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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

75 Jahre Friedenspreis: Persönliche Erinnerungssplitter  

Immer wieder neue Anstöße: Was bedeutet Frieden?

Von Petra Kammann

Bescheiden hat 1950 alles angefangen mit der Verleihung des Preises an den Schriftsteller, Lektor und im norwegischen Exil lebenden jüdischen Verleger Max Tau. Und doch hat der Auftakt anspruchsvolle Maßstäbe gesetzt. Die Verleihung des Friedenspreises schon im Jahr danach in der damals nur notdürftig wieder aufgebauten Frankfurter Paulskirche bildet seither traditionell den Höhepunkt und Abschluss der Frankfurter Buchmesse. Inzwischen wird der renommierte Friedenspreis des Deutschen Buchhandels mit 25.000 Euro dotiert und erfährt viel mediale Aufmerksamkeit. Worum geht es inzwischen? Um Frieden oder Krieg? Stehen wir an einem Wendepunkt der Geschichte?

Die Anfänge des Friedenspreises in einer Ausstellung auf der Buchmesse 2009, Foto: Petra Kammann

Eigentlich hatte ich es mir nie vorstellen können, dass Krieg in unserem Land jemals noch einmal ein Thema werden könnte. Zu tief waren die Wunden und die Schatten, welche die Deutschen durch den Zweiten Weltkrieg hinterlassen hatten und für die wir uns auch als Nachgeborene mitverantwortlich fühlten. Das Thema Frieden war der Stern am Himmel. „Ganz fremd war mir der Gedanke, dass auch in der Bundesrepublik etwas ins Rutschen kommen könnte“, sagte am vergangenen Sonntag der diesjährige Friedenspreisträger Karl Schlögel. „Vor allem aber: dass der Krieg, der für mich etwas war, das ich nur vom Fernsehen oder aus Dokumentarfilmen kannte, etwas Reales in der nächsten Nachbarschaft werden könnte. Das aber ist geschehen.“ Er sprach mir, einer Nachgeborenen, die sich dankenswerterweise unbehelligt von unmittelbaren Kriegseinwirkungen entfalten konnte, aus dem Herzen. Frieden, dieser unerschütterliche Bezugspunkt, hat durch die weltpolitische Lage auch für uns Risse bekommen.

Der Friedenspreis wurde im Laufe der Jahre zu meinem Lieblingspreis. Und umso dankbarer bin ich heute, seither etliche Friedenspreisfeiern in der Frankfurter Paulskirche persönlich erlebt zu haben, um gewissermaßen von der „Kanzel“ aus und durch die Worte voller Würde aus den Mündern so berufener wie vorbildhafter Persönlichkeiten immer wieder neue Facetten und Denkanstöße zu erleben und Antworten auf die Frage, welche Bedeutung mit dem Begriff Frieden verbunden ist. Begierig sog ich die Reden und unterschiedlichen Darstellungen auf, möglicherweise, um mich zu wappnen gegen die Widrigkeiten und Ungerechtigkeiten möglicher Realitäten, die das Gegenteil von Frieden nahelegen.

Natürlich waren mir schon allein meines Studiums wegen gewisse Friedenspreisträger vertraut und wichtig wie etwa der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber, der auf Dialog setzte und durch dessen 100-Jahrfeier ich der hochmotivierten Ursula Assmus (1921–2017) begegnete. Die damalige Leiterin des Friedenspreissekretariats im Börsenverein des Deutschen Buchhandels im Großen Hirschgraben neben Goethes wiederaufgebautem Geburtshaus hatte selbst im Krieg ihre beiden Brüder verloren. Ihre Frankfurter Familie war mit Juden befreundet gewesen, ein Teil ihrer nahestehenden Verwandten, Theologen der Bekennenden Kirche, in die Schweiz emigriert.

Wie selbstverständlich sprachen wir über die Bedeutung des Friedenspreises, und einige der Preisträger waren für mich schon vertraut wie der Dichter Hermann Hesse, der deutsch-schweizerische Psychiater und Philosoph Karl Jaspers, der liberale Bundespräsident Theodor Heuss, der Philosoph Ernst Bloch mit seinem mutmachenden „Prinzip Hoffnung“, der Psychonalytiker Alexander Mitscherlich mit seinem vieldiskutierten Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“, das eine Aufarbeitungwelle auslöste.

