jorinde Voigt, deren Arbeiten in zahlreichen renommierten Sammlungen zu sehen sind wie etwa im New Yorker MoMA, im Centre Pompidou Paris, im Art Institute of Chicago, in der Pinakothek der Moderne in München, im Kunsthaus Zürich, im Istanbul Modern, im Kupferstichkabinett Berlin oder der Kunsthalle Praha. Die „Gefaltete Zeit“ nennt sie das in Frankfurt entstandene Ensemble.

Der organisch geschwungene Empfangsdesk der Anwaltskanzlei Freshfields im neuen Four, Foto: Petra Kammann
Über dem organisch geschwungenen Empfangschalter schwebt die „Eternità“, die Ewigkeit, wie sie ihre in sich verschlungene und sich öffnende Plastik nennt. Aber nicht nur das. Ein Raum ist für sie viel mehr… An seinem anderen Ende werden die Schwingungen dieser metallleichten und schimmernden Plastik in einem monumentalen, wohl um die 20 Meter hohen Wandgemälde „Kontinuum“ aus Öl- und Wachskreide mit Blattgold, malerisch und zeichnerisch wieder aufgenommen.
In dem Wandgemälde durchziehen zarte helle Linien den wasserfarbigen Grund des Gemäldes und verdichten sich an einigen Stellen zu kostbar schillernden Goldpunkten. Im Gemälde verschmelzen Zeichnung und Malerei, während sich in der gesamten Installation mit der darunterliegenden Bar die Architektur und die Kunst zu einem Faltenfluss verbinden, der den Raum einfasst und zusammenhält.

Die Künstlerin Jorinde Voigt bei der Erläuterung ihrer Arbeit, Foto: Petra Kammann
Das besondere Gemälde entstand vor Ort, ganz ohne vorherige Skizze der Künstlerin, die zunächst den sich öffnenden Raum auf sich wirken ließ. Denn ihr lag daran, einen Bereich zu schaffen, in dem man sich empfangen fühlt und die Zeit, die man dort verbringt, als wertvoll empfindet.
Eine Woche lang stand die in Berlin lebende, gebürtige Frankfurterin Jorinde Voigt hochkonzentriert auf einem Baugerüst, und ließ sich aus dieser Perspektive vom Verlauf des Flusses Main, einst eine bedeutende Furt, inspirieren. Alles was wir wahrnehmen, schreibt sich in den Körper ein, lautet ihr Credo. Aus der Höhe heraus wollte sie eine unendliche Linie zeichnen, so weit ihr eigener Arm reicht. Eine risikoreiche und herausfordernde Aktion.

Das „Kontinuum“ in seiner Dynamik, die aus der Bewegung des Wassers entsteht – Ein Ausschnitt, Foto: Petra Kammann
Dabei ließ sie sich ebenso von den vorbeiziehenden Wolken beeinflussen wie von den damit verbundenen Klängen und „Himmelstönen“, sagt die Künstlerin, der das Notieren von Partituren durchaus vertraut ist, und die um ein Haar auch Cellistin geworden wäre. „Kaum gibt es eine authentischere, unmittelbarere Form als die handgezogene Linie“; davon ist sie überzeugt.
Halt geben dann im Bodenbereich die funktionalen Möbel wie der Tresen der Espressobar mit den hauchdünnen zartrosa Quarzitplatten aus Steinen der Region, die von einem wellenförmigen, silberspiegelnden Faltenwurf aus poliertem Edelstahl getragen werden. Sie wiederum korrespondieren mit dem gefälteten Counter am Empfang. Die Faltungen, Entfaltungen, Rundungen, Biegungen, Kurven und Widerspiegelungen werden also auch hier wieder aufgenommen.

