Puccinis „Turandot“ am Staatstheater in Mainz
Entromantisiert und mit offenem Ende
Von Walter H. Krämer
„Turandot“ ist die letzte Oper von Giacomo Puccini. Das Libretto schrieben Giuseppe Adami und Renato Simoni nach dem gleichnamigen Theaterstück (1762) von Carlo Gozzi. Das der Commedia dell’arte nahestehende Märchenspiel war von diesem Autor dramatisiert worden und diente als Vorlage für die Oper. Gegenüber der Vorlage war Turandot aber bei Puccini keine kalte Schönheit, sondern am Ende gedacht als eine liebesfähige Frau. Das Staatstheater Mainz zeigt Giacomo Puccinis (1858 1924) Oper „Turandot“ (UA 1926 in Mailand) in seiner nicht fertig gestellten Fassung und somit den einzig wahren Puccini.

Facettenreich: Julija Vasiljeva als Turandot, Foto: Johannes Etter
Die Erzählung geht auf „Die sieben Schönheiten“ aus der orientalischen Sammlung „Tausendundein Tag“ zurück. Darin stellt die ihre Freiheit liebende chinesische Prinzessin Turandot jedem, der um ihre Hand anhält, drei Rätselfragen. Löst der Freier die Rätsel nicht, fällt sein Haupt unter dem Beil eines Henkers. Etliche Bewerber haben deshalb inzwischen schon ihren Kopf verloren.
Trotz aller Warnungen – besonders auch von der Sklavin Liù – stellt sich Calaf, vertriebener Sohn des ebenfalls in der Fremde umherirrenden Königs Timur, dieser Aufgabe und löst die drei Rätsel auch deshalb, weil er sie als Leitfaden zu der um ihre Unberührtheit bangenden Turandot begreift. Die drei Rätsel der Prinzessin Turandot und deren Auflösung in Puccinis Oper lauten:
1. „Was wird jede Nacht geboren und stirbt jeden Morgen?“ (Antwort: Hoffnung),
2. „Was lodert warm wie eine Flamme, und ist doch keine Flamme?“ (Antwort: Blut) und
3. „Wer bin ich?“ (Antwort: Turandot selbst).
Puccini kommt es dabei auf die emotionale Glaubwürdigkeit der Titelheldin an. Deshalb motiviert Puccini ihr Beharren auf Jungfräulichkeit durch die Geschichte von Turandots Urahnin, die einstens von einem fremden Prinzen vergewaltigt wurde und geschändet starb.
Den richtigen, musikalischen Schluss dafür zu finden, soll Puccini als Tortur erlebt haben. Er suchte für den Schluss eine „ungewöhnliche, markante Melodie“ und notierte: „tipica, vaga, insolita“. Puccini konnte sich aber auf keine festlegen, obwohl er wusste, dass er bald sterben würde und so endete Puccinis Werk mit dem Tod von Liù – und seinem eigenen.