Der in Frankfurt geborene, 1933 nach Frankreich emigrierte Politologe Alfred Grosser (1925-2024), blieb sein Leben lang Frankfurt verbunden, Foto: Petra Kammann

Dann der jüdische, in Frankreich lebende und aus Frankfurt stammende Politologe Alfred Grosser. Ihn hatte ich schon mehrfach in Diskussionsrunden außerhalb Frankfurts erlebt. Er war 1975 nicht nur der jüngste, sondern mit seinem Alter von 99 Jahren wurde er auch der älteste Friedenspreisträger. Zeit seines Lebens war er ein so wacher politischer und kritischer Geist wie herausragender Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich, der unermüdlich für die deutsch-französische Freundschaft warb. Nach ihm wurde sehr viel später der Alfred-Grosser-Lehrstuhl, eine Gastprofessur für Bürgergesellschaftsforschung an der Goethe-Universität, in Frankfurt eingerichtet. Die Ehrenbürgerschaft der Stadt Frankfurt, die er trotz vielfacher anderer renommierter Ehrungen für sich erhofft hatte, erhielt er leider jedoch nie.

Aber auch der Schweizer Autor Max Frisch zählte mit seinem Drama „Andorra“ in meiner Jugend zu meinen Vorbildern, weil er in dem Theaterstück gegen die Vorurteile anschrieb.

Den Schweizer Autor Max Frisch lernte ich erst 1981 kennen, Foto: Petra Kammann

Und dann hatte ich 1978 das Glück, im Börsenverein des Deutschen Buchhandels im Büro von Fräulein Assmus – wie  in dem stark von Männern geprägten Verband und damals überhaupt die Anrede noch hieß – mit der akribisch arbeitenden Ursula Assmus den Friedenspreis für die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren vorzubereiten. Durch sie lernte ich nach und nach die komplexen Kriterien kennen, die am Ende zu einer gelungenen und sinnvoll gefüllten Feier in der Paulskirche führten, wozu neben etlichen anderen Vorkehrungen auch die Vorbereitung einer möglichst internationalen Bücherschau gehört wie im Falle der beliebten Astrid Lindgren. Sie war zwar vom Stiftungsrat als Friedenspreisträgerin gewählt worden, hatte aber gleich zwei Makel. Sie war eine Frau und dazu noch die erste Kinderbuchautorin, die man eigentlich nicht ernst nehmen musste, weswegen der damalige Vorsteher glaubte, ihre vorgeschlagene Friedenspreisrede umschreiben zu müssen. Doch das hatte die selbstbewusste Frau, die schon anderes im Leben gemeistert hatte, als nur die erfolgreiche „Pippi Langstrumpf“-Bände zu schreiben, weiß Gott nicht nötig.

Astrid Lindgren (re) besuchte uns, Ursula Assmus und somit auch mich, 1978  in dem kleinen Büro des Börsenvereins im Großen Hirschgraben, Foto: Petra Kammann 

Ursula Assmus reiste kurzerhand nach Schweden, um diplomatisch zu intervenieren, damit Lindgrens eindringlicher Appell auch in der Paulskirche gehört werden konnte: „Wir alle wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen? Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern“, sagte sie in ihrer Rede, die sie um ein Haar nicht hätte halten können. Zum erstenmal saßen damals übrigens auch Kinder auf dem Boden der Paulskirche und lauschten aufmerksam den Worten ihrer Lieblingsautorin… Die Rede der Kinderbuchautorin gehört übrigens zu einer der nachgefragtesten Friedenspreisreden. Und der Befund der hintersinnigen und so frei denkenden Geschichtenerzählerin saß und ist bis heute gültig: „Niemals Gewalt!“

Das entsprach auch meiner Auffassung. Fortan war ich angesteckt von der Idee, dass die Verleihung des Friedenspreises nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit von hoher Wichtigkeit sei, sondern dass der Frieden immer etwas sein würde, dem man nur mit guten Argumenten, Reden oder wie auch immer begegnen müsse. So wurde der Friedenspreis jeweils zum Abschluss der alljährlichen Buchmesse für mich zu einem Muss. Immer wieder – und ich greife nur ein paar Beispiele heraus – wurden zahlreiche Debatten durch die Reden der Preisträger und ihrer Laudatoren in Gang gesetzt und über die Grenzen der Paulskirche hinaus eröffnet, die für die allgemein gesellschaftliche Entwicklung von Bedeutung waren und wurden.