Blick von der 30. Zwischenetage auf den Bartresen bei der Eröffnung, Foto: Petra Kammann
Die gesamte Raumanordnung mit ihren aufeinander bezogenen Sichtachsen wirkt in ihren sinnlichen Schwüngen so barock wie auch minimalistisch zugleich. Zart wie ein Kieselwurf auf eine Wasseroberfläche, setzen sich die teils spiegelnden Wellen endlos mäandernd im Raum fort.
Obwohl es sich bei dieser Installation um eine Auftragsarbeit handelt, ist hier nicht etwa das entstanden, was man üblicherweise „Kunst am Bau“ nennt, also etwas Additives, dekorativ Hinzugefügtes. Vielmehr wurde hier ein multimediales Gesamtkunstwerk entwickelt, das die verschiedenen künstlerischen Disziplinen wie Skulptur, Malerei, Zeichnung, Mobiliar, Design und Architektur ohne Rangunterschied in einem einzigem Raum vereint, das die musikalisch und ganzheitlich denkende Künstlerin zeichnerisch gescribbelt und in einer Art Partitur festgeschrieben hat.

Blick auf die Elemente des „Fibonacci“-Sofas, Foto: Petra Kammann
Zwar bilden Biegungen und Kurven der Werke die Grundstruktur dieses Raumes, welche Jorinde Voigt vorgegeben hat, doch gestaltete die Künstlerin vor Ort in Absprache mit dem Architekten Michael Beye, der ihr volles Vertrauen gegeben und freie Hand gelassen hat, die Details so individuell aus, dass Form und Funktion zu einem Ganzen verschmelzen.
Bei der Gestaltung des Gesamtraums hat die Künstlerin durchaus auch an die wichtige körperliche Entspannung der Ankommenden vor einem intensiven Gespräch gedacht. Denn beim Warten in einer Anwaltskanzlei kann sich immerhin immer auch etwas Beunruhigendes und Unerwartetes entwickeln, das der vollen Konzentration bedarf.
Ihre Gestaltungseinsichten gewann die Künstlerin aus der Beschäftigung mit der Philosophie der Leibniz’schen Idee von der Analogie zwischen den Faltungen der Materie und jenen der Empfindung.

Eröffnung und Diskussion bei Freshfields – v.li.: Kunstvermittlerin Juliane von Herz, Jorinde Voigt und Architekt Michael Beye, Foto: Petra Kammann
Ihr Umgang mit Material ist stets bestimmt vom Körpermaß und gebunden an die Bewegung. Entsprechend einladend sollte eben der Empfang gestaltet sein, wofür Voigt ein geschwungenes „Fibonacci“-Sofa entworfen hat, das modular veränderbar ist und somit jeweils neue Zentren im Raum schaffen kann.
So wurden die Halbkreise der Sofas geometrisch direkt aus der sogenannten Fibonacci-Reihe entwickelt. Sie können sich entweder endlos als Schlangenlinien im Raum fortsetzen oder intime halbrunde Sofainseln bilden, die konkav-konvex einander gegenüberstehen. Bezogen sind die Sofas mit einem edlen und geschmeidigen dunkelblauem Samt.
Beim wohlig-geschützten Sitzen wie auch ganz unmittelbar von der Terrasse hinter dem Empfang aus können Besucher somit völlig tiefenentspannt das Innere des Raumes erleben wie auch die Außenwelt mit dem Blick auf die umgebende Frankfurter City, vor allem die glitzernden Lichtern am Abend.

„Lichter einer (europäischen) Großstadt“- Blick von der Terrasse des 29. Stocks, Foto: Petra Kammann
Dem Auftragswerk war eine intensive Naturbetrachtung der Künstlerin vorausgegangen: von Himmelstönen, über Wolken- und Flussbewegungen, Gesteinen und Materialien der Region bis hin zu Farbnuancen – vom zarten Rosa der Morgenröte über das Silber des Wellenschaums bis hin zu den Grünblautönen der Wassertiefe und dem apollinischen Gold des Lichts, vor allem aber auch aus der Vorstellung und Erfahrung dessen, was der Mensch im 29. oder 30. Stock des Tower 1 im FOUR erblickt:
Berückende Stadtansichten und das Gefühl, dem Himmel ein Stückchen näher zu sein.
Gefaltete Zeit ist ein Auftragswerk von Freshfields Frankfurt, kuratiert von der Euphoria Gesellschaft für Kunst im urbanen Raum mbH in Zusammenarbeit mit den Architekten beye scheid guderle eckerth.
Freshfields, Tower ONE, FOUR, Große Gallusstrasse 14, 60311 Frankfurt am Main
