Carpe diem und genieße das Leben!
Gedankensplitter
von Eldad Stobezki
Wir hatten Freunde eingeladen. Während des Essens unterhielten wir uns ausnahmsweise nicht über Krankheiten, sondern über Zitate in Todesanzeigen und die Musik bei Trauerfeiern. Ein Freund erzählte, dass er neulich auf einer Beerdigung war. Als Abschiedslied wählte die Witwe das Lied „Junge, komm bald wieder“.
„Echappement, Move, Flucht? in verschiedenen Ausdrucksformen wie Zeichnung, Skulptur, Ein-Kanal-Video der Künstlerin und Dehmel-Preisträgerin Iris Hoppe im Nassauischen Kunstverein 2024
Im Traum saß ich vor der IBM-Kugelkopfschreibmaschine. Ein Brief mit mehreren Kopien musste geschrieben werden. Entsprechend hatte ich das Kohlepapier eingelegt. Plötzlich öffnete sich die Decke, und Hunderte von blauen Kohlepapierblättern prasselten auf mich hernieder, bis ich darunter begraben war.
Kopieren nur mit Blaupausen möglich bei der IBM 7XXD Kugelkopf Schreibmaschin
Ich hatte Angst zu ersticken und strampelte mich mit Gewalt durch die blaue Masse. Hatte ich Angst vor dem Ertrinken? Schweißgebadet wachte ich auf. Wer weiß heute noch, was Kohlepapier oder eine Kugelkopfschreibmaschine ist? Die Kataloge der Büromaterialfirmen führen kein Kohlepapier mehr.
Nachdem in der Parsifal-Aufführung der Frankfurter Oper Kundry mit Amfortas entschwunden war, gab’s viel Applaus für Brigitte Fassbaenders Inszenierung, Foto: Petra Kammann
Gestern in der Frankfurter Oper: Wagners Parsifal gesehen. Eine in jeder Hinsicht perfekte Aufführung. Die Handlung ist stark inspiriert von christlichen, insbesondere katholischen Elementen und Symbolen wie dem Heiligen Gral, dem Speer und Motiven aus dem Neuen Testament.
Wagner kann man lieben oder hassen. Die Geschichte dieser Oper ist hanebüchen, die Sprache altertümlich. Ich amüsierte mich über das Wort „Rittergezücht“ und lernte ein neues Wort: „Atzung“. In der Oper steht es für „Nahrung“. Im Wörterbuch steht: „Fütterung von Raubvögeln.“
In der Frankfurter Aufführung sinkt Kundry am Ende nicht „entseelt“ nieder. Amfortas umarmend verlässt sie die Bühne. Das freute mich am meisten.
Les Milles – heute eine Gedenkstätte. Die Züge des Internierungslager bei Aix-en-Provence führten direkt nach Auschwitz, Foto: Petra Kammann
Nach dem Völkermord durch die Nazis stellte man die Frage: „Warum hat man die Bahnschienen, die zu den Vernichtungslagern führten, nicht bombardiert?“
Wie wird die Frage lauten nach dem Völkermord, den die israelische Armee in Gaza anrichtet?
Bei den Lyriktagen konnte man auch so bedeutende Poetinnen wie die hebräisch schreibende Lea Goldberg (1911-1979) entdecken. Hier Sonja Vandenrath bei der Erläuterung des Programms, Foto: Petra Kammann
In Frankfurt sind gerade die Lyriktage in vollem Gange. Im Traum hatte ich die Lea-Goldberg-App auf mein Handy heruntergeladen, die mir ermöglicht, je nach Laune ein Gedicht dieser Lyrikerin auszuwählen.
Lea Goldberg, 1911 in Königsberg geboren und 1970 in Jerusalem gestorben, gehört zum israelischen Literaturkanon. Die Literaturwissenschaftlerin war auch Übersetzerin. Hebräisch, die Sprache, in der sie schrieb, war ihre siebte Sprache.
Riskante Balanceakte der Mauersegler. Ihre Paarung vergeht wie im Fluge, HirundoRusticaFlight1, Quelle: Wikimedia
Sie war nicht mehr jung, doch das Spermium fand seinen Weg zur Eizelle. Nach vier Fehlgeburten wurde meine Mutter wieder schwanger. „Dieses Mal soll es mir gelingen, das Kind zu behalten“, sagte sie sich. Und tatsächlich: Ich ward geboren.
Der Beweis für das gelungene Manöver: Eldad Stobezki balanciert mit seinen Geschichten den Alltag aus, Foto: Petra Kammann
Auch in der Natur ist Fortpflanzung oft ein Akt des Wagnisses. Mauersegler zum Beispiel paaren sich im Flug. Die Flugkopulation ist ein riskantes Manöver: Das Weibchen vibriert mit den Flügeln, das Männchen stürzt sich auf sie – beide verlieren an Höhe und Geschwindigkeit, riskieren den Absturz, das Leben.
Wie bei den Mauerseglern war auch meine Entstehung ein Balanceakt – zwischen Hoffnung und Verlustangst, zwischen Himmel und Erde.
Vom Zug wurden einige Wagen abgekoppelt. Der Andrang in den verbliebenen Wagen war unerträglich. Dazu noch eine Stunde Verspätung.
Dann kann ich nur sagen: „Das Leben in vollen Zügen genießen.“