„Israel, 7. Oktober. Protokoll eines Anschlags“ der israelischen Journalistin Lee Yaron, vorgestellt im Jüdischen Museum
„O Herz! Herz! Herz!“
Von Christian Weise
„Ich bin sehr traurig, dass ich ihr bei dieser Gelegenheit nicht gesagt habe, wie sehr ich sie liebe!“, waren die Worte des engen palästinensischen Freundes bei der Beerdigung der jüdischen Freundin. Gemeinsam hatten Vivian Silver, er und viele andere, sich in der israelisch-palästinensischen Friedensbewegung engagiert. Am 7. Oktober hatte er noch kurz mit ihr telefoniert: „Vivian, was ist hier los? Was passiert da gerade?!“ Kurz darauf war Vivian 74jährig massakriert worden…
Über 100 Gäste nahmen in Frankfurt an dem englisch geführten Gespräch von Lee Yaron mit Sascha Chaimowicz und der deutschen Lesung teil, Foto: Christian Weise
„Wie viele Frauen sind in der Knesset? Wie viele in Verhandlungskommissionen? Wie viele in der Hamas?“ „We need women in decision making processes – I promise: that will help!“, Mit diesem Satz endete Lee Yaron ihre Buchvorstellung im Jüdischen Museum.
Für Gal, einen Mann des Friedens, der aus dem Krieg nicht zurückkehrte
Nach drei Wochen Gelähmtsein machte sich die Theaterregisseurin und Journalistin Lee Yaron auf, mit Hunderten trauernder Eltern, Kindern, Überlebenden und Ersthelfern des mörderischen Überfalls vom 7. Oktober 2023 in Israel unweit des Gazastreifens zu sprechen. Mitglieder der Hamas hatten zusammen mit Verbündeten vom Palästinensischen Islamischen Dschihad die Grenzabsperrungen durchbrochen und angefangen zu massakrieren: „Allahu akbar!“
Bei dem Überfall auf das Rave-Festival Tribes of Nova und die benachbarten Kibuzzim und Moschaws ermordeten ca. 3000 Terroristen rund 1200 Menschen und nahmen etwa 250 Geiseln.
Angestoßen von der Trauer um ihren Freund und Quasi-Bruder Gal Eisenkot – sein Vater paradoxerweise ein General, der bei Netanjahu zu vermitteln versuchte – wurde aus dem intensiv und akribisch betriebenen „Oral history project“ ein Buch, das sie Gal widmete: „Für Gal, einen Mann des Friedens, der aus dem Krieg nicht zurückkehrte.“ Gal starb am 7. Dezember 2023, als er versuchte, Geiseln zu zurückzubringen. Er riskierte sein Leben.
Nachdem ihr Buch Ende Oktober 2024 nach der Frankfurter Buchmesse erschienen ist und in verschiedenen Rezensionen vorgestellt wurde, befindet sich Lee Yaron an den Tagens des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren auf Tour in Deutschland, um auf den fortwährenden Krieg zwischen Hamas und Israel hinzuweisen und mit dem Wunsch nach Frieden.
Lee Yaron präsentierte am 7. Mai im Frankfurter Jüdischen Museum im Gespräch mit Sascha Chaimowicz, Chefredakteur des ZEIT Magazins, ihr Buch „Israel, 7. Oktober. Protokoll eines Anschlags“. Ihr Buch ist im für jüdische Themen sensiblen S. Fischer Verlag erschienen und wurde jüngst am 12. März 2025 in New York City mit dem National Jewish Book Award prämiert.
Ein Yizkor book (Gedenkbuch)
Wer Menschen kennenlernen will, erkundigt sich nach ihren Geschichten, ihrem Alltag, ihrem Engagement, ihren Träumen, ihren Hoffnungen.
Ein Gedenkbuch und ein Buch des Lebens, Foto: Christian Weise
Ihre eigene reiche und tief bis in die Emigration aus Portugal Ende des 15. Jahrhunderts zurückreichende Familiengeschichte vor Augen, erkundet Lee Yaron nicht nur akribisch die nicht weniger komplexen und interessanten Geschichten und Familiengeschichten ihrer Gesprächspartner, sondern ergänzt sie auch um Dialoge, die in ihrer Inszenierung von ähnlich scharfem Gegensatz leben wie das Geschehen des Anschlags vom 7. Oktober selbst: der Horror, dass Menschen, die eben noch feierten, massakriert werden, ist kaum vorstellbar:
„Keine Antwort“ lautet mehrfach der lakonische Satz, als Yaron die besorgten Kurznachrichten der Eltern von Shani Louk an ihre Tochter wiedergibt. Nur so ist der Schmerz, so viel Gewalt, so viel Brutalität, unermesslich viel Leid auszudrücken. Der Untertitel der früher erschienenen französischen Ausgabe lautet: „Der mörderischste Tag in der Geschichte Israels“.