Tim Lukas Reuter und Patrick-Hoerner, Statisterie und Chor, Foto: Johannes Etter
Bei der von Arturo Toscanini geleiteten Uraufführung 1926 wurde die Oper auch mit dieser Szene beendet. Über diese Aufführung wird berichtet: „Aufgrund seiner früheren Erfolge, und da man einem Toten nichts Schlechtes nachsage, wurde der 1. Aufzug mit stürmischem Beifall empfangen. Nach dem 2. Aufzug war der Applaus nur noch der Form halber höflich. Während des dritten Aufzuges legte Toscanini nach dem Tode der Liù den Taktstock nieder und sprach: ‚Hier endet das Werk des Meisters. Danach starb er.‘ Woraufhin ein ergriffenes Schweigen im Raum schwebte, bis eine Stimme aus den Rängen rief: ‚Viva Puccini!‘ und ohrenbetäubender Jubel brach los.“.
Heute wird meist das von Franco Alfano aus Kompositionsskizzen zusammengestellte Finale angehängt. Toscanini hielt das Finale Alfanos allerdings für zu eigenständig und zu lang und kürzte es um etwa ein Drittel. Tatsächlich hatte Alfano die Anweisung Puccinis, jeden „Bombast“ zu vermeiden, nicht beachtet und einen gewaltigen, pompösen Schluss komponiert. Auch ein symphonisches Intermezzo, in dem Puccini den Kuss, der Turandot schließlich erweicht, nachzeichnen wollte, komponierte er nicht.
Mittlerweile existiert ein weiterer alternativer Schluss des italienischen Komponisten Luciano Berio aus dem Jahre 2002. Gerade weil in Alfanos Schlussszene der alles verändernde Kuss kaum musikalische Ausgestaltung erfährt, machte sich Berio an diese Aufgabe. Außerdem versetzt er dem Schluss ein musikalisches Fragezeichen, stellt das plötzlich eintretende Happy End somit in Frage. Die Theater haben also die Wahl.
Die Arie „Nessun dorma!“ aus Puccinis „Turandot“ ist einer der größten Hits der Klassik und führt mittenrein in das komplexe Thema der kulturellen Aneignung: Einerseits hat Puccini in der 1926 uraufgeführten Turandot eine umwerfende, teilweise geniale Musik geschrieben. Andererseits sind die Handlung und das ganze Setting aus heutiger Sicht problematisch, weil sie viele westliche Klischees über ein vermeintlich märchenhaftes Asien beinhalten.
Da kann man sich die Frage stellen: Wie soll man heute damit umgehen? Dazu hat die Journalistin Katherine Hu, eine US-Amerikanerin mit taiwanesischen Wurzeln, 2019 in der New York Times eine klare Meinung formuliert: Um zu überleben, sollte die Oper die Tiefen ihres Rassismus und Sexismus klipp und klar ansprechen und die Oper wie historische Artefakte behandeln. Regisseure sollten sich einer Neuproduktion annähern wie Kuratoren in einem Museum. Indem sie das Publikum über den historischen Kontext informieren und die Stereotype sichtbar machen.
In Mainz ist nun die nicht vollendete Fassung von Puccini zu sehen und zu hören und somit die einzig wahre „Turandot“ von Giacomo Puccini.
Der Regisseur und gleichzeitig Bühnen- und Kostümbildner Gianluca Falaschi inszeniert die Oper mehr als eine Untersuchung innerer Zustände, denn als ein exotisches Märchen und entgeht somit auch dem Vorwurf einer kulturellen Aneignung. Wir befinden uns hier nicht in einem märchenhaften Peking, sondern in einem Casino namens Peking, angesiedelt in einer amerikanischen Chinatown. Die 80er Jahre mit ihren leuchtenden Farben, breiten Schulterpolstern und künstlicher Euphorie. Eine illustre Gesellschaft vergnügt sich hier und versucht sich im Glückspiel.
Teil des Spiels ist auch das Frage- und Antwortspiel der Turandot, auf das alle gespannt warten. Als Hauptpreis winkt nichts weniger als die Ehe mit Turandot. Dem Verlierer allerdings der Tod. Gerade geht es einem persischen Prinzen an den Kragen, dem nicht zufällig der Schriftzug Loser auf den nackten Oberkörper gemalt wurde.

Ping, Pang, Pong in ihrer Hexenküche: Mark Watson, Williams Gabriel Rollinson und Myungin Le, Foto: Johnnes Etter
Im zweiten Akt erleben wir die drei Köche Ping, Pang, Pong in ihrer Hexenküche beim Zersäbeln der Leichen – einer Arbeit, der sie überdrüssig scheinen und von einer andren Zukunft träumen. Doch sie sind Teil des Systems und machen weiter. Diese Szene ist eine Mischung aus Slapstick und Halloween und man kommt hier der Comedia dell’arte sehr nahe.
Die Minister Ping, Pang und Pong nehmen sowohl musikalisch als auch szenisch einigen Raum ein. Diese drei sind Teil des Systems, desillusioniert, und gezwungen, eine Ordnung aufrecht zu erhalten, die sie unterdrückt. Sie verkörpern die Ambivalenz der Macht und die Müdigkeit des Dienens. In ihren Erzählungen von der fernen Heimat werden ihre tief empfundenen Sehnsüchte hörbar. Die Sehnsucht nach einem Leben in Frieden und Freiheit – jenseits aller Tyrannei und dem Handwerk des Tötens.
Als Liù nach ihrer Selbsttötung am Boden liegt hat Turandot nur mehr Gelächter übrig und wirft Calaf eine Münze hin. Für sie geht das Spiel weiter und sie fühlt sich siegessicher …
Musikalisch liegt der Abend in den Händen von Francesco Cilluffo und er versteht es, Puccinis Partitur mit dem Orchester die nötigen Klangfarben zu verleihen – musikalisch ein Hochgenuss.

