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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Karl Schlögel: Friedenspreisträger als Warner, Mahner – und Ermutiger

Engagierte und bewegende Rede in der Paulskirche – Osteuropa „lesen“ und leben

Von Uwe Kammann

Dem Historiker, Autor und Publizisten Karl Schlögel wurde am 19. Oktober in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Die Laudatio hielt die in Berlin lebende, aus der Ukraine stammende Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Katja Petrowskaja. Hier fassen wir Eindrücke des Festaktes zusammen.

Die Dankesrede des diesjährigen Friedenspreisträgers Karl Schlögel wurde mit anhaltendem Applaus bedacht, Foto: Petra Kammann

Gab es je einen längeren Beifall nach der Dankesrede eines Friedenspreisträgers? Wenn die Erinnerung nicht trügt: nein. Und das nach einem Schlusssatz, der in vielen deutschen Ohren sicher immer noch befremdlich klingt. „Von der Ukraine lernen, heißt: furchtlos und tapfer sein, vielleicht sogar siegen lernen.“ Wenn der Historiker Karl Schlögel eine solche Feststellung trifft, dann nicht leichtfertig und geschichtsrevisionistisch. Sondern, weil er hart aus einer Überzeugung gerissen wurde, die er lange mit vielen Zeitgenossen im westlichen Europa teilte: dass es eine vermittelnde Koexistenz mit einem Russland gegen könnte, dessen Kultur er seit vielen, vielen Jahren kannte und liebte. Dann aber mit der Besetzung der ukrainischen Krim durch das Putin-Russland, der jähe Bruch, die Einsicht, dass sich brutal durchzusetzen begann, was er jetzt unumwunden das „Böse“ nennt, geprägt durch Akteure, die „das Ungeheuerlichste“ vollbringen.

Mit solchen Begrifflichkeiten des diesjährigen Friedenspreisträgers wurde die Paulskirche an diesem hellen Sonntagmorgen, dem Abschlusstag der Buchmesse, zu einem Ort des Klartextes; mit der unerschrockenen Beschreibung und Analyse dessen, was den Kern und das politische Umfeld des Angriffskrieges auf die Ukraine ausmacht – eine  Attacke, die der profunde Kenner Osteuropas als fundamentalen Angriff auf ganz Europa versteht, ausgehend von einem Regime, „das die Ukraine als unabhängigen Staat vernichten will und das Europa hasst“. Dem Aggressor entgegenzukommen werde nur „dessen Appetit auf noch mehr“ steigern, so die Schlussfolgerung mit der zur Mahnung und Warnung verdichteten Leere, „dass Appeasement nicht zum Frieden führt, sondern den Weg in den Krieg ebnet“.

Der aus Kiew stammenden Laudatorin Katja Petrowskaja ist auch Russland durchaus vertraut, Foto: Petra Kammann

Ebenso klar und deutlich hatte zuvor in ihrer Laudatio die seit 1999 in Berlin lebende Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Publizistin Katja Petrowskaja die Lage in ihrem Heimatland beschrieben. Ihr – der sie in Kiew geboren sei, in Russland studiert und in mehreren der von Karl Schlögel erforschten Ländern gelebt habe – sei dessen Trauer sehr nah, „wie auch die Notwendigkeit seines Engagements“.

Ein Engagement, dass sich in dieser Form erst nach der Besetzung der Krim im Jahr 2014 herausgebildet hat. Ein Jahr später hatte Schlögel, für den diese militärische Annexion auch „nicht absehbar“ gewesen war, schon mit der russischen Memorial-Aktivistin Irina Scherbakowa – sie hielt im letzten Jahr beim Friedenspreis die Laudation auf Anne Applebaum – in einem gemeinsamen Buch „Einsichten in einer Beziehungskrise“ formuliert („Der Russland-Reflex“). Jetzt, zehn Jahre später, ist sein Urteil glasklar und mit einer festen Haltung verbunden.

Der Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt  Mike Josef sprach ein Grußwort und verwies auf die jüngste Partnerstadt Frankfurts, das ukrainische Lwiw, Foto: Petra Kammann

Das daraus resultierende Engagement war in jedem seiner Sätze in der Paulskirche zu vernehmen. Mit offenem Blick für das durch Kriege geprägte Unheil in der Welt und eine gewendete Zeit, deren düstere Begleiterscheinungen er auch in Trumps Amerika erblickt, mit gebrochenen Allianzen einer lange für gültig gehaltenen gemeinsamen Werteordnung. Auch dieses Land hat er, seiner Methode treu, erwandert. Um das zu gewinnen, was in der Laudatio und in den Begrüßungsworten des Frankfurter Oberbürgermeisters Mike Josef und der Vorsteherin des Börsenvereins, Karin Schmidt-Friderichs, als hervorstechende Eigenschaft benannt wurde: Anschauung.

Grußwort der Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, Foto: Petra Kammann

Was vor allem bedeutet: Sich den Menschen, den Orten, den Landschaften zu nähern, ihren Alltag und ihre Ansichten wahrzunehmen (ganz wortwörtlich also), ihr Leben und dessen Umstände zu „lesen“, ihre Geschichte über ihre Geschichten aufzunehmen, ihren Zusammenhängen nachzuspüren. „Von der Seitenlinie aus“, so bezeichnete es Schmidt-Friderichs. Mit der Charakterisierung als „Flaneur“ wurde aber eine falsche Fährte ausgelegt.

Denn immer war und ist mit diesen Erkundungen, mit diesen Lesarten schließlich das Interesse an Erkenntnissen verbunden, die als Beschreibungen, als Einsichten, als Urteile formuliert werden. In einer Form, die am besten immer noch als Essay zu beschreiben ist, als Annäherung durch eine eigens schwingende Sprache. Mit gemeinhin üblicher Wissenschaftsdarstellung hat das wenig zu tun (überhaupt, die 1990 begonnene Universitätskarriere zunächst in Konstanz und dann von 1994 bis 2013 an der Viadrina in Frankfurt an der Oder gehorcht keinen Konventionen).

