Kleine Bücher-Blütenlese zum 150. Geburtstag von Thomas Mann
Vielfältige Ansätze, vielfältige Zugänge – und unzählige Fragen an ein unausschöpfliches Werk
Von Uwe Kammann
„Was ist das. – Was ist das …“. Ein Münchner Amateur-Lesekreis ist überzeugt: Das sei der schönste Anfangssatz aller Thomas-Mann-Romane. Wobei der fragende Nachsatz ja noch den Teufel, den „Düwel“, heraufbeschwört. Damit ist bei der Geschichte der Buddenbrooks gleich ein feiner ironischer Akzent gesetzt. Kann es sein, dass das Lübecker Haus dieser namentlich berühmtesten deutschen Großbürgerfamlie jetzt, im überall gefeierten 150. Geburtsjahr des besten deutschen Romanciers, nicht zu besichtigen ist?
Iris Berben und Armin-Müller-Stahl in die „Buddenbrooks“, Szene aus der Verfilmung von Heinrich Breloer im Jahre 2008
Tatsächlich, es ist so. Seit fünf Jahren ist dieses prächtige Haus, lange Zeit hochattraktive Pilgerstätte aller Leser und Bewunderer, geschlossen. Und erst 2030, so die Nachricht aus der Patrizierstadt, soll es nach gründlicher Renovierung und einer Neukonzeption der Ausstellung als „neues Buddenbrooks-Haus“ wiedereröffnet werden. Zehn Jahre … da geht der Blick unweigerlich nach Paris, wo die riesige Kathedrale Notre Dame nach dem verheerenden Brand in nur fünf Jahren prächtiger denn je wiedererstanden ist. (Die Thomas-Mann-Exilvilla bei Los Angelos soll nach den aktuellen Brandschäden schon bald wieder zugänglich sein.)
Präsenz der Kaufmannsfamilie Mann im Lübecker Behnehaus, Foto: Petra Kammann
Aber immerhin, in Lübeck will in der Übergangszeit das als Museum fungierende Stadtpalais Behnhaus ein Gefühl für die Lebenswelt der Buddenbrooks und der Lübecker Kaufmannschaft vermitteln: einer ganz spezifischen Lebenswelt, der Thomas Mann und sein Autoren-Bruder Heinrich entstammen. Erzählt wird in der Ausstellung „Buddenbrooks im Behnhaus“ von der Kindheit der beiden Senatorensöhne, auch von ihrer Rebellion gegen die als eng und muffig empfundene Bürgerwelt ihrer Herkunft. In den historischen Wohnräumen des Behnhauses – mithin in der stilechten Atmosphäre des 19. Jahrhunderts – soll für die Besucher das familiäre Herkunftsmilieu lebendig werden.
„Was ist das“ – als Anfangs-Dreisatz gemünzt auf den Kleinen Katechismus – lässt sich in diesem Thomas-Mann-Jahr natürlich wandeln in den Satz: Wer ist das? Richtiger: Er muss in die große Frage nach der Person dieses in jeder Hinsicht außerordentlichen Schriftstellers – besser: Großschriftstellers – übersetzt werden. Ja, wer ist das eigentlich, dieser Thomas Mann? Und: Wer war er, was zeichnete ihn aus, was trieb ihn an, was verbarg er, was blieb sein innerstes Geheimnis, wie viele Sichtweisen gibt es? Entsprechend überreich ist die Zahl der aktuell erschienenen Bücher, die immer wieder neue Aspekte zu Leben und Werk aufgreifen oder aufscheinen lassen; und die versuchen, Deutungen und Erklärungen zu finden.
Moderator Sebastian Guggolz (re) moderierte in Manns „Hausverlag“ S. Fischer Verlag nach der Lesung von Werner Wölbern eine Diskussion über die Radioansprachen , Foto: Petra Kammann
Der launige Moderator des morgendlichen HR-Radiomagazins, Martin-Maria Schwarz, hat sich gerade darüber lustig gemacht. Man solle vielleicht lieber wieder Texte von Thomas Mann lesen, um dann zu sagen: Die vielen Bücher über ihn, die bräuchte man gar nicht. Nun gut … Aber einer, der das für die jetzige, medial schier überbordende Geburtstagsfeier beherzigt hat, ist Ulrich Tukur – Musiker, Schriftsteller und am bekanntesten natürlich als Schauspieler. Er hat einen vergleichsweise schmalen Band herausgegeben, der Originaltexte unter einem Gesichtspunkt versammelt: die Liebe Manns zum Meer („Mit Thomas Mann am Meer“).
