„Die Zeit hat kein Zentrum“ – Stücke aus der privaten Kunstsammlung von Ulrike Crespo
Die Sammlerin selbst: offen für die Fragen der Zeit und der Menschen
Von Petra Kammann
Unter dem Titel „Die Zeit hat kein Zentrum“ präsentiert die Crespo Foundation erstmals eine umfangreiche Auswahl mit rund 130 Werken aus der privaten, mehr als 800 Werke umfassenden persönlichen Kunstsammlung der Stiftungsgründerin, Fotografin und Psychologin Ulrike Crespo (1950–2019), angefangen von der Malerei über Zeichnungen und Skulpturen bis hin zur Fotografie und einer Videoinstallation. Die Schau spiegelt Crespos künstlerische Leidenschaft und ihren so individuellen offenen Blick auf die Welt wider: das Wahrnehmen, Erinnern und Aufbewahren von Zeitschichten in Artefakten, in „geprägte(n )Formen, die lebend sich entwickel(t)n„, wie Goethe es in Urworte. Orphisch nannte.

Wenn Sie diese Treppe hinuntergehen, treten Sie ein in Ulrike Crespos Kunstwelt und entdecken die Zeit in ganz unterschiedlichen Ausprägungen, Foto: Petra Kammann
Eigentlich ist das Haus der Crespo Foundation, welche die Stiftungsgründerin Ulrike Crespo, Enkelin des großen Kunstsammlers und Wella-Chefs Karl Ströher, dem das MMK in Frankfurt großartige Werke zeitgenössischer Kunst zu verdanken hat, kein Museum. Im Haus der Crespo-Stiftung in der Weißfrauenstraße finden seit nunmehr einem Jahr Workshops oder Veranstaltungen anderer Natur statt. Aus diesem Grund hatte der Architekt Michel Müller (Studio MC Darmstadt) innerhalb des sanierten 50er Jahre-Gebäudes im zentralen unteren Bereich vorausschauend einen jederzeit wandelbaren „Open Space“ geschaffen, um darin Raum für Begegnungen aller Art zu ermöglichen.

Im Dialog: Der Architekt Michel Müller, der für den weiten Raum die Paneelmodule schuf, und Kurator Mario Kramer, Foto: Petra Kammann
Abhängbare Stellwände unterteilen den luftigen Raum, in den auch Tageslicht fällt. Somit ist er auch für so besondere Kunstausstellungen geeignet wie für die jetzige Schau mit Werken aus der ganz persönlichen Kunstsammlung, die Ulrike Crespo nach ihrem Tod der Stiftung vermacht hat. Exzellent und kenntnisreich wurde sie von Dr. Mario Kramer, dem langjährigen Sammlungsleiter des MMK (Museum für Moderne Kunst), kuratiert.
Berührend sei es gewesen, noch einmal einen Blick in die ganz intime Sammlung, gewissermaßen „in das Wohnzimmer“ der besonderen Persönlichkeit Ulrike Crespo, zu werfen, sagt Mario Kramer, wo sie sich zwanglos und völlig selbstverständlich mit diesen Werken umgeben habe. Kramer hatte aus beruflichen Gründen wegen des MMK viel mit ihr zu tun: Besuch der documenta in Kassel oder der Biennale in Venedig inklusive. Auf einer Reise durfte er sie allerdings näher kennenlernen.
Gemeinsam mit dem Kunstbuchverleger Gerhard Steidl und dem Schriftsteller Günter Grass begleitete er sie auf einer Indienreise, wo sie einzelne Künstler in ihren Ateliers besuchten, u.a. die Protagonistin der indischen Gegenwartsfotografie Dayanita Sing in Neu Dehli, wo sie auf das mobile 7-bändige, „tragbare Museum“ in Form eines Leporello-Künstlertaschenbuchs stieß, das Städten wie Mumbai oder Indiens erstem Ministerpräsidenten Nehru gewidmet ist. „Send a letter“ (2008) nannte Sing dieses unkommentierte, so subjektive wie fiktive Bildertagebuch, das Crespo spontan vor Ort erwarb. Hier ist es edel auf einem siebengliedrigen Regal präsentiert.

