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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Ein neues „Buch der Bücher“: das Kunstbuch „Im Mosaik schlafen“ von Raffaela Zenoni

Wie es sich schrieb und malte
Autorin/Malerin Raffaela Zenoni
unterwegs

Von Erhard Metz

Bereits das Autorinnen-Impressum des Buches zeigt uns das Statement und Bekenntnis der Künstlerin Raffaela Zenoni als Schriftstellerin und Malerin, ebenso ihre Selbstverortung: im unterwegs. Im realen Irdischen, im Reich der Träume, im Universellen.

Im Mosaik schlafen – Marie und Tante Selva, 2016, Acryl auf Leinwand, 6 Bahnen 60 x 180 cm

Das Buch ist groß bereits im äußeren Format von 30 x 30 cm, von stattlichem Gewicht, außergewöhnlich in seiner Gestaltung: eine ausgreifende Erzählung, ein Roman, eingebettet in großformatige Abbildungen der Malerei wie auch in eine Vielzahl kleiner würfelförmiger Ausschnitte, Mosaiksteinen gleich, es mögen an die einhundert sein – wir haben sie nicht gezählt; all dies in hervorragender Druckqualität, der Text auf zart-cremefarbigem und zart-blaugraufarbigem Grund – ein einzigartiges Gesamtkunstwerk.

Eine Besonderheit: Das Buch öffnet sich der Leserschaft mit seiner unverkleideten, offenen Fadenheftung im Rücken. Mancherlei Assoziationen stellen sich ein, ein frei eingeräumter Blick in ein offenes Atelier. Oder im Gegenteil: Mit den Fingerkuppen über die Nähte zu gleiten ist wie das Befühlen einer vernähten, noch verletzlichen, aber heilenden Wunde; auch vermittelt es das Gefühl eines fast schon ungebührlich eindringenden Blicks in ein intimes Innenleben aus verbotener Perspektive. Oder: Mensch wie Tier halten, genetisch bedingt und instinktiv, ihren Rücken stets geschützt und begegnen invasiven Herausforderungen oder Bedrohungen von vorn: Raffaela Zenonis Buch hingegen öffnet dem Betrachter gleichsam ungeschützt seinen offenen Rücken.

Die Erzählung, der Roman, führt – oder verführt – die Leserschaft in eine Welt von Märchen, wechselnden Träumen und Wirklichkeiten – immer im Spiegel der Malerei. Die handelnden und träumenden Personen – zeitlich bereits im Jahr 2016, also vor dem behutsamen Wachsen und Werden der Erzählung auf Leinwand gebannt -, läßt Raffaela Zenoni mit all deren fantasievollen Farbigkeit und malerischen Expressivität aus der Fläche hervor- und heraustreten und im verfaßten Wort eine gleichsam zwitterhafte Dimension gewinnen – sie sind ein und dasselbe, gleich ob als Wort oder als Bildnis. Wir denken an den Welle-Teilchen-Dualismus in der Quantenwelt – erst der gezielte Blick des Betrachters legt das Betrachtete in seiner uns zugänglichen Welt und Wirklichkeit fest.

Im Mosaik schlafen – Die versunkene Stadt, 2016, Acryl auf Leinwand, 130 x 195 cm

Und: In den Roman eingebettet ist eine weitere Erzählung „Die Schrift von der Dankbarkeit“, in sechs Episoden, mit einer nach Krieg unter den Menschen in einem Meer der Erinnerungen versunkenen Stadt, mit einem Hinab- und Herauftauchen, Träumen, transzendierenden Wirklichkeiten.

Bewußt hier nur in aller Kürze die handelnden Personen, denn wir wollen der Leserschaft nicht den Inhalt des Werkes vorwegnehmen, sondern Neugier erwecken und sie zu Tauchgängen und anderen Abenteuern ermutigen. In den sich durchdringenden Erzählungen begleiten uns Marie und ihre Tante Selva, letztere schreibt ihre Erlebnisse in ein Linienheft und besucht, regelmäßig am Haus des Herrn Nachbarn vorbeigehend, drei langnasige Brüder auf der roten Bank im Park, mit denen sie sich austauscht und von denen sie wichtige, wegweisende Impulse empfängt. Wieder und wieder taucht Selva zu der im Wasser versunkenen Stadt. Marie arbeitet in der Anwaltskanzlei von Herrn Leopold, nach dessen plötzlichem Tod erbt sie die Kanzlei und dessen Villa am See, die sie später bezieht, samt Haushälterin Bernadette und sechs Kindern aus der versunkenen Stadt.

Im Mosaik schlafen – Amael, 2016, Acryl auf Leinwand, 130 x 195 cm

Im Mittelpunkt der Romanerzählung steht Amael, ein kleiner Junge mit Goldstaub in den Augen, dessen Haar nach Harz und Honig duftet – in zweierlei Gestalt, wiederum denken wir an den Welle-Teilchen-Dualismus: Amael ist ein im Sonnenlicht leuchtender Bernstein, wenn fremde Beobachter in der Nähe sind. Er verwandelt sich in den kleinen Jungen, wenn er allein ist mit den drei Brüdern auf der Bank oder dann mit Selva. Er hat eine Anmutung von de Saint-Exupérys Kleinem Prinzen. Wie wir bei Michael Calinski lesen, habe der Name Amael bretonische beziehungsweise keltische Wurzeln mit der Bedeutung kleiner Prinz. In der jüdisch-christlichen Mystik bedeute er „Engel der Hoffnung“. Calinski wiederum zitiert Geoffrey Hoppe, Amael sei hier, „um auf der neuen Reise zu helfen, das Herz zu öffnen und Hoffnung freizusetzen“.