Erstaunlich, wie viele Bezüge es gibt, quer durch die Lebensgeschichte, von Kindheit und Jugend an. Und es ist eine vergnügliche, viel Einsicht spendende (Wieder?-)Entdeckung, die ausführlichen Tagebuch-Aufzeichnungen „Mitfahrt mit ‚Don Quijote‘“ zu lesen: einen besseren Spiegel über äußere Lebensumstände (vom Essen bis zur Kleidung und Alltagsvergnügungen) wird man kaum finden. Und dazu noch eine perfekte Selbst-Darstellung in der Beschreibung aller literarischen Techniken und einer Kunst und Kultur umschreibenden und bewertenden ästhetischen Theorie.
Aber ganz unabhängig davon: Es ist von höchstem Reiz, in den ausgewählten Texten – gegliedert in Bereiche wie Blicke aufs Meer, Urlaub am Meer, Seefahrtseindrücke, Tagebuch-Eintragungen zu Aufenthaltsorten – einen Grundbezug des Schriftstellers zu finden. Der zum Ende seines Lebens das pazifikgeprägte Kalifornien, einst Exilland, eher als Heimat empfand als die Hansestadt Lübeck, die 20 Kilometer von der Ostsee trennen.
Einen sehr persönlichen Zugang eröffnet Oliver Fischer mit seiner Beschreibung einer passionierten Beziehung Manns zu Paul Ehrenberg. Der Buchtitel ist ein Zitat: „Man kann Liebe nicht stärker erleben“ – ein Zitat, das im vollen Kontrast steht zu einer neuen Biographie von Tilmann Lahme, deren (nahezu enthusiastische) Rezension die FAZ etwas reißerisch überschrieb: „Der Mann, der nicht lieben durfte“. Dieses Verdikt bezieht sich auf die Homosexualität des Autors, deren drängende (für Mann: belastende) Seite an vielen anhand vieler und eindeutiger Tagebucheinträge eindeutig herausgearbeitet wird.
Filmemacher, Mann-Kenner und Autor Heinrich Breloer 2024, Foto: Petra Kammann
Und dies immer vor dem Alltagshintergrund der Ehe mit Katia Mann, aus der immerhin sechs Kinder hervorgegangen sind (das Literaturhaus München widmet ihnen gerade eine bis zum nächsten Februar dauernde Ausstellung unter dem Titel „Ansichten einer Familie“). Hier nun ist ein ganz außergewöhnliches Buch zu erwähnen, das Heinrich Breloer geschrieben hat, mit einem sehr doppeldeutigen Titel: „Ein tadelloses Glück“. Der Untertitel verrät schon das Untergründige: „Der junge Thomas Mann und der Preis des Erfolgs“.
Breloer hatte zur Jahrhundertwende ein hochgelobtes, vielfach ausgezeichnetes, als Mehrteiler angelegtes Fernsehwerk vorgelegt: „Die Manns“. Darin wird, auf der Grundlage einer jahrelang intensiv betriebenen, akribisch angelegten Recherche die komplexe Familien- und Lebensgeschichte rekonstruiert, in der von Breloer meisterhaft beherrschten Verbindung von Dokumentarmaterial und Spielszenen. In seinem jetzigen Buch nun vollzieht er eine für Breloer-Kenner überraschende Wende: indem er sich auf die reine Fiktion kapriziert, in deren Zentrum das Werben des jungen Lübecker Autors um die Gunst von Katia Pringsheim steht, einer Tochter aus bestem und reichem Münchner Hause.
Er habe sich, so Breloer, die „Freiheit des romanesken Erzählens“ genommen, die sich allerdings auf Recherchen, Dokumente und Gespräche stütze. Der Grund: „Zwischen der naturalistischen Genauigkeit und dem verdichteten Erzählen gibt es Gewinne, auf die ich nicht verzichten wollte.“ Worum es ihm auch gegangen sei: die in der Filmbiografie nicht vorkommende „Enthüllung“ von Thomas Manns erotischen „Fantasien ins Homoerotische und die gleichzeitige Verhüllung im Text“ – eine „dramatische Geschichte“, die sich in einem Wort zusammenfasse lasse: „Becoming Thomas Mann“.