Schwer auszuhalten ist öfters die Lektüre, man möchte den Raum verlassen, erinnert sich an die herzzerreißende Szene aus Claude Landsmanns Holocaustfilm Shoah von 1985, wo Jan Karski, Augenzeuge der deutschen Verbrechen, erst barsch jegliche Auskunft verweigernd, zutiefst getroffen vor der Kamera fortläuft. Landsmann bleibt wie die Zuschauer minutenlang allein…
Yaron, die Journalistin mit dem besonderem Regisseurinnen-Blick, nimmt ihre Leser mit, Augenzeuge zu werden und ihr Buch wird ein Totenbuch, ein Buch der Trauer, ein Buch des Gedenkens. Und will vor allem den Traum der erinnerten Opfer vom Frieden wachhalten.
Fokussiert hat Lee Yaron in vierzehn Kapiteln die erfassten „100 menschlichen Geschichten“. Denn alle Geschichten sind miteinander verflochten – die zum Leben Erweckten waren oder sind ja alle Nachbarn. Wichtig für die Autorin: die Porträtierten sind höchst unterschiedlich, divers, manche ihrer Geschichten mögen völlig unbekannt und unerwartet sein, etwa: unter den Opfern sind aus der Ukraine gekommene Israelis – 50.000 Einwanderer sind nach 2022 ins Land gekommen.
Vor einem Krieg geflohen, werden sie erneut bombardiert, massakriert. Beduinen: So Sujood Abu Karinat, die kurz vor der Niederkunft beschossen wird. Ihre kaum geborene Tochter stirbt, ihren Körper rettet die Mutter. Thailändische und nepalesische Gastarbeiter…
Keine theoretischen Analysen, weder Politik, noch Militäranalysen, und schon gar keine Sprache wie in etlichen Politikerreden finden sich in Yarons Buch – dafür gibt es ein anderes literarisches Genre – ihr geht es um Menschen, um reales Leben! Außerdem: sie dokumentiert die Trauer nicht nur. Nachdem ihr Freund Gal Anfang Dezember in seinem Einsatz ebenfalls umkam, durchlebte sie dasalles selbst, anverwandelte sich.
So, wie Lee Yarons Buch in drei Teile gegliedert ist: Trauer, Krieg, Warnung, so wurden während der Frankfurter Diskussion und Buchpräsentation auch drei Ausschnitte von Barbara Bišický-Ehrlich gelesen.
Die Sprecherin und Autorin Barbara Bišický-Ehrlich, Foto: Christian Weise
Shani Louk war die erste Lesung gewidmet. Nachdem diese sich von ihrem mexikanisch-französischen Freund Orión Hernández Radoux getrennt hatte, fand sie wieder zu ihm, als das Nova-Musikfestival organisiert wurde. Die Geschichte der Deutsch-Israelin ging seinerzeit durch die deutschen Medien. Die Ungewissheit, ob sie nicht doch noch lebte, schuf Anteilnahme.
Überhaupt sind einige Opfer inzwischen lexikographisch in Wikipedia gewürdigt. Dramatisch zeichnet Yaron die letzten Stunden von Shani nach. Empört erfährt man, wie die Täter sogar nach ihrer Ermordung noch versuchten, mit ihrer Bankkarte einzukaufen bzw. ein Uber-Taxi zu bezahlen. „Wie lange braucht ein Leichnam, bis er verwest ist?“ Mit der Frage des jungen Rabbi setzte die Lesung der Passage über Shani Louk ein.
Als zweites schloss sich die Geschichte von Sabine Taasa an, einer „amazing powerfull mother“. Sie war Kosmetikerin und hatte französischen Familienhintergrund. Als Anhängerin Netanjahus hatte sie unlängst vor dem Finanzausschuss der Knesset eine Verstärkung des Schutzes in ihrem Kibbutz angemahnt.
Nachdem ihr Mann und ältester Sohn ermordet und die Kinder angeschossen worden waren, fragte sie nach: „Lieber Herr Gafni, ich habe meine Liebsten verloren, meinen Sohn Or und meinen Mann Gil. Ich wäre Ihnen dankbar für eine Rückmeldung hinsichtlich der uns, den Bewohnern von Netiv HaAsara versprochenen Sondersitzung.“
Die dritte, von der die Rede sein sollte, ist Vivian Silver, die kanadisch-israelische Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin, hochverdient durch ihre langjährigen Aktivitäten. „Mit deinem Hinscheiden habe ich mich erneut in die Worte Frieden, Gleichheit und Brüderlichkeit verliebt“, so die Worte ihres Sohns Yonatan bei der Beisetzung.
Der zerstörte Traum von der Sicherheit und das Phänomen, wieder Jude zu sein
In der Diskussion mit Sascha Chaimowicz, die am Ende zum Publikum hin geöffnet wurde, wurde zweierlei deutlich: Für Israelis gewährte die Staatsgründung 1948 endlich den Traum der Sicherheit. Jüdische Menschen kamen endlich heraus aus der jahrhundertelangen Opferrolle. Doch 75 Jahre später, am 7. Oktober 2023, sollte dieser Traum verheißener Sicherheit zerbrechen.