Sängerisch und schauspielerisch herausragend: Julija Vasiljeva als Turandot, Foto: Johannes Etter
In der Titelrolle erleben wir Julja Vasiljeva, die sowohl stimmlich als auch spielerisch die Verletzlichkeit der Prinzessin deutlich werden lässt. Als sie als Turandot erstmals schweigend auf den Plan tritt, reibt man sich verwundert die Augen. Eine ältere Dame auf High-Heels und am Krückstock. Die extrem hohen Schuhe sollen Macht und die erotische Anziehungskraft der Prinzessin unterstreichen. Dagegen ihre leicht mühsame und stockende Gehweise, die sie durch den Stock unterstützt, ihre andere, ihre zerbrechliche Seite zeigen.

Julija Vasiljeva als Turandot und Julietta-Aleksanyan als Liù, Foto: Johannes Etter
Als Kontrapunkt die Figur der schwangeren Liù, die von Julietta Aleksanyan überzeugend in ihrer Opferbereitschaft und unerfüllter Liebe zu Calaf gestaltet wird. Liù ist als Bühnenfigur schwanger. Die Idee des Regisseurs dahinter war wohl, diese Figur nicht nur als junge Frau zu zeigen, die in Calaf verliebt ist, sondern ihr darüber hinaus eine metaphorische Bedeutung zu verleihen. „Sie sollte all das symbolisieren, was Calaf durch sein Verhalten für immer verliert – aufrichtige Liebe, Partnerschaft, Familienleben. Ihre Gestalt sollte Calaf die Möglichkeit eines anderen, glücklicheren Lebens vor Augen führen, das er jedoch ausschlägt bzw. gar nicht erst sieht, weil er derart von Turandot eingenommen ist“, so Elena Garcia Fernandez, begleitende Dramaturgin.

Antonello als Calaf, Foto: Andreas Etter
Calaf ist mit Antonello Palombi hervorragend besetzt und er gibt stimmlich alles. Man fiebert förmlich seiner Gestaltung der Arie „Nessun Dorma!“ entgegen. Der zuletzt getötete Prinz, taucht im Vorspiel zum dritten Akt als nackter und blut- und farbenverschmierter Geist hinter Calaf auf und ist bereits wieder verschwunden, wenn Calaf zu „Nessun dorma!“ ansetzt. Diese Szene soll den Zuschauer*innen noch einmal die Grausamkeit und Unerbittlichkeit Turandots bildhaft vor Augen führen und damit die große Gefahr in Erinnerung rufen, in die Calaf sich hier sehenden Auges begibt.
Der Chor unter der Leitung von Sebastian Hernandez-Laverny zeigt Spielfreude und stimmliche Präsenz. Agiert als kollektives Spiegelbild einer Menschheit, die nicht mehr zwischen richtig und falsch unterscheiden kann und keine klare Haltung erkennen lässt.
Insgesamt eine hörens- und sehenswerte Aufführung mit etlichen Höhepunkten und eine kluge Entscheidung der Mainzer, die Oper nicht mit Puccini ferne Klängen enden zu lassen, sondern beim unvollendeten Original zu bleiben und dies zum Klingen zu bringen.
https://www.staatstheater-mainz.com/veranstaltungen/oper-25-26/turandot
Nächste Aufführungen:
19.10. / 3.11. / 7. + 27.12.2025
BESETZUNG
Musikalische Leitung: Francesco Cilluffo (28.9.,5.10., 3.11., 27.12.) / Sebastian Hernandez-Laverny (7.9., 19.9., 19.10., 7.12.)
Inszenierung, Bühne und Kostüme: Gianluca Falaschi
Co-Bühnenbildner und Lichtdesign: Ulrich Schneider
Co-Kostümdesignerin: Anna Missaglia
Mitarbeiterinnen Ausstattung: Viktoria Schrott, Lina Maria Stein
Chorleitung: Sebastian Hernandez-Laverny
Einstudierung Kinder- und Domchor: Jutta Hörl
Dramaturgie: Elena Garcia Fernandez
Turandot: Julija Vasiljeva
Calaf: Antonello Palombi
Liù: Julietta Aleksanyan (19.9., 28.9., 19.10.) / Dorin Rahardja (7.9., 5.10., 3.11.)
Ping: Gabriel Rollinson
Pang: Myungin Lee
Pong: Collin André Schöning
Timur: Stephan Bootz
Altoum: Patrick Hörner
Ein Mandarin: Tim-Lukas Reuter
Chor und Extrachor des Staatstheater Mainz
Mitglieder des Mainzer Domchors und Mädchenchors am Dom und St. Quintin
Statisterie des Staatstheater Mainz
Philharmonisches Staatsorchester Mainz