 

←Dieser Sammelband mit Texten seit 2014 erschien gerade im Hanser Verlag

Sein besonderes Vermögen der Annäherungen und der auf detailgenauen Beobachtungen beruhenden Darstellungen zeigt sich schon unverkennbar in den Titeln seiner Bücher (gerade erschienen: »Auf der Sandbank der Zeit. Der Historiker als  der Gegenwart»).

Einige seien hier exemplarisch genannt: »American Matrix. Besichtigung einer Epoche« (2023); »Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen« (2022); »Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt« (2022); „Der Duft der Imperien. Chanel N° 5 und Rotes Moskau« (2020); »Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent« (2013); »Moskau lesen« (2011); »Terror und Traum. Moskau 1937« (2008); »Im Raum lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik« (2003); »Die Mitte liegt Ostwärts. Europa im Übergang« (2002)M ; »Go East oder die zweite Entdeckung des Ostens« (1995).

Go East: Das hatte für den 1948 in einer Bauernfamilie geborenen Schlögel – der in Berlin Osteuropäische Geschichte, Philosophie, Soziologie und Slawistik studiert hat, zeitweise in der maoistischen KPD aktiv war – schon früh begonnen, mit einer Reise nach Moskau in der Mitte der 60er Jahre. Nachgelassen hat die damals begonnene Faszination, die sich dann auf alle Länder Osteuropas ausweitete, nie, zumal sich die Erfahrungen und die persönlichen Beziehungen immer mehr verdichteten. Mit welcher Wachheit, Neugier und menschlicher Zugewandtheit Schlögel seine Streifzüge beim „Lesen“ von Städten unternimmt, zeigte ein  Schlögel auf einer Reise nach Lemberg begleitender Film der 3sat-„Kulturzeit“, welcher in einem Ausschnitt auch der Preisverleihung vorangestellt war (die Fernsehübetragung des Festaktes schafft eine eigene Dramaturgie).

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, welcher der Feier in der Paulskirche beiwohnte, hat als Politiker die Verdienste des Preisträgers in einem Statement so knapp wie prägnant zusammengefasst: „Wie kaum ein anderer hat er den Blick Europas nach Osten geöffnet, mit wissenschaftlicher Brillanz, erzählerischer Kraft und moralischer Klarheit. Seine Werke machen Geschichte lesbar und begreifbar.“ Und konkret habe er „schon sehr früh und klar auf das völkerrechtswidrige und aggressive Expansionsstreben des russischen Präsidenten hingewiesen“ und sich mit „seiner Expertise in den vergangenen Jahren klar für die Unterstützung der Ukraine ausgesprochen“.

Ob Weimers aber mit der Zukunftsaussicht Recht behalten wird, „dass seine Stimme durch die Auszeichnung mit dem Friedenspreis nun noch stärker gehört wird“, als „Gewinn für unser Land und für Europa“? Denn ein Zwischenbeifall war durchaus vieldeutig auszulegen, als Schlögel – der übrigens in seiner Jugend selbst mal in der maoistischen KPD aktiv war –  die deutschen Reaktionen auf Russlands Angriffskrieg kritisierte:

„Es ist erstaunlich, wie lange es in Deutschland gedauert hat, gewahr zu werden, womit man es mit Putins Russland zu tun hat“. Werde dieses weite Feld einmal historisch aufgeklärt, gehe es um „eine Aufarbeitung, die niemanden verschonen wird“. Seine Zuspitzung „Es gab viele Russland-Versteher, aber zu wenige, die etwas von Russland verstanden.“

Der Stiftungsrat des Preises hatte in seiner Begründung hervorgehoben, dass Schlögel als einer der ersten vor der aggressiven Expansionspolitik des russischen Präsidenten Wladimir Putin gewarnt habe. Jetzt unterstrich Schlögel noch einmal, dass Putin die Vorstellung, dass er sich an Argumente oder an Verfahrensregeln halten würde, „von Anfang an widerlegt“ und die Regelverletzung zum System gemacht habe: „Er war und ist der Meister der Eskalationsdominanz.“

An klaren Urteilen, Warnungen, Voten und Worten, das zeigte sich in zahlreichen Passagen sowohl der Dankesrede Karl Schögels als auch der Laudatio Katja Petrowskajas, fehlte es bei dieser Friedenspreisverleihung nicht. Ob aber die Hoffnung des Preisträgers, dass der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung Putins Plan scheitern lassen könne, in der Wirklichkeit eingelöst werden kann? Dies wird sich zeigen.

Klar und aufrecht: der diesjährige Friedenspreisträger Karl Schlögel, Foto: Petra Kammann

Auf jeden Fall gilt: Der Historiker und Essayist Karl Schlögel setzt darauf, sieht einen zentralen Satz der Preisurkunde – „Seine Mahnung an uns: Ohne eine freie Ukraine kann es keinen Frieden in Europa geben“ – nicht als Leerformel. Und vielleicht belegt der intensive, so lang anhaltende Beifall zu seinen Schlusssätzen – „Von der Ukraine lernen, heißt: furchtlos und tapfer sein, vielleicht sogar siegen lernen“ –, dass sein Lehrsatz verinnerlicht wurde, zumindest in diesem Augenblick. Wobei möglicherweise noch die Erinnerung an einen vorherigen Satz der Dankesrede mitschwang: „Auszuhalten, durchzuhalten, der unsäglichen Erschöpfung zum Trotz – das ist die Revolution der Würde in Permanenz.“

 

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