Der erschrockene Engel
Uraufführung von Philippe Manourys Thinkspiel „Die letzten Tage der Menschheit“ nach Karl Kraus an der Kölner Oper
von Simone Hamm
Ein Zeitungsverkäufer schreit die Schlagzeile: Erzherzog Franz Ferdinand ist in Sarajevo ermordet worden. Der Trauerzug ist gewaltig. Der Chor singt von allen Seiten. Ein geschmückter Sarg, dann ein zweiter, ein schlichter Holzsarg, schließlich Leichensäcke, die über den Sarg geworfen werden. Noch schlendern die Menschen durch Wien. Es ist das Jahr 1914.
Miljenko Turk, Foto: Sandra Then
Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg. Der Krieg wird schon nicht lange dauern, glauben die Wiener, zwei Wochen, zwei Monate. Die Kriegseuphorie wird verfliegen.
In seiner satirischen Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“ erzählt Karl Kraus, wie Macht, Profitgier und Religion den Weg in den Krieg vorbereiten. Wie Propagandisten und Journalisten zum Krieg anstacheln und die Menschen davon überzeugen.
Es ist ein mutiges Vorhaben, Karl Kraus‘ riesiges Opus „Die letzten Tage der Menschheit“, das den ersten Weltkrieg und dessen mediale Begleitung zum Thema hat, auf die Bühne zu bringen. Musikalisch gelingt das sehr gut.
Philippe Manourys Kompostion ist für großes Orchester mit Schlagzeug, Klavier angelegt. Die Orchestermusiker sind auf der Bühne. Hinter der Publikum sitzen die Bläser. Elektronische Musik erklingt überall im Raum. Leise, unaufdringlich. Orchester, Chor, Elektronik, Sänger und Schauspieler bilden ein perfektes Ganzes. Peter Rundels Dirigat ist meisterhaft und sicher. Manchmal klingt das Bedrohliche von Ferne an, dann wird es laut und schrecklich. Dann wieder erinnert die Musik an Wiener Spätromantiker. Und auch an Debussy.
Anne Sofie von Otter als Angelus Novus, Foto: Sandra Then
Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter ist der Angelus Novus, der die Kämpfe, das Feldlazarett, die Kämpfenden und die Sterbenden beobachtet. Das Gemälde „Angelus Novus“ von Paul Klee hatte einst Walter Benjamin gehört. Dieser Engel hat den Philosophen jahrelang begleitet – auch ins Pariser Exil. Für ihn ist der Angelus Novus der Engel der Geschichte, der die Katastrophe mit vor Schrecken geweiteten Augen sieht.
Der Angelus Novus bringt Momente der Ruhe in den Schlachtenlärm, bereitet nur von einem kleinen Orchester und einem Englisch Horn. Er mahnt. Vergeblich.
Sebastian Blomberg, Patrycia Ziolkowska, Christina Daletska © Sandra Then
Die anderen Sänger singen verschiedene Rollen, sind eher Typen denn Individualisten: der Nörgler, der Optimist, der Zauderer, das patriotische Mädchen, der Soldat. Die in Pink gekleidete Kriegsreporterin hält dem sterbenden Soldaten ein Mikrofon vor den Mund.
Regisseur Stemann hat zusammen mit Patrick Hahn und Philippe Manoury das Libretto geschrieben. Sie nennen es ein „Thinkspiel in zwei Akten“. Und wie im Singspiel gibt es auch Zwischentexte. Stemann bringt zwei Sprechrollen auf die Bühne: Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg rezitieren Karl Kraus, kommentieren den Krieg und geben Informationen, springen schnell und gekonnt von der einen in die andere Rolle.. Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt hat fahrbare Gerüste aufstellen lassen, Lazarettbetten, Bomben. Videos vom Institut für Experimentelle Angelegenheiten zeigen Aufnahmen vom alten Wien, vom Krieg. Und zu alledem die hochkomplexe Musik Philippe Manourys.
Nach der Pause hätte man das Opernhaus mit dem Gefühl verlassen können, einen großen Abend gesehen zu haben. Musikalisch bleibt das auch so. Das „Thinkspiel“ wird beinahe zum Oratorium.
Miljenko Turk, Statisterie der Oper Köln, Foto: Sandra Then
Stemann jedoch entfernt sich von Karl Kraus, dessen Text weiter zitiert wird. Die Schauspieler sinnieren, warum es immer noch Krieg gebe. Pete Siegers „one, two, three Vietnam“ klingt an, Bilder von Kim, Mao und Trump werden auf die Leinwand geworfen, Flüge von Tarnkappenbombern gezeigt. Dann ist sogar die naive Stimme eines Kleinkindes zu hören. Außerirdische kommen auf die Erde und wollen sie vernichten. Atombomben fallen.
Das alles ist völlig unnötig. Der Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus über das Grauen des Krieges und dessen Folgen braucht man nichts hinzuzufügen.
Weitere Aufführungen:
noch am 6. und am 9. Juli 2025