Portrait von Jehudi Menuhin 1976 aus: Stephane Grapelli von  Allan Warren,GNU Free Documentation License /Wiksource

Wirklich beeindruckend sind zweifellos die jeweiligen Persönlichkeiten, die hinter diesem Preis stecken, weil sie ihre Stimme im passenden Augenblick erhoben hatten. Und nicht nur das. Es war auch der Ton, der die Musik machte. Ungewohnte Klangfarben und andere mediale Sprachen kamen im Laufe der Zeit hinzu. So griff der Dirigent und Geigenvirtuose Yehudi Menuhin in der Paulskirche kurzerhand zur Violine. Der Sohn russisch-jüdischer Eltern, der sich als Humanist und Weltbürger für die Benachteiligten dieser Welt einsetzte, wollte wohl in der schmucklosen Paulskirche mit dem unmittelbaren Spiel einer Bachschen Ciaccona aus der Partita für SoloVioline nicht nur den Verstand, sondern auch die Herzen der Anwesenden bewegen. Mit Eleanor Hope, der damaligen Managerin von Yehudi Menuhin übrigens, war UA, wie Ursula Assmus von Vertrauten liebevoll genannt wurde, im ständigen Gespräch. Sie ist übrigens die Mutter des heute so beliebten Geigers und Musikvermittlers Daniel Hope, der Menuhins Meisterschüler war. Auch so kann sich Geschichte fortschreiben…

Zur Erweiterung des Horizonts hier nur ein paar subjektive Schlaglichter wie die Erinnerung an das Jahr 1989, einem Jahr des großen Umbruchs. Da war es vor dem Mauerfall schon eine politisch brisante Entscheidung, den Prager Autor, Dramaturg und kämpferischen Bürgerrechtler Václav Havel, der zunächst zu neun Monaten Haft verurteilt war, auszuzeichnen. Die CSSR hatte dem Regimekritiker seinerzeit die Ausreise nicht gestattet. Wäre er trotz der Intervention von Bundeskanzlers Kohl und Bundespräsident von Weizsäcker gekommen, so hätte er vor allem anschließend nicht wieder zurück in sein Land kehren dürfen. Trotz seiner Abwesenheit war er durch die markante Stimme des Schauspielers Maximilian Schell dennoch ganz präsent, die anschließende Stille in der Paulskirche umso eindrucksvoller. Wenige Wochen später wurde Havel dann als Staatspräsident der Tschechoslowakei der erste Mann im Lande.

Kämpfer für eine friedliche Nahostlösung: der israelische Schriftsteller Amos Oz 1992, Foto: Petra Kammann

Wie mutig war der sprachmächtige und hochgebildete israelische Schriftsteller Amos Oz, der sich 1992 zunächst für die israelische Friedensbewegung „Peace Now“ engagierte und damit ein engagierter Vorreiter für die Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern war, auch wenn sich der israelische Patriot Oz später für eine Zweistaatenlösung einsetzte. Hat das an Aktualität verloren?

Prägend und geprägt von zwei Kulturen – von der arabischen wie von der französischen – war auch eine weitere bemerkenswerte kluge und mutige Frau: Assia Djebar. Als eine der wenigen Frauen wurde sie sogar in die renommierte Académie française aufgenommen! Wie selbstbewusst und im wahrsten Wortsinn „un-verschämt“ muss wohl die weibliche Stimme der algerischen, in französischer Sprache schreibende Schriftstellerin, Regisseurin, Historikerin und Hochschullehrerin Assia Djebar in der arabischen Welt geklungen haben, deren Ziel es war, „die bleierne Stummheit der algerischen Frauen spürbar zu machen, die Unsichtbarkeit ihrer Körper“, wie sie in der Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises im Wendejahr zum neuen Jahrtausend sagte, das andere neue, globale und östliche Perspektiven eröffnete.