Fotografien, die an die Sammlung des Großvaters Karl Ströher erinnern, erläutert Kurator Mario Krämer, Foto: Petra Kammann
Natürlich macht die Vielfalt der gesammelten und nun ausgestellten Werke den persönlichen Charakter dieser Sammlung sichtbar, wobei Fotografien wie die des legendären Stern-Fotografenstars Stefan Moses, der den Aufbau der Pop Art-Sammlung von Käthe und Karl Ströher in München von Anfang an fotografisch begleitete. Das nahm die damals 17-jährige Fast-Abiturientin und spätere Fotografin Ulrike Crespo bewusst wahr. Dieses festgehaltene Ereignis sollte für sie offensichtlich eine besondere autobiographische Rolle spielen sollte. Das große Porträt von Joseph Beuys hängt symbolisch in der Mitte der Wand.
So stellen Fotografien insgesamt einen besonderen Schwerpunkt der Ausstellung dar, gleich ob die von Man Ray, die skulpturalen Pflanzenfotografien eines Karl Blossfeldt aus den 1920er Jahren, die von Jörg Sasse, einem Vertreter der Düsseldorfer Becher-Schule, die der Frankfurter FAZ-Fotografin Barbara Klemm oder die der Niederländerin Juul Kraijer gemacht wurden, von der es auch eine Reihe feiner und fabelhafter Zeichnungen zu sehen gibt. In einem vom Licht abgeschirmten Bereich faszinieren die so geheimnisvollen großformatigen Fotografien des US-amerikanischen Fotografen Brian Mc Kee, der 2002 zum Beispiel die verlassene monumentale Theaterruine von Kabul mit ihren rätselhaften Inschriften festgehalten hat. „Wie nah sind wir an der feinen Linie, die Ordnung und Unordnung voneinander trennt“, kommentierte der 2018 unerwartet in Istanbul verstorbene Fotograf, der sich selbst als „visuellen Historiker“ bezeichnete.

Vorständin Prof. Christiane Riedel neben Stefan Hoenerlohs Gemälde zwischen architektonischer Fiktion und fiktiver kultureller Erinnerung, Foto: Petra Kammann
Minimalistisch und klein, dennoch nicht minder eindrucksvoll, wirken demgegenüber zwei Fotografien, miteinander in einem Rahmen verbunden, die „Lockungen“ von Bernhard Prinz aus dem Jahr 2001, die den monumentalen Fotografien gegenübergestellt sind. Sie stellen eine Art Doppelansicht der Stadt Nürnberg dar. Links das verfallene NSDAP-Reichsparteitagsgebäude in Schwarz-Weiß neben dem farbigen Porträt eines dunkelhaarigen Mädchens, dessen scheinbar unschuldigem Gesicht man ein gewisses Unbehagen anmerkt. Auch Heiner Blums Fotografie von 2014 „Rachele“ (Name der Ehefrau von Mussolini) lässt die Vergangenheit in einem neuen Licht erscheinen. Die Langzeitbelichtung wurde auf einer beschichteten Zinnplatte fixiert wie in der Anfangszeit der Fotografie vor knapp 200 Jahren durch Nièpce. Auf die Platte gebannte, festgehaltene und neue Zeiten präsentieren sich doppelgesichtig in ganz unterschiedlichen Werken.

Blick auf die Wand mit den Aquarellzeichungen von Schleime, Foto: Petra Kammann
Ebenso empfindlich wie fragil wirken die Aquarelle der schemenhaften, mystisch angehauchten weiblichen Wesen der ostdeutschen Künstlerin Cornelia Schleime, die 1984 nach West-Berlin floh und dabei einen Großteil ihres Werks verlor. Wie in einem Balanceakt hat die Künstlerin die Wasserfarben für die Figuren luftig, leicht und präzise aufs Papier gebracht, um die in sich versunkenen Gestalten zu porträtieren. Bei näherer Betrachtung glaubt man förmlich den Hauch des Atems unter dem Papier zu erahnen.
Ebenso besonders die Aquarelle der belgischen, in Frankfurt lebenden Künstlerin Nicole van den Plas, wie zum Beispiel ihr „Anonymus“. Dieses leicht verwischte Bildnis von 2003 wirkt wie eine ferne Erinnerung an ein berühmtes italienisches Jünglingsporträt aus der Renaissance, das hier jedoch durch die aufgebauschten längeren Frauenhaare ebenso weibliche Züge trägt wie auch der antike androgyne „Wagenlenker“. Ein Rollentausch? Und verbirgt sich vielleicht hinter „Little Charles“ am Ende gar der französische Dichter der Moderne der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Charles Baudelaire? Auf welche Vorbilder beziehen wir uns? Dient uns die Zeitschicht der Vergangenheit als Vorbild?

Blick in den Raum der Gemälde, u.a. von Günther Förg, Foto: Petra Kammann
Natürlich können in dem großen lichtdurchdrungenen Raum Gemälde wie Günther Förgs „Ohne Titel“ von 2007 aus der Serie der sogenannten Tupfenbilder ihre besondere Wirkung entfalten. Da scheinen auf der quadratischen weißen Leinwand die Rottöne in allen Variationen zu tanzen, so locker wie diese Farbtupfer und Pinselstriche wohl aus dem Handgelenk entstanden sind: „Eine Hommage an den Akt des Malens selbst“, wie Mario Kramer betont.
Auch hier schreibt sich der Rhythmus des Malens und Streichens in das Zeitempfinden ein. Gelungen ist die Gegenüberstellung mit der geschwungenen roten Skulptur des US-Künstlers Bill Thompson,„opiate“ aus dem Jahre 2011, ein Block aus Urethan auf Polyurethan. In der Gegenüberstellung öffnet das perfekt lackierte organisch geschwungene Objekt schlagartig den Blick für den Unterschied zwischen Malerischem und Skulpturalem.

