Das Lesefestival „Frankfurt liest ein Buch 2025″ mit Dirk Kurbjuweits Roman „Nachbeben“ in Königstein
„Dass ich eins und doppelt bin“… Erzählhaltung frei nach Goethe
Von Petra Kammann
In diesem Jahr fanden mit über 70 Veranstaltungen Lesungen des wiederaufgelegten Romans „Nachbeben“ aus 2004 von Dirk Kurbjuweit in Frankfurt und Umgebung statt, so zum Beispiel im Vordertaunus, wo Teile der Erzählung spielen wie am Seismographen der Erdbebenwarte auf dem Kleinen Feldberg, oder in Kronberg, wo einer der Protagonisten, der Banker Lorenz, der eine Karriere bei der Bundesbank gemacht hat, mit seiner Familie lebt. In historischen Rückblenden werden mit der Einführung des Euro Schicksale entschieden… In Königstein las der Autor aus seiner literarischen Chronik der 90er Jahre in der St. Angela-Schule und diskutierte mit dem Publikum.
Dirk Kurbjuweit in der Aula der St. Angela-Schule in Königstein, Foto: Petra Kammann
Bei den Uschis, wie die Schülerinnen der Königsteiner Ursulinenschule liebevoll genannt werden, zeugen etliche Banner an Hauswänden und Treppen davon, dass hier mitsamt der ganzen Familie und allen Freundinnen gerade dem erfolgreich abgeschlossenen Abitur entgegengefiebert wird. In der Aula ist eine Lesung mit dem Autor des diesjährigen Lesefestivals „Frankfurt liest ein Buch“ Dirk Kurbjuweit angesagt. Der kommt gerade mit einer kleinen Gruppe und der Festival-Vorstandsvorsitzenden Dr. Sabine Baumann vom Kleinen Feldberg zurück. Dort haben sie gemeinsam die einstige Erdbebenwarte besucht. Eine für ihn bewegende Wiederbegegnung nach Jahren, bekennt Kurbjuweit, der viele Tage dort in seiner Kindheit verbracht hat, weil seine Eltern seinerzeit mit dem Ehepaar des dortigen Wärterhauses befreundet waren.
Eines der vielen Abi-Banner an der St. Angela-Schule in Königstein, Foto: Petra Kammann
Für den heutigen Spiegel-Chefredakteur, der sich in seinem Journalistenalltag vor allem mit Faktenchecks befassen muss, ist der Kleine Feldberg ein nach wie vor „verwunschener, verzauberter Ort in den Wolken“, der den Autor Kurbjuweit immer wieder faszinierte. 825 Meter über dem Meeresspiegel konnten hier mittels eines Maika-Seismographen aus dem Jahr 1911 weltweit 150 Erdbeben ausgemacht werden. 120 Tage im Jahr lag der Berg im Nebel, was sich auch auf das Gemüt der Menschen auswirkte. Diesem Ort mit den seismographischen Einrichtungen jedenfalls verdankt der Roman nicht zuletzt den Titel „Nachbeben“, der durchaus zweideutig und symbolisch zu verstehen ist.
Der Seismograph fängt im Roman die Wellen und Schwingungen der großen Welt ebenso ein wie auch die Gefühlslagen und zwischen-menschlichen Spannungen des darin vorkommenden Personals, die Fallstricke, Vertuschungen und Halbwahrheiten inklusive, nicht zuletzt emotionale, einem Erdbeben vergleichbare Erschütterungen. Um solche Parallelzustände, die eher den Blick ins Innere der einzelnen Personen offenbaren, geht es in dem teils lakonisch, teils auch komisch erzählten Buch immer wieder.
Der Autor beschreibt einerseits den sympathischen Wärter Luis, der tagtäglich leidenschaftlich die Erdbebendaten erforscht und auswertet. Dessen einzige Nachbarn – das Verwalterehepaar Konrad und Charlotte – haben einen Sohn Lorenz, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verbindet. Häufig besucht der den alten Luis und das, obwohl Lorenz inzwischen auch ein aufstrebender Banker in Frankfurt ist. Als nach einem Beben im Rheinland eine verängstigte junge Frau aus Köln in der Messstation anruft, weil sie glaubt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, tröstet Lorenz sie zunächst geduldig, versucht, die aufgedrehte Frau am Telefon zu beruhigen, um gleich darauf zu ihr nach Köln zu eilen. Denn er hat sich unmittelbar in ihre Stimme verliebt. Aus der Erdbebennacht wird eine Liebesnacht. Selma wird später auch seine Frau.
Gabriele Fachinger, Bibliothekarin & Literaturpädagogin der St. Angela-Schule, im Gespräch mit dem Autor, Foto: Petra Kammann
War es sein „Helfersyndrom“, das ihn zu dieser Spontanaktion bewegt habe? Er sei so spontan wie auch konservativ zögerlich zugleich, bemerkt der Autor auf Nachfrage von Gabriele Fachinger, der die Veranstaltung geschickt moderierenden Bibliothekarin & Literaturpädagogin der St. Angela-Schule.
Packend liest er die Szene, als sich die junge Familie im Speckgürtel Frankfurts, in Kronberg, ein Wohnhaus kaufen will, das sie sich eigentlich gar nicht leisten können und dann noch den armen Handwerker im Preis drücken, der verkaufen muss. Sie feilschen und gehen einen unfairen Handel ein. Man spürt förmlich das sich damit anbahnende künftige Unheil.
