Angela Hewitt: Virtuoses Ausleuchten der Bachschen Klavierspektren
Die Frankfurter Bachkonzerte schlagen einen überzeugenden zeitlich-musikalischen Bogen
Von Uwe Kammann
Immer noch eine Legende bei Bach-Interpretationen aus dem Klavier-Repertoire: Glenn Gould – mit dem Ruch des Exzentrischen. Im Rhein-Main-Raum ist heute András Schiff die feste Größe, der im optisch schwingenden Saal des Casals-Forums der Kronberg-Academy das Ideal einer fein austarierten Darstellung verkörpert. Wie würde sich nun die Interpretation einer Grande Dame des Bachschen Klavierwerkes anhören, der aus Kanada stammenden Angela Hewitt, die in vielen Konzertsälen der Welt geschätzt und gefeiert wird, mit bedeutenden Auszeichnungen geehrt, darunter auch die Bach-Medaille aus der Stadt, die mit dem Namen des Komponisten am engsten verbunden ist, natürlich, Leipzig.
Saison-Auftakt mit der kanadischen Pianistin Angela Hewitt, Foto: Bachkonzerte
Der stets hochengagierte Veranstalter, der Verein der Frankfurter Bachkonzerte, erhoffte sich von diesem ersten Konzert der neuen Saison nicht zuletzt eines: einen ungewöhnlichen, einen unkonventionellen und frischen Zugang zu einem Werk, das bei manchen im Ruf steht, zu streng aufgebaut zu sein, in vielen Momenten zu sehr einer mathematisch-engen Regelhaftigkeit verpflichtet. Die Intention ging auf, die Erwartung wurde nicht enttäuscht, auch das Publikum war begeistert, weil es mit fortlaufender Steigerung jene Lebendigkeit er-hörte, welche neue Bezüge eröffnete.
Christian Kabitz – dem Frankfurter Publikum vor allem als Dirigent und Chorleiter des Cäcilienchors bestens vertraut – lieferte im Text des Programmheftes (verdichtet auch in einer Konzerteinführung) – eine ganze Reihe von Stichworten, mit denen das Spannungsfeld des Abends zu umschreiben war. Ein Abend, der tatsächlich das Auditorium auf eine intensive Zeitreise schickte.

Konzerteinführung mit Christian Kabitz im Mozart-Saal, Foto: Petra Kammann
Denn den einleitenden sechs Fugen und Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier schloss sich, gleichsam kontrastierend, ein Stück Felix Mendelsohn Bartholdys an (Präludium und Fuge e-Moll op. 35,1); dann, vom Geburtsjahr her ein ganzes Jahrhundert später, Dmitri Schostakowitschs Präludium und Fuge f-Moll op. 87 Nr. 18; bis schließlich ein fulminantes Stück von Samuel Barber – die Fuge aus der Klaviersonate es-Moll op. 26 (schon wortwörtlich befeuert mit der Anweisung Allegro con spirito) – den konzeptionell überzeugenden Bogen des ersten Teil des Abends beschloss: gleichsam in einer übergreifenden Linie die architektonischen Möglichkeiten der Bachschen Fugenkonstellationen auslotend.
Ein zugleich intellektuelles und sinnliches Arrangement, das Angela Hewitt sichtbar genoss. Und genau in jenem Spannungsfeld ausmaß, das Kabitz treffend so benannt hatte: ein „Nebeneinander von Freiheit und Strenge“, das sehr viel mehr Spielraum eröffnet als eine durchgehende „Beherrschung“. Man sah es Hewitt an, wie sie sich an ihrem eigenen souveränen Zugriff erfreute – mit immer wieder für einen winzigen Moment leicht zum Publikum gewendeten Kopfbewegungen, in der Geste eines kaum versteckten Triumphes: Sehr her, das ist meine Les- und damit Spielart. Eine Spielart voller Temperament, voller eruptiver Emotionen, die dann aber auch einer intensiven Innerlichkeit weichen konnten, einem sinnenden Lauschen nach zartestem Empfindungen.
Genau solche Kontraste – die eben keinesfalls etwas Widersprüchliches oder Gegensätzliches bedeuteten – bestimmten auch ihre Mendelssohn-Interpretation, in einer dynamischen Variationslinie, die beglücktes Staunen hervorrief, ebenso wie das nachfolgende Schostakowitsch Präludium und Fuge, die nicht eine Sekunde an das manchmal sich einstellende Klischee bei diesem Komponisten denken ließ.
Und dann, ja dann, eine fulminante Steigerung zu einem Klangrausch bei der Fuge aus Samuel Barbers Klaviersonate. Das Publikum hielt schier den Atem an angesichts des überschäumenden Temperaments des Stückes, das von Hewitt in einem fast höllischen Tastenritt bis zum äußerstem gesteigert wurde, mit einer technischen Brillanz, die es erlaubte, trotz des gleichsam orgiastischen Klangs die darunterliegende Struktur wahrzunehmen. Der Beifallsrausch des Publikums spiegelte die ekstatische Darbietung der Pianistin.
Dann, nach der bewusst hier gesetzten Pause – die es erlaubte, diese kontrastierenden Gefühlswelten des ersten Teils innerlich sich beruhigen zu lassen – folgte dann, wie ein eigener musikalischer Raum, die Partitata Nr. 6 e-Moll (BWV 830), gut doppelt so lang wie die sonst 16, 17 Minuten dauernden Partiten Bachs. Warum der Komponist diese zeitliche Ausdehnung wählte, ist nach Kabitz eine Frage ohne direkte Antwort, so dass es auf Mutmaßungen hinauslaufe. Was aber hörbar zu erkennen war in der mehr als halbstündigen Interpretation: dass Bach hier mit größter Lust spielerisch alles aufnahm, was sich in dieser Großform nur verbinden ließ an ausgeprägten einzelnen Elementen der sonst in einem konventionellerem Rahmen gebräuchlichen tänzerischen Formen, von der Allemande über die Corrente und Air bis zur Sarabande und Gavotte.
Es wirke so, das jedenfalls vermutet Kabitz, als ob Bach „habe beweisen wollen, dass man den alten Bezeichnungen komplett neue Inhalte implantieren könne“, und dies in größtmöglicher Virtuosität, bei der Corrente sogar „fast jazzartig“. In Angela Hewitts Interpretation folgte das Publikum einer Art von Wanderung, voller Entdeckungen, voller Staunen, voller Bewunderung für den spielerischen Reichtum und die einzelnen ausschweifenden Wegerkundungen Bachs, die aber stets zur gedachten Ur-Linie zurückführten. Ein wahres Wunderwerk, das Hewitt auf ebenso wunderbare Weise in seiner Komplexität fast traumwandlerisch erklingen ließ.

Glücklicher Abschluss des Konzerts mit der Aria aus den Goldberg-Variationen als Zugabe, Foto: Petra Kammann
Kaum enden wollender Beifall belohnte diese Bach-Beglückung, der die Pianistin zwei Zugaben folgen ließ: ein sanft-innigliches „Lied ohne Worte“ von Mendelssohn und eine Aria aus den Goldberg-Variationen. Auch hier wieder: ein bewusstes Ausloten kontrastierender Klangräume.
Alles in allem: ein sehr gelungener Saisonauftakt der Frankfurter Bachkonzerte. Die übrigens demnächst auch Ausflüge wagen, und zwar in das Casals Forum der Kronberg Academy: mit einer Konzertreise unter dem vielversprechenden Titel „Bach im Fluss“.