Ob sich dieses Motto nicht nur auf den Großschriftsteller selbst, sondern indirekt auch auf den jetzigen Nacherzähler (der als Fernsehmacher zu den ganz Großen gehört) beziehen lässt? Zumindest legt das die Lektüre des Romans nahe, nicht zuletzt wegen der Vielzahl feingedrechselter Dialoge (ein aufmerksames Mäuschen ist nichts dagegen) und der inneren Entwicklungslinien. Becoming Thomas Mann – sprich: Thomas Mann zu werden –, das ist schließlich eine reizvolle Versuchung und Vorstellung in jeglicher Richtung. Wobei Breloer auch mit seiner Buddenbrooks-Verfilmung aus dem Jahr 2008 – der vierten Kino-Darstellung des Familiendramas – bewiesen hat, wie sehr ihn das Mannsche Werk fasziniert, fesselt und ihm wahrhaft am Herzen liegt, ganz unabhängig von der – parallel – tiefen intellektuellen Durchdringung des Werks.
Nur ein paar anregende Neuerscheinungen anlässlich des 150. Geburtstags von Thomas Mann, Foto: Petra Kammann
Das immer wieder aufgegriffene und vielfältig untersuchte Spannungsfeld, welches die Beziehung zwischen den Brüdern Thomas und Heinrich bestimmt hat, wird überzeugend nachgezeichnet von Hans Wisskirchen in dem umfangreichen Band „Zeit der Magier“ (S.Fischer). Wisskirchen, Honorarprofessor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in Lübeck, ist profunder Kenner der Werke der beiden Autoren, versiert darin, auch über zahlreiche einschlägige Funktionen: als Kulturpolitiker ebenso wie als Gründungsdirektor des Buddenbrookhauses, als Präsident der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft und Vizepräsident der Heinrich-Mann-Gesellschaft.
Sein Buch ist begrifflich so ausdifferenziert wie genau, mit detailliert herausgearbeiteten Bezügen und Textverweisen, die aufschlussreich nachzeichnen und verstehen lassen, wie sich die Antagonismen der beiden Brüder erklären lassen, was die politischen Grundüberzeugungen gerade in den Anfangsphasen bestimmt hat – republikanisch-radikal bei Heinrich, konservativ-national bei Thomas –, wie hart auch die inneren und äußeren Auseinandersetzungen waren, wie gegensätzlich die amourösen Vorlieben und Passionen.
Beschäftigung mit den Manns in Lübeck, Foto: Petra Kammann
Das liest sich auch immer wieder verblüffend (und mit viel Gewinn) vor dem Hintergrund der familiären Ausgangssituation, die schließlich für beide Brüder gleich war. Offensichtlich feit auch eine solche in Traditionen verankerte Herkunft keineswegs gegen innere Anfeindungen, Eifersucht, gesellschaftliche Gegenläufigkeiten, harte politische Bandagen und Neid – geradezu exemplarisch lässt sich dies bei Wisskirchen nachverfolgen.
Ein ganz anderes Kapitel schlägt die Publizistin Barbara Hoffmeister auf, der schon – mit begleitenden Zeichnungen von Robert Gernhardt – ein mehr als köstliches Buch zu verdanken ist: „Das Randfigurenkabinett des Doktor Thomas Mann“ (2005). Jetzt beschreibt sie die Beziehung Manns zum Fischer-Verlag, unter der Titel-Verwendung eines Zitats: „… ich will Euch niemals verlassen“. Hat in der bundesrepublikanischen Literaturgeschichte Siegfried Unseld die herausragende Rolle gespielt, so war das zur damaligen Zeit Samuel Fischer.
