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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Eine Spur von Hoffnung und Vernunft in wahnsinnigen Zeiten?

Was die Leute so sagen… Gedankensplitter

Von Eldad Stobezki

Der in Tel Aviv aufgewachsene und seit viel Jahren in Frankfurt lebende Autor versucht, mosaikartig die davoneilende Zeit durch Alltagsbeobachtungen und Erinnerungen an Gespräche festzuhalten und die Verbindungen zu seinen Freunden in Israel nicht abreißen zu lassen…

Musik war das Thema, über das ich bei einem festlichen Essen mit meiner Tischnachbarin sprach. Johann Sebastian Bach mag sie nicht und bemerkte: „Seine Musik ist konstruiert.“ Darüber wollte ich nicht mit ihr diskutieren.
Bach sei zu „mathematisch“ sagte mir vor Jahren ein Klarinettist in Israel, mit dem ich in meiner Jugend zusammen musiziert habe.

Verkehrte Welt? Der einstige Leipziger Thomaskantor und Komponist Bach würde sich im Grabe umdrehen, Foto: Petra Kammann


Der Zeitungskiosk hat renoviert und die Mitarbeiterin ist stolz auf die Neugestaltung des Ladens. Sie weiß, dass ich etwas mit Literatur zu tun habe, und erzählt mir, dass sie alle Romane von Haruki Murakami gelesen hat. „Die Sexszenen überspringe ich.“

 

 

 

 

 

Der letzte Roman des japanischen Autors Murakami
„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“
erschien im Verlag Dumont

 

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Eine Freundin aus Israel schickte mir folgende Mail. Hier ist die Übersetzung:

Für eine kurze Fahrt nahm ich heute ein Taxi. Mit den Fahrern kommt man oft ins Gespräch über dies und das. Diesmal waren es Soldatengeschichten.
„Viele Soldaten steigen bei mir ein“, sagte der Fahrer. „Diese Woche saß einer neben mir.“
Ich lauschte gespannt. Schon viele Geschichten habe ich von Taxifahrern gehört. Sie sind nah am Leben; ich höre Dinge, die nie in den Nachrichten erscheinen. Sie wissen, was sich am Rand abspielt. Alle Stimmen, Schicksale, kleinen und großen Begebenheiten finden den Weg zu ihren Ohren. Das geschieht, wenn man täglich von morgens bis abends mit Menschen arbeitet und redet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Man weiß, was sie tun.
„Es gibt keine Befehle mehr, verstehst du?“ sagte er, und ich schwieg. Dann fuhr er fort:
„Der Soldat erzählte mir: Ich betrete ein Haus, sehe eine Frau mit Kindern – ratatatatatat, auf alle. Du begreifst das gar nicht. Auf alles, was sich bewegt. ratatatatatat.“
Ich schluckte. Ich fand keine Worte. Vor meinem inneren Auge sah ich nur eine Frau mit ihren Kindern, wie sie niedergeschossen zu Boden stürzen. Der Fahrer redete weiter:
„Und gestern stieg wieder ein Soldat ein, ich habe ihn schon mehrmals gefahren. Er sagte mir: ‚Kinder kommen und küssen uns die Füße.‘“
Ich fragte: „Er hat gesagt, sie küssen euch die Füße?“
Der Fahrer: „Ja, sie werfen sich zu Boden und küssen ihnen die Füße.“
Ich: „Warum?“
Er: „Damit man sie nicht tötet“. Der Soldat sagte: ‚Es gibt keine Ziele mehr. Es wird auf alles geschossen. Wenn du dort durch die Straßen gehst – was davon noch übrig ist –, überall liegen Leichen. Ich bin schon verrückt.‘ Der Arme, er ist jetzt immerhin in psychologischer Behandlung.

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Stolpersteine, die vor den Häusern an das Schicksal der einstigen Hausbewohner erinnern, Foto: Petra Kammann

Ich sehe, wie eine Frau sich über einen Stolperstein beugt. Sie sucht ihre Lesebrille, denn sie will den Namen des Opfers lesen. Ich bleibe kurz stehen, auch ich will den Namen lesen. Sie sagt: „Wenn ich mich bücke, um den Namen zu lesen, dann verbeuge ich mich vor diesen Menschen, die früher in unserer Mitte lebten. Wie konnte das passieren?“

Was konnte ich ihr sagen?

 

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