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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Alle Jahre wieder – die Maifestspiele in Wiesbaden: ein Blick zurück nach vorn

Wagemut der neuen Leiterinnen

von Walter H. Krämer

Der rote Läufer ist in die Jahre gekommen und reicht nicht mehr bis zur Straße. Aber die Angestellten in den rot-weißen Livrees gibt es noch. Und auch die Internationalen Maifestspiele in Wiesbaden. In diesem Jahr erstmals unter Leitung der beiden neuen Intendantinnen Dorothea Hartmann und Beate Heine. Und sie versuchten Neues und nicht alles wurde von Seiten der Stadtbevölkerung mit hohen Besucherzahlen belohnt. Schade drum. Trotzdem: Dank an den Wagemut der neuen Leiterinnen und die Auswahl.

Futur4, Uraufführung von Rimini Protokoll (Helgard Haug & Daniel Wetzel), hier  mit Ursula Gärtner und Xenia Klinge, Foto: Maximilian Borchardt

Die Maifestspiele öffneten sich in den Stadtraum – so gab es beispielsweise eine Tanzperformance im neuen Museum Ernst. Zwei Tage Eröffnungsfest vor den Türen des Staatstheaters mit einer Live-Übertragung der Oper „Die Perlenfischer“ – schade nur, dass der Wettergott Regen schickte und die Bahn einmal mehr für Anreisende aus der Rhein-Main-Region nicht sehr zuverlässig war. Sieben Veranstaltungsbesuche mögen nicht repräsentativ sein, aber sie vermittelten einen Eindruck. Und nicht den schlechtesten.

In Futur4 zeigte die Gruppe Rimini Protokoll Möglichkeiten eines KI-gesteuerten digitalen Überlebens.

Blutstück nach dem Roman „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon, Inszenierung: Leonie Böhm: Auf dem Bild Kim de l’Horizon, Gro Swanjte Kohlhof, Vincent Basse, Sasha Melroch, Lukas Vögler, 
Foto: Diana Pfammatter / Schauspielhaus Zürich

Das Blutbuch von Kim de l’Horizon – 2022 mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung sowie dem Deutschen Buchpreis und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet – wurde mehrfach für die Bühne adaptiert und in Wiesbaden in einer Fassung aus Zürich gezeigt. Hieß dann allerdings Blutstück und scherte sich wenig um das Buch, sondern war mit dem Autor selbst auf der Bühne eher eine Fortschreibung der dort geäußerten Gedanken. Hinterließ einen zwiespältigen Eindruck.

Parallax – eine bildgewaltige Theaterinszenierung über Identität in Zeiten von Antisemitismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit. Drei Generationen einer Familie in einer engen Wohnung in Budapest. Die Großmutter, die es ablehnt, eine Ehrenmedaille als Überlebende des Holocaust anzunehmen; die Tochter, die, um für ihren Sohn einen Schulplatz in Berlin zu ergattern, einen Nachweis für ihre jüdische Identität braucht und letztlich der Sohn, der auf der Suche nach seiner Identität als homosexueller Mann ist.

Parallax von Kata Wéber und Ensemble des Proton Theaters, Hier von links nach rechts: Erik Major, Sándor Zsótér, Roland Rába, Foto: Nurith Wagner-Strauss

Interessante Themen und ganz sicher wert, es auf der Bühne zu thematisieren. Dass man aber auf der Bühne eine Orgie nackter schwuler Männer zelebriert, hat aus meiner Sicht kaum Schauwert und schon gar keinen Erkenntniswert. Erst als die Männer wieder angezogen über die Situation homosexueller Männer in Ungarn reden und die Doppelmoral eines Funktionärs deutlich wird, ergibt die Aufführung für mich Sinn: Im Verborgenen seine Neigung ausleben und öffentlich dagegen schreiben und hetzen. Verständlich, dass das Stück nie in Ungarn gezeigt wurde und gezeigt werden kann – und außerhalb dieses EU-Landes produziert wurde.

Notte Morricone von Marcos Morau, Foto: Christophe Bernard

Notte Morricone – eine Hommage an den italienischen Meister der Filmmusik Ennio Morricone. Eine Aufführung mit Wiedererkennungswert, denn wer hat nicht die Melodie von beispielsweise „Spiel mir das Lied vom Tod“ im Ohr.

Kraftvollen Tanz und Gesang konnte man in The Visitors erleben und die geballte Energie der Truppe schwappte in den Zuschauerraum über. Am Ende gab es stehende Ovationen und ein rhythmisch klatschendes Publikum. Großartig.

„The Silence von Falk Richter mit Dimitrij Schaad, Inszenierung: Falk Richter, Foto: Gianmarco Bresadola

Falk Richter bescherte mit zwei Arbeiten den Maifestspielen verdiente Höhepunkte. Einmal seine Version von „Die Freiheit einer Frau“ nach dem Buch von Édouard Louis mit Eva Matthes in der Hauptrolle. Und zum anderen mit „The Silence“ eine Produktion der Schaubühne Berlin. Souverän inszeniert Falk Richter seine eigene Familiengeschichte in Verbindung mit den Abgründen der westdeutschen bürgerlichen Gesellschaft und mit einem herausragenden Dimitrij Schaad. Großes Theater.

Es war ein Neustart – auch für die Maifestspiele. Zukünftig braucht es weiterhin den Mut der Intendantinnen und einen größeren Zuspruch der Wiesbadener Stadtgesellschaft. Und vielleicht wären beispielsweise Rabattaktionen : Zwei Eintrittskarten zum Preis von einer – zumindest ein Anreiz, dass sich auch weniger betuchte Bürger*innen die Karten leisten können. Denn das sind die Maifestspiele schon: ein teures Vergnügen. Und nicht alle können sich diese Preise für die Darstellungskunst leisten.

 

 

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