Es ist höchst aufschlussreich, bei Hoffmeister – die auch eine große Biografie des Verlegers vorgelegt hat – nachzulesen, wie sehr die intensiven wechselseitigen Beziehungen zwischen Thomas Mann und Samuel Fischer das schriftstellerische Werk beeinflusst haben. Geradezu amüsant ist natürlich zu lesen, dass Thomas Mann zutiefst skeptisch bis pessimistisch war, als es um die Aufnahme des Buddenbrooks-Manuskripts ging – ein „größeres Prosawerk“, zu dem Fischer den noch blutjungen Autor ausdrücklich ermutigt hatte, nachdem im Verlag 1898 die Novelle „Der kleine Herr Friedemann“ erschienen war. Nach einem „Souper“ mit Fischers zog Thomas Mann am folgenden Tag – es war im Jahr 1901 – ein aus seiner Sicht mehr als nüchternes Fazit: „Was aus meinem Roman werden wird, das ist ein finsteres Kapitel“. Nun, tatsächlich wurde daraus ein strahlender Erfolg, mit der Krönung durch den Nobelpreis für Literatur, der ihm knapp drei Jahrzehnte später,1929, zuerkannt wurde.
Weil Barbara Hoffmeister schon aus ihrer Verlagsgeschichte den Hintergrund der verlegerischen Zielvorstellungen (mit dem Grundprinzip, immer der Zeit voraus sein zu wollen, nie einem Trend hinterherzulaufen) und der internen Praktiken so gut kennt, kann sie auch das besonders intensive Verhältnis des (Star-)Verlegers zum (Star-)Autor in vielen Schattierungen darstellen und die Konturen dieser Beziehung in exakten Linien nachzeichnen.
Das Treuebekenntnis, das im Titel aufscheint, hat tatsächlich eine schier unglaubliche Konstanz zur Folge. Denn tatsächlich sind bei Fischer zwischen 1896 und 1955 acht Romane (darunter die Tetralogie „Joseph und seine Brüder“) und mehr als dreißig Erzählungen erschienen. Ein schon vom Umfang her unfassbar großes Werk, bei dem die Autorin Irene Dänzer-Vanotti für ein Radiofeature des Bayerischen Rundfunks zuletzt auch die religiösen Motive und Bezüge untersucht hat. Unter dem Titel „Weise Ironie und heiliger Ernst“ fördert sie Interessantes über den Ungläubigen zu Tage – nicht zuletzt, dass in der Zentralfigur des Joseph-Romans wesentliche Züge des Autors selbst zu erkennen seien.
Kurz nach Kriegsende – Thomas Manns Rückkehr nach Deutschland, Cover der Graphic Novel (Knesebeck Verlag)
Weise Ironie? Das auf jeden Fall. „Die Buddenbrooks“, so hieß es hier gleich anfangs, beginnen mit spöttischer Distanz zum im Katechismus verdichteten Protestantismus. Der 1943 abgeschlossene Joseph-Roman hingegen baut die biblische Geschichte um und aus zu einem Menschheitsbild, beginnend mit einer unvordenklichen Zeit, gedeutet und beschrieben als unergründlicher Brunnen des Ur, einer Linie von Vergangenheiten. Ein (Menschheits-)Brunnen, aus dem aber eines sich schöpfen lässt: ein ewiger Faden des Erzählens, ein heiteres Fest der Erzählung.
2025: Lesung der BBC-Ansprachen Thomas Manns im Frankfurter Verlagshaus S. Fischer, Foto: Petra Kammann
Unerschöpflich: Das ist das Werk Thomas Manns auf jeden Fall. Und das gilt auch für die Beschäftigung mit diesem Werk. Hier konnte es nur eine winzige Blütenlese geben aus dem gegenwärtig geradezu überbordenden Bücher- und Medienfest zum großen, zum 150. Geburtstag. Vor kurzem wurde ja auch in FeuilletonFrankfurt eine außergewöhnliche, mehr als bemerkenswerte Graphic Novel zu Thomas Mann vorgestellt, ebenso die aufrüttelnden Radioansprachen des Exilautors an das deutsche Volk während der Kriegszeit. Deshalb gilt unbedingt und bis zum Ende aller literarischen Tage die Doppelfrage: Was ist das …– wer ist das …? Weitere Antworten werden nicht auf sich warten lassen – auch ganz ohne Kerzenglanz auf dem Kuchen aus Lübecker Marzipan.
Und…Thomas Mann für kluge Köpfe!
Wer sein Wissen über den Großschriftsteller
nochmal spielerisch mit anderen überprüfen will,
dem sei das Thomas Mann Quiz mit 100
verschiedenen Fragen von Carsten Tergast
aus dem Grupello/Droste Verlag empfohlen