Welch völlig untouristisches Bild vom Orient vermittelte uns 2005 zum Beispiel der aus Istanbul stammende Architekt und Schriftsteller Orhan Pamuk. In der Begründung über ihn hieß es: „Orhan Pamuk hat ein Werk geschaffen, in dem Europa und die muslimische Türkei zusammenfinden.“ Dabei hatte er zum Beispiel gewagt, den Völkermord an den Armeniern beim Namen zu nennen, weswegen er in der Türkei scharf angegriffen wurde. Orhan Pamuk habe sich verdient dadurch gemacht, wie sein Laudator, der Poet und Intendant der Berliner Festspiele Joachim Sartorius, sagte, dass er als erster Autor mutig in der muslimischen Welt öffentlich die Fatwa gegen Salman Rushdie verurteilt hatte.

Der Triestiner Autor Claudio Magris auf der Frankfurter Buchmesse, Foto: Petra Kammann

Und welches Fenster hatte doch 2009 Claudio Magris – ein Europäer durch und durch – der italienische, von der kakanischen Tradition und dem gesammelten Völker- und Kulturengemisch geprägte Schriftsteller aus der mitteleuropäischen Stadt Triest an der Adria und an der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien, aufgestoßen und uns nicht allein literarisch wieder schmackhaft gemacht! Magris ist bis heute ein glühender Verfechter eines offenen Europas.

Den franko-algerischen Autor und Friedenspreisträger Boualem Sansal traf ich mehrfach zum Gespräch, Foto: Petra Kammann

Ja, und dann der inzwischen krebskranke franko-algerische Autor Boualem Sansal, Friedenspreisträger 2011, der in seinem Land Algerien, das er bis heute liebt, etwas bewegen wollte und inzwischen seit Monaten dort wegen einer, dem Regime unliebsamen Meinungsäußerung, hinter Schloss und Riegel sitzt, denn er wurde wegen angeblicher „Verletzung der nationalen Integrität“ vor einem Jahr in Algerien zu fünf Jahren Haft verurteilt und wurde damit zu einer Geisel der angespannten französisch-algerischen Beziehungen. Dabei liebt Boualem Sansal sein Land, sonst hätte er es schon viel früher verlassen… Leider haben die Solidaritätsbekundungen bislang für ihn nichts bewirken können. Ein Trauerspiel, das zeigt, wie Diplomatie an ihre Grenzen stößt, wenn Positionen einmal verhärtet sind.

Liao Yiwu (rechts) mit einem Freund als Gast in der Paulskirche, Foto: Petra Kammann

Auch der chinesische Poet und Musiker Liao Yiwu, Friedenspreisträger des Jahres 2012, hat sich in mein Gedächtnis eingeschrieben. Bereits 1989 hatte der Regimekritiker „gegen die politische Unterdrückung aufbegehrt“ und sein Gedicht „Massaker“ verfasst, wofür er vier Jahre inhaftiert wurde. Über Jahre hinweg hatte Liao heimlich Interviews mit Augenzeugen und Angehörigen der Opfer des Massakers am 4. Juni 1989 auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ aufgeschrieben. Dieses  Massaker stand daher auch im Mittelpunkt seiner Dankesrede, in dem er das Riesenland und die damit verbundenen Herrschaftsansprüche ad absurdum führte. „Heute möchte ich allerdings eine andere Todesnachricht verkünden, die Nachricht vom Tode des chinesischen Großreichs. Ein Land, das kleine Kinder massakriert, muss auseinanderbrechen.“ Diesem wiederkehrenden Motiv in seiner Dankesrede, schloss er anrührend, ein mit zwei klangschalen begleitetes Lied  über „Die Mütter von Tian`anmen“. Es klingt noch heute nach.

Der brasilianische Fotograf und Friedenspreisträger Sebastião Salgado, Foto: Petra Kammann

Oft, aber nicht immer, standen vor allem Worte im Raum der Paulskirche. Medien kamen hinzu. Berührend waren in der Paulskirche nicht nur die großaufgezogenen Fotos des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado von der Schönheit der Erde und vom Raubbau, den wir mit Mensch und Natur treiben… Der vor kurzem verstorbene Salgado hatte die persönliche Initiative ergriffen, den ausgebeuteten Regenwald wieder aufzuforsten.