Selva nimmt Amael auf Bitten der drei Brüder zu sich nach Hause und legt ihn – nun wieder in Gestalt des Bernsteins – auf den Küchentisch, wo er nächtens ruht. Traum und Märchen bilden ein Geschwisterpaar, vereint in Zweisamkeit. Auch Marie und Amael werden miteinander vertraut: „Sie roch Harz und Honig und sah den Goldstaub in seinen Augen. Sie sah viele Millionen Jahre in seinen Seelenfenstern … Sie fühlte die Berührung mit dem Universum und allen Parallelwelten über ihr und unter ihr und in ihr. Sie wurde transportiert mit der Ausdehnung des Universums in unbeschreiblichem Ausmass an Weite und Geschwindigkeit in andere Dimensionen. Nur eine Realität gab es noch, welche ihr bekannt vorkam. Das war ihr eigener Atem.“ Eine Schlüsselstelle des Buches, wie wir meinen. Später darf Amael mit seiner Beschützerin Selva und Marie mit auf Tauchgang gehen zu der versunkenen Stadt.

Im Mosaik schlafen – Die drei Brüder, 2016, Acryl auf Leinwand, 130 x 195 cm

Am Ende der Erzählung verblassen und verschwinden die drei Brüder auf der roten Bank. „Sie sind weg. Was bleibt, ist ihr Licht. Tante Selvas Licht auf der roten Bank.“ Auch die versunkene Stadt ist verschwunden, als Marie, im Boot zur Mitte des Sees vor der Villa, allein zu ihr hinabtauchen will. „Ihr Staunen war groß. Der glasklare See gab den Blick frei für alles, bis auf den Grund. Die versunkene Stadt war nicht mehr da.“

Im Mosaik schlafen – Tante Selvas Traum, 2016, Acryl auf Leinwand, 6 Bahnen 60 x 180 cm

Bedeutsam sind Attribute, die Raffaela Zenoni ihren Geschöpfen beigesellt wie zum Beispiel Lavendel und Pfefferminze, Harz und Honig, Goldstaub oder Pflaumenkuchen.

Im Buch schließt sich ein allumfassender Kreis. Aus dem Prolog: „Eine Handvoll bunte Mosaiksteine haben dort auf sie gewartet … Heute legt Marie sie im Mosaik schlafen. Sie trägt die Edelsteine in die Küche. Marie stellt den umgefallenen Stuhl auf “ … Und aus dem Epilog: „Marie schläft im Mosaik. Morgen stellt sie in Tante Selvas Küche den umgefallenen Stuhl auf“. War alles vielleicht ein einziger großer Traum – in einer einzigen Nacht?

Geheimnisvoll bleibt das Mosaik: In ihm schlafen die bunten Steine. Aber auch Marie. Auch die Künstlerin, wagen wir weiterzuspinnen, mit ihren großen Bildtafeln, ihren dargestellten Geschöpfen, mit ihrem Ich und Selbst im „unterwegs“. In der als Schlüsselstelle bezeichneten Passage vermuten wir in Marie die Künstlerin.

Das Mosaik: die Struktur des Lebens in seiner unendlichen Vielfalt, im Reichtum der Varianten. Die Buntheit der Schöpfung in Gestalt der Evolution, im hier gelebten und geträumten Irdischen, in der kaum begreiflichen Welt der Quantenphysik, in der noch unbegreiflicheren Unendlichkeit des Universums. Und was anderes sollte eine Künstlerin bewegen, zu Farben zu greifen und all dies Wunderbare wie Unbegreifliche in ihren eigenen Farben und nun auch Worten für sich, für die Mitmenschen, ja für die Menschheit festzuhalten und zu überliefern?

Ein neues „Buch der Bücher“: KUNST ROMAN KUNST „Im Mosaik schlafen“ von Raffaela Zenoni

Dieses Gesamtkunstwerk wurde bereits im Dezember 2024 im Haus für Kunst Uri in deutscher Sprache der Öffentlichkeit vorgestellt. Eine Version in Kroatisch wird am 5. Mai in Zagreb und am 8. Mai 2025 in Split präsentiert. Ausgaben in Englisch und Spanisch sollen folgen.

Raffaela Zenonis Arbeiten wurden in zahlreichen Publikationen besprochen, unter anderem in diesem Kulturmagazin. Die Künstlerin mit Wohnsitz in Spanien und derzeit in Zagreb stellte inzwischen ihre Werke in Bern, Berlin, Brüssel, Echternach, Frankfurt am Main, Gaucín, Luxembourg Stadt, Split, St.Moritz, Stuttgart, Zagreb und Zürich aus. Raffaela Zenoni ist ständiges Mitglied der Künstlergruppe „Art Gaucín“ in Andalusien.

Raffaela Zenoni, Im Mosaik schlafen, 30 x 30 cm, 116 Seiten, Streifbroschur Hardcover, Faden im Rücken sichtbar, ISBN: 978-3-033-10801-1. Zu beziehen bei Gisler 1843 AG, Gitschenstrasse 9, CH-6460 Altdorf; Tel. +41 41 874 18 43, E-Mail info@gisler1843.ch.

Abbildungen © Raffaela Zenoni, Fotos: Goran Vranic

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