Da interessiert den Schriftsteller vor allem auch das Ausschmücken dessen, was hinter dem journalistischen Faktenvermitteln liegt: der Mensch in all seinen Ups und Downs, in seiner Verführbarkeit wie in seinem Verhalten in einer äußersten Notlage. Für solche Themen und Figuren entwickelt Kurbjuweit nicht zuletzt auch in den Dialogen einen je eigenen Sound, der sich gewissermaßen beim Schreiben verselbständige und einen eigenen Raum schaffe.
Natürlich dreht es sich in den Diskussionen um den ausgebildeten Volkswirtschaftler und Spiegel-Journalisten Kurbjuweit auch um die Finanzthemen der damaligen Zeit. Immerhin hat der Protagonist Lorenz seine Karriere bei der Bundesbank gemacht. Und nun ist sein Abstieg verschiedener Vertuschungen und Unangepasstheiten wegen vorprogrammiert. Bei der Einführung des Euro hatte sich ihm nach der Wende 1989 die Frage gestellt, ob der Wechselkurs 1:1 eine absolute Notwendigkeit sei, um so etwas wie ein geeintes Europa zu schaffen (das nun so gar nicht mehr geeint zu sein scheint)? Hätte man den Neid so mancher Nachbarstaaten über die harte Währung der Deutschen Mark damals nicht anders brechen können, indem man vorab erst einmal eine politische Union geschaffen hätte? Lorenz aber wird dazu nicht mehr gefragt. Die Frage bleibt 20 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Romans 2004 durchaus aktuell.
Dirk Kurbjuweit diskutiert die hellen und dunklen Seiten der Erzählfiguren, Foto: Petra Kammann
Und das Frauenbild, das Kurbjuweit vermittelt, hat auch die anwesenden Schülerinnen bewogen, sich zu Wort zu melden. Ob der Autor seiner im Roman vorkommenden Frau nicht eigentlich ganz schön viel zumute? Der Autor kontert, dass er die Atmosphäre der 90er Jahre widersgespiegelt habe, auch in dieser Hinsicht. An dem Punkte wird deutlich, was sich in den vergangenen Jahren getan hat, dass frau wesentlich selbstbewusster geworden sind.
Aber der Autor wird auch mit der Frage konfrontiert, ob er überhaupt das Recht habe, das Leben anderer zum Vorbild für seine Erzählungen zu nehmen. So gibt es u.a. auch die Beschreibung einer Villa in Königstein, die oberflächlich betrachtet, bestens mit Biedermeiermöbeln ausgestattet ist. Dahin kehrt der Bundesbanker Lorenz als melancholisch gestimmter Verlierer vom Davos-Gipfel zurück und genießt den herrlichsten Ausblick auf den Taunus. War er beim Präsidenten Karl Otto Pöhl zu Gast?
Prognosen auf den Bannern der Abiturientinnen beim Aufgang zur Aula, Foto: Petra Kammann
Verwirke man als Autor nicht eigentlich das Recht am eigenen Bild, das Recht am eigenen Leben des Romanpersonals, am Eigentumsrecht der beschriebenen Orte? Wie lasse sich dieses Recht eigentlich definieren? Wieviel autobiographische Erzählererfahrung stecke darin, muss sich der Autor fragen lassen. Der Blick von außen sei immer ein anderer, so seine Meinung. Das führe bisweilen auch zu Konflikten in der eigenen Familie, die sich in manchen Verhaltensweisen wiedererkenne. Denn realitätsnah müsse die Beschreibung doch schon auch sein.
Aber mit dem anderen, dem distanzierteren Blick schaffe der Schriftsteller mit seinem zweiten parallelen Leben auch jeweils neue und andere Perspektiven, in dem er den Figuren der Geschichte und deren innerer Logik folge. Er wolle niemanden ideologisch missionieren, sondern schlicht etwas erzählen, in dem sich die Menschen wiedererkennen.
Bisher habe sich noch niemand bei ihm beschwert. So erinnert sich Kurbjuweit an die Lesung nach Erscheinen des Buches in Kronberg, wohin auch die Hausmeisterfamilie, die bis 1999 auf dem Kleinen Feldberg gelebt habe, gekommen sei und begeistert zugestimmt habe. Und seine seither wachsende Romanfamilie, die habe im Übrigen inzwischen viele neue Familienmitglieder bekommen. Gerade habe er einen neuen Roman beendet. Man darf auch auf Zukünftiges gespannt sein. Da fiel lediglich der Name Olaf Scholz.
Weitere Infos unter:
www.frankfurt-liest-ein-buch.de
2004 erschien der Roman im Schweizer Verlag Nagel & Kimche. Über zwanzig Jahre später wurde das Buch nun neu im Penguin Verlag aufgelegt, der heute zur Verlagsgruppe RandomHouse gehört.
Dirk Kurbjuweit: Nachbeben
Penguin Verlag
Hardcover mit Schutzumschlag
224 Seiten
ISBN 978-3-328-60408-2, € 24
Zum Autor: Dirk Kurbjuweit
Dirk Kurbjuweit wurde 1962 in Wiesbaden geboren und verbrachte Teile seiner Kindheit im Vordertaunus auf dem Kleinen Feldberg. Als Zeit– und Spiegel-Reporter einer breiten Leserschaft bekannt, überzeugte er schon früh auch als Erzähler. Nach seinem Debüt Die Einsamkeit der Krokodile (1995) wurden besonders die Novelle Zweier ohne (2001) und der Roman Angst (2013) von der Kritik gefeiert. Zuletzt sorgten der Roman Haarmann (2020) und die Erzählung Der Ausflug (2022) für ein breites Presse-Echo. Etliche seiner literarischen Erfolge dienten überdies als Vorlage für Verfilmungen, Theaterstücke und Hörspiele.