Der unverstellte Blick: Goyas Visionen des Ungeheuren
Ein schwergewichtiger Band vereint die komplette Druckgrafik
von Uwe Kammann
Bilder des Schreckens, der Gewalt, der Zerstörung, des Todes: überall, auf jedem Gerät, rund um die Uhr. Das Internet hat die visuelle Maschinerie noch gesteigert, hält das bereit, was die bisherigen Medien eher/noch gefiltert haben. Doch wer mag sich die Videos von grausamsten Hinrichtungen durch die Terrorbanden des Islamischen Staates (die Opfer in orangefarbenen Overalls) gerade wegen ihrer Exzessivität mit Lust angeschaut haben? Das Credo des berühmten Kriegsfotografen James Nachtwey: Nicht zurückzuweichen, auch vor dem Schrecklichsten nicht, um zu dokumentieren, was Menschen Mitmenschen antun können. Der ebenso berühmte, gerade verstorbene Fotograf Sebstião Salgado gelangte angesichts der Horrorszenen des Kriegs in Uganda zum Punkt der professionellen Umkehr: Er konnte die Bilder der Hölle nicht mehr ertragen.

Der außergewöhnliche Band über den spanischen Künstler Francisco de Goya ist durch einen aufwändigen Schuber geschützt, Verlag Taschen
Wie mag es Francisco di Goya ergangen sein, was hat er gefühlt, empfunden, als er, der erfolgreiche Maler im Auftrag des spanischen Hofes, seine Augen auf ganz anderes richtete als höfischen Glanz und familiär-adligen Stolz? Und im höheren Alter, in der Mitte seiner 60er Jahre, die Schrecken des Unabhängigkeitskrieges bannte, den die spanische Bevölkerung gegen die napoleonische Besatzung führte. Vier Jahre, von 1810 bis 1814, arbeitete Goya an der Folge unter dem Titel Desastres de la Guerra – und jedes Bild ist von hoher Eindrücklichkeit, gerade, weil die graphische Technik mit der ihr innewohnenden Abstraktion die gesehene Wirklichkeit noch steigert, sie zur künstlerischen Wahrheit überhöht.

Beispiele aus dem reichen druckgrafischen Werk Goyas
„Phantasie ohne Vernunft führt zu Ungeheuerlichkeiten; vereint aber bringen sie wahre Kunst hervor und schaffen Wunder“, so drückte es der 1746 geborene Goya selbst aus. Wobei er Sphären zusammenbrachte, die nicht selten als unvereinbar gesehen werden. Dass die Verbindung oft rätselhaft und nur schwer zu entschlüsseln ist, belegt eine berühmte Grafik, die gerade den französischen Symbolisten Charles Baudelaire tief beeindruckt hat: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Das Bild zeigt einen Mann, der seinen Kopf in verschränkten Armen auf einen Tisch gelegt hat, während über ihm unheimliche Vogelwesen kreisen. Es gehört zu den Los Caprichos, einer 1799 erschienen Sammlung von Radierungen.
Sie markiert in bemerkenswerter Weise einen Wendepunkt in Goyas Schaffen: eine Abwendung von traditioneller, nicht zuletzt auch akademisch geprägter Malerei, einen äußeren Bruch mit der Funktion eines Hofmalers (Karl III. hielt viel von ihm, auch Karl IV. vertraute ihm die bildliche Repräsentanz des familiären Hofstaates an), und sie markierte speziell die Hinwendung eben zur Druckgrafik. Was sich schon länger angedeutet und auch zu Kritik geführt hatte, nämlich eine gewisse Schonungslosigkeit in seiner Sicht- und Malweise, bekam nun einen wesentlichen Schub – und führte zu einer Radikalität, die noch heute geradezu verblüfft. Sie offenbart einen offenen, einen unverstellten und einen unbestechlichen Blick auf die politische, die gesellschaftliche, auch die individuelle Realität, welcher im Einzelnen und in der Summe die kühnsten Einsichten der Moderne vorwegnimmt
Wie kühn, wie wegweisend, auch wie einzigartig Goya gearbeitet hat, das belegt jetzt ein mehr als gewichtiger (auch kiloschwerer) Band, der bei Taschen erschienen ist. Und der einlöst, all das zu erleben, zu erkennen und wahrzunehmen, was dieses Werk ausmacht: indem er tatsächlich das ganze Druckwerk zugänglich macht, in großformatigen Reproduktionen aller einzelnen Blätter, dazu in einer nicht zu übertreffenden Druckqualität. Wieder und wieder – und bedachtsam – blättert man die 600 Seiten durch, gleichzeitig aber auch atemlos, gleichsam getrieben, um den harten Wirklichkeiten hautnah zu folgen.
Man muss es sich vorstellen: Fast 300 (genau: 287) Radierungen und Lithografien sind hier vereint, die in jedem Moment eine exzessive Auslotung der condition humaine erkennen lassen – einer Menschheit, die sich auch dadurch auszeichnet, dass ihre Vertreter nichts als Esel sind, so eitel wie verblendet. Aber noch stärker tritt die Monstrosität hervor, die Neigung zur Gewalt, zur Grausamkeit, zum Niederträchtigen, zum Boshaften. Was immer auch Menschen im Negativen an- und umtreibt: Goya hat dies in seinen Grafiken meisterhaft gebannt, ebenso das Fantastische, das Fabelhafte, das Groteske, das zutiefst Verstörende. Doch – tröstlich für uns? – gibt es auch eine andere Seite mit einigen Landschaftsvisionen, auch die allerdings von Dramatik durchzogen.
Schon die unmittelbare Wirkung, die reine Anschauung, ist frappierend. Doch daneben ist es von ebenso großem Gewinn, über die den thematischen Bildkomplexen zugeordneten Essays und die individuellen Bildkommentare – verfasst durch José Manuel Matilla, den Leiter der Grafischen Sammlung des Prado, und durch die deutsche Kunstwissenschaftlerin Anna Reuter – sowohl mit den Grundlinien als auch mit allen Facetten dieses einzigartigen Werkes vertraut gemacht zu werden. Und dies in einer Sprache, welche die genaueste Kenntnis ihres Gegenstandes souverän spiegelt, aber sich nicht als wissenschaftlicher Jargon geriert, sondern für jeden Liebhaber verständlich sein will und es auch ist (kleiner Wermutstropfen für ältere Leser: die Schriftgrößen der Bildlegenden stellen die Sehkraft arg auf die Probe).
Eine Frage stellt sich: Drückt dieses Werk tatsächlich die „Seele“ Spaniens aus, wie es der Taschen-Verlag in einem Begleittext anmerkt? Nach intensivem Studium der 287 Radierungen drängt sich eher das Urteil auf: Hier wohnen wir der Entwicklung eines hochgradig individuellen Blicks auf die Welt bei, zwar inspiriert durch landesbezogene Einblicke und Eindrücke (so in den Bildern vom Stierkampf, so natürlich auch in den Bildern vom Krieg), aber letztlich doch von universeller Weite.
Später findet sich einiges davon – gerade in schärfster Satire, in karikaturenhafter Übertreibung – beim 1808 geborenen französischen Künstler Honoré Daumier wieder. Aber deutlich wird in der Gegenüberstellung auch: Francisco di Goya war vielschichtiger, er hatte zugleich den weiteren Blick, eine größere Vielfalt in der thematischen Zuspitzung; und er verfügte über ein staunenswert weites Spektrum im Ausreizen der grafischen Techniken.