Letzter Inbegriff von Sicherheit war noch das bevorstehende Rave-Festival. Die Geschichte des Nova-Festivals steht in der Mitte des Buches, bildet den plötzlichen Umschlag, seine Peripetie. Auf die Ekstase des Tanzens und Feierns folgt die Ekstase des Mordens. Ein Ende des Sicherheitsgefühls. War Sicherheit vielleicht immer ein Märchen (so Ludwig Marcuse)?
Die Hälfte der Israelis sind unter 30, sie alle haben nie einen Staat erlebt, der versucht hat, Frieden zu schaffen. Sie alle sind nach dem Brückenbauer Rabin geboren. Und nun ist die am Dialog interessierte Linke, ist der ähnlich arme und gebeutelte Teil Israels, sind die Kibuzzin und Moschaws unweit des Gazastreifens gemordet worden.
Hinzukommt: Die globale Linke hat diesen Teil der israelischen Gesellschaft verraten. Lee Yaron erlebte dies, als sie 2023/24 an der Columbia University Studien zu Klimafragen betrieb.
Blacklists werden geführt, israelische Autoren werden nicht mehr eingeladen, die Übersetzung von Literatur ins Hebräische stockt.
Albert Camus hätte, so scheint dem Autor dieses Textes, die (kämpferische) Konzeption von Annäherung an Welt und Menschen vielleicht mit einem Aphorismus kommentiert: „Ceux, qui aiment vraiement la justice, n’ont pas le droit à l’amour.“
What helps? Um Ausblicke zu eröffnen, verwies Yaron, die in der linksliberalen Tageszeitung Haaretz zehn Jahre lang ihr Augenmerk auf Alltagsleben und Randgruppen legte, noch einmal auf die soldatischen Aufklärerinnen, die tazpanijot gelegt. 16 von ihnen waren getötet worden, 7 als Geiseln genommen. Sie hatten die Vorbereitungen der Hamas wahrgenommen und gemeldet. „Ihr seid nur Augen, wir sind das Gehirn“, so antworteten die Vorgesetzten, Männer…
Yarons Entgegnung: „Wie viele Frauen sind in der Knesset? Wie viele in Verhandlungskommissionen? Wie viele in der Hamas?“ „We need women in decision making processes – I promise: that will help!“
Lee Yaron, Foto: Christian Weise
Beobachtet hatte die Autorin, dass infolge des Massakers Israelis wieder Juden wurden. Eine natürliche Reaktion auf den Angriff auf die Identität. Und nun geht es aus Yarons Sicht nicht um feelings, um ein erneutes Opfersein, sondern um choice, option, decision, für das Leben.
Trauer und Leben
„Israel, 7. Oktober“ konzentriert sich im ersten Drittel auf die Trauer, die Israel und Juden weiter tief schmerzt, ist also eine Trauerbegleitung. „Ich hoffe, dieses Buch kann jenen helfen, die trauern wollen, aber ich hoffe ebenso denen zu helfen, die sich aufrichten wollen, aufstehen wollen, um erneut von Frieden zu träumen“, formulierte Yaron es in einem englischen Interview.
Jitzchak Rabin war der letzte Brückenbauer zwischen Israel und Palästinensern. Lee Yaron, ein Jahr vor seiner Ermordung geboren, zitiert ihn im Vorwort: „Es reicht mit Blut und Tränen. Es reicht!“ Bei dem Fernsehauftritt von Leah Rabin mit ihren beiden Töchtern bei einer Gedenkveranstaltung für ihren 1995 ermordeten Mann und Vater sang Meytal Trabelsi „Ho rav chovel“, die hebräische Version des Gedichts des amerikanischen Dichters Walt Whitman. Bekannt wurde es durch seine Eingangsworte „O captain, my captain“.
Aller Schmerz, alle Trauer, die dort anlässlich der Ermordung Abraham Lincolns in Worte gefasst ist und in der hebräischen vertonten Fassung von 1995 ergreift, scheint wider in den sinnlos Ermordeten vom 7. Oktober:
O Heart! Heart! Heart!
אבוי ליבי ליבי ליבי
https:// www.youtube.com/watch?v=csCCE8f5OfI
Weil Herz, weil Augen (hier der Aufklärerinnen) – im Arabischen übrigens Bild für das Liebste und Schönste –, weil Frieden so wichtig sind, ist der beliebteste hebräische Halsanhänger Chai, Leben!
Lee Yarons Buch ist, wie sie auf dem Frankfurter Abend sagte, kein Buch über Tod, es ist ein Buch über Leben!
Titelangaben:
Israel, 7. Oktober 2023. Protokoll eines Anschlags. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. ISBN 978-3-10-397645-8. 26,- €
10/7: 100 Human Stories. St. Martin’s Press, New York 2024.
07 octobre. La journée la plus meurtrière de l’histoire d’Israël racontée par les victimes et leurs proches, de Lee Yaron, postface de Joshua Cohen, Grasset, Paris 2024
Weitere Vorstellung
Am 12. Mai fand im Literarischen Colloquium Berlin eine weitere Buchvorstellung und Diskussion des Buches statt.