Zwischen Fotografie und Malerei Blick in den Ausstellungsraum, Foto: Petra Kammann
Während beim Eintreten in den Ausstellungsraum zunächst schwarz-weiße Objekte ins Auge fallen wie zum Beispiel Imi Knoebels aus geometrischen Aluminiumrohren gebaute Wandinstallation „Cut-up“ aus dem Jahr 2011, so erweist sich dieses Werk bei näherer Betrachtung überhaupt nicht als monochrom. Mal schimmert ein glänzend lackiertes durch ein mattes Schwarz, an anderen Stellen ist im Schwarz ein Blau- oder Braunstich erkennbar. Dabei hatte Knoebel sich ursprünglich durch das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch inspirieren lassen, um dann dem auf den Grund zu gehen und neu zu denken, was Farbe und Skulptur miteinander verbindet. Geschickt dazu in Beziehung gehängt ist ein sogenanntes Ecriture-Gemälde, ein Schrift-Bild im wahrsten Wortsinne, das der schweizerisch-französische Fluxus-Konzepkünstler Ben Vautier 1992 in seiner Handschrift mit weißen Acryllack auf schwarzen Grund sprayte: „Die Zeit hat kein Zentrum“. So nannte er diese konzeptionelle Arbeit. Seine Erkenntnis gab auch der Ausstellung den Titel.

Rückseite von „Take Art as it comes“ mit der Widmung an Ully Crespo, Foto: Petra Kammann
Hat man die variationsreiche Schau mit ein bisschen Zeit durchwandert, so findet sich am Ende der Ausstellung eine weiterführende Tafel mit der Aufschrift des Künstlers aus dem Jahr 2010:„Take art as it comes“. Aber den Clou, den entdeckt man erst, wenn man hinter die ausgeschnittene Stellwand geht und dort auf dem Rücken des Bildes Vautiers Sprachwitz wahrnimmt. Handschriftlich nämlich hat er auf dem Bildrücken eine ganz persönliche Widmung für die Sammlerin Ulrike Crespo geschrieben und gezeichnet.
Ein Strichmännchen hält zwei Schilder hoch: eines mit „take love as it comes“ und ein anderes mit „take life as it comes“, während in der Mitte der Sprechblase mit kräftigem Stift geschrieben steht:“take Ully as she comes, always smiling“. Offensichtlich hat er die ganzheitlich denkende Person Ulrike Crespo (Ully) erfasst, ihre Offenheit, ihre Haltung gegenüber dem Leben wie der Kunst, weise lächelnd und – anders als ihr patriarchalischer Großvater – immer mit ihrer Empathie andere Menschen einbeziehend, was übrigens auch ihre frühere Mitarbeiterin Renate Bacher bestätigt, die sich nach ihrem Tod auch mit dem Nachlass beschäftigte.
Und nun macht „Ully“ uns das Geschenk, einen Blick in ihr privates künstlerisches und intuitives Reich zu werfen. Sie lässt uns ganz ohne Schwellenangst in ihr Haus der Kunst eintreten, unbefangen und (kosten)frei Bilder von ästhetischer Qualität entdecken, die nicht beschriftet sind, damit die eigenen Assoziationen der Besucher und Besucherinnen nicht beeinträchtigt werden. Jeder und jede hat das Recht auf das eigene Bild, das er oder sie sich macht.
Die Ausstellung
„Die Zeit hat kein Zentrum“ im Crespo Haus, Weißfrauenstraße 1–3, in Frankfurt.
Die Werke aus der Kunstsammlung von Ulrike Crespo sind dort bis zum 18. Januar 2026 zu sehen.
Der Eintritt ist frei. Einen Katalog gibt es zwar nicht, wohl aber ein Werkverzeichnis mit erhellenden Kommentierungen zu einzelnen Werken von Dr. Mario Kramer, Leonie Chima Emeka und Prof. Christiane Riedel.
Führungen
montags, jeweils 18.30 Uhr, und samstags, jeweils 16 Uhr
Rahmenprogramm:
Für Samstag, 15. November, 11 bis 18 Uhr, ist ein Aktionstag mit Führungen, Workshop und Artist Talk mit Juul Kraijer geplant
www.crespo-foundation.de
Gezeigt wird eine Auswahl von Werken, u. a. von Miriam Cahn, Ursula Edelmann, Bea Emsbach, Eric Fischl, Günther Förg, Bernard Frize, Angela Grauerholz, Gabi Hamm, Martha Jungwirth, Michael Kalmbach, Brian McKee, Barbara Klemm, Imi Knoebel, Juul Kraijer, Petra Morenzi, Stefan Moses, Tony Oursler, Vanessa Pey, Bernhard Prinz, Amparo Sard, Markus Schinwald, Cornelia Schleime, Dayanita Singh, Kiki Smith, Günter Umberg, Nicole van den Plas, Paloma Varga Weisz und Ben Vautier. Die Spannweite macht die Vielfalt und den persönlichen Charakter dieser Sammlung sichtbar.