Aufschlagseite des Goya-Bandes, Verlag Taschen
„Paradoxerweise“, so sieht es José Manuel Matilla in seinem einleitenden Essay über Goya als Druckgrafiker (Untertitel; Von der Realität zur Fantasie), „werden ausgerechnet durch dieses Medium der persönliche Antrieb des Künstlers, sein unabhängiger Blick, die Überlegungen zur Aufgabe der Kunst sowie die formalen und konzeptuellen Versuche, die in der Intimität der künstlerischen Tätigkeit entstehen, ausgedrückt.“ Zum Staunen, zum Bewundern ist dies allemal, zumal dann, wenn man seine frühen Bilder aus dem höfischen, dem adeligen Umfeld vor Augen hat. Dass es ihm an Mut nicht fehlte, bewies er ja auch anderer Stelle. So wird es keinen früheren Gymnasiasten geben, der sich nicht an der für damalige Zeiten ungeheuer kühnen, weil in der Anatomie detaillierten Darstellung der „nackten Maja“ delektiert hätte – wenn man so will, die andere Seite von Goyas passionierten Blicke auf das menschliche Leben.
Ein Glücksfall also, eine große verlegerische Tat, dass uns Taschen jetzt so vollständig und dazu in einem mehr als großzügigen Format an dem revolutionären druckgrafischen Werk Goyas teilhaben lässt, im wortwörtlichen Sinne, und es textlich brillant einordnen und erschließen lässt. Disparates, so ist eine Folge benannt, die in der Tat die unterschiedlichsten Merkwürdigkeiten (welch’ ein unzureichendes Wort) im menschlichen Verhalten aufzeigt. Während ein wahrhaft bedrohliches Einzelblatt einen existentiellen Schrecken bezeugt: Es zeigt, unter einer kleinen Mondsichel, einen „Koloss“, ein mehr als riesenhaften Riesen, der die Erde im wahrsten Sinne besitzt.
Das alles gehört zur Spannbreite eines Werkes, das zugleich zweierlei hervorruft: eine tiefe Verstörung und, untrennbar damit verbunden, die Hoffnung, dass damit nicht das letzte Wort gesprochen ist. Sondern zum Dunklen auch gehört: die Erwartung einer anderen, einer helleren Welt, ohne die Dauerschrecken des allein Abgründigen. Sprich: Aufklärung. Womit noch einmal an Sebstião Salgado zu erinnern ist. Nach dem Grauen des Krieges hat er die Schönheiten der Welt fotografiert und dem so entstandenen Bildband den Titel „Genesis“ gegeben. Dieses Buch (ebenso bei Taschen erschienen) sollte man neben das fulminante Goya-Werk legen und beide abwechselnd aufschlagen – und so die Welt aus doppelter Perspektive betrachten.
Info
Hardcover im Schuber, 24,3 x 30,4 cm, 3.78 kg, 600 Seiten
ISBN 978-3-8365-8151-6
Ausgabe: Mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Französisch)