Der ukrainische Schriftsteller und Rockmusiker Serhij Zhadan, Foto: Petra Kammann

Der Ukrainer Serhij Zhadan, Preisträger aus dem Jahr des Kriegsbeginns 2022, der aus der inzwischen durch russische Angriffe schwer beschädigten  östlichen Metropole Charkiw stammt, hätte ich gerne in diesem weiteren Kriegsjahr lebendig in der Paulskirche erlebt. Sein Kampf gegen den russischen Aggressor ist inzwischen nicht mehr nur noch verbal oder musikalisch. Er hat sich freiwillig für die Armee gemeldet… Man kann nur hoffen, dass er es überlebt.

Der versehrte, aber ungebeugte Friedenspreisträger Salman Rushdie 2023, Foto: Petra Kamman

Und natürlich wird der unbeugsame indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie, der seit Jahren von der Fatwa mit dem Tod bedroht wurde, weil er mit seinem Roman „Die Satanischen Verse“ den Islam, den Koran und den Propheten Mohammed beleidigt habe. Nach 33 Jahren, in denen er versteckt und unter Polizeischutz lebte, verlor er 2022 durch ein lebensbedrohliches Attentat auf ihn ein Auge. Eine islamisch-politische Geschichte? Wie auch immer, sie betrifft auch uns als Europäer ebenso, wie der nun schon langanhaltende Krieg in der Ukraine, wo tagtäglich Menschen ihr Leben lassen und Häuser, Krankenhäuser und Industrie- und Versorgungsanlagen zerstört werden.

Der kenntnisreiche Historiker und Osteuropa-Spezialist fühlt sich den Menschen in der Ukraine wie in Russland verbunden, Foto: Petra Kammann

Da traf mich die Rede des Ost-Europa-Experten und diesjährigen Friedenspreisträgers Karl Schlögel ins Mark, nicht nur, weil  er den Satz des geschätzten Walter Benjamin zitierte: „Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg“. Über Jahre ist der kenntnisreiche Geschichtsanalytiker Schlögel nach Russland, in die Ukraine gereist, um sich ein Bild vor Ort zu machen, von der Kultur, von den Menschen unterschiedlichster Herkunft, und er hat Anteil an ihrem Schicksal genommen.

Seit der Annexion der Krim 2014, die bei uns nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen wurde, hat er den zunehmenden Putinismus wahrgenommen und weiterverfolgt und kommt zu dem Schluss: Vom Ausgang dieses Krieges hängt die Zukunft Europas ab – und ein Sieg der Ukraine ist daher für uns nicht nur moralisch geboten, sondern auch in unserem eigenen Interesse. Und so befindet Schlögel in aller Klarheit: „Was dort auf dem Spiel steht, ist Europa, ist der Westen – wie immer wir das nennen wollen –, eine Lebensform, die Putin und seinesgleichen als Bedrohung empfinden. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt“.

Er sagte es nicht etwa, um Kriegsgedanken zu schüren, sondern besonnen und voller Melancholie, als Bewunderer russischer Kultur und Literatur,  – seine Frau ist eine russische Schriftstellerin – aber auch, um uns Mut zuzusprechen. Er würdigte die erschöpften Ukrainer mit ihrer Widerstandskraft gegen die russischen Aggressoren, die uns trotz ihrer misslichen Lage als Beispiel dienen könnten. „Weil sie nicht Opfer sein wollen, wehren sie sich. Sie sind auf alles gefasst.“

Davon könnten wir uns, die wir dazu neigen, über jede Krise zu jammern, eine Scheibe abschneiden und die Ukrainer zum Vorbild nehmen. „Sie sind der Spiegel, in den wir blicken und der uns daran erinnert, wofür Europa einmal gestanden hat und weshalb es sich lohnt, es zu verteidigen. Sie rufen uns zu: ‚Habt keine Angst‘ – nicht weil sie keine Angst haben, sondern weil sie ihre Angst überwunden haben. Sie sind es, denen wir unseren Frieden verdanken“. Nicht nur das.

Schlögel ermunterte uns, Haltung und Würde zu zeigen und endete mit dem Satz: „Von der Ukraine lernen, heißt furchtlos und tapfer sein, und vielleicht auch siegen lernen.“ Nach dem Applaus hatte es so manchen Besuchern förmlich die Sprache verschlagen. Nachdenklich verließen sie die Paulskirche. Manche mit Tränen.

 

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