„Das Tagebuch der Anne Frank“ – ein Film von Alexandre Moix
Vom Verlieren der Unbekümmertheit und Finden der Freundschaft in Zeiten des Schreckens
Von Christian Weise
Vergebens klingelt Anne Franks Spielgefährtin Hanneli an der Haustür. „Weißt Du nicht, die Familie Frank ist in die Schweiz ausgewandert?“ Ihre anschließende Erkundung der verlassenen Wohnung zeigt: es fehlt Annes rotkariertes Tagebuch. Alexandre Moix‘ neuer Film, der am vergangenen Montagabend als Preview im Frankfurter Filmmuseum vor ausgewähltem Publikum vorgeführt wurde, widmet sich den Tagebüchern Anne Franks.
Vor und nach der Preview-Vorstellung unterhalten sich Zuschauer und Produzenten lebhaft über die junge Frau im Hintergrund: Anne Frank, Foto: Christian Weise
Vielschichtige Relecturen
Wie so viele hatte Moix als Jugendlicher ihre Aufzeichnungen von 1942 bis 1944 aus dem Hinterhaus gelesen. War es die erneute Lektüre vor zwei-drei Jahren, die ihn dazu anregte, seinen Dokumentarfilm nun vielschichtig wie eine Murmel zu gestalten? Mit zunehmenden Lebensjahren nehmen wir unsere Welt nicht nur platt und flach war, sondern Erinnerungen und Zeiten wischen und spiegeln ineinander, jetzige Orte lassen vergangenes Leben aufleuchten, Erinnertes beleuchtet jetziges Leben.
Alexandre Moix, Regisseur des Films „Das Tagebuch der Anne Frank“, Foto: Christian Weise
Bereits Anne Frank freilich konnte formulieren: „Nun betrachte ich mein eigenes Leben und merke daß eine Zeitspanne unwiderruflich abgeschlossen ist; die unbesorgte, kummerlose Schulzeit kommt niemals mehr zurück…“ [592]
Die heutigen Jugendlichen mit seinem Konzept zu erreichen und zu begleiten – dies war der Hauptimpuls des Dokumentarfilmers aus Orléans, der bei der Produktionsfirma Kobalt, dem französischen Fernsehen und schließlich bei 3sat auf Widerhall stieß.
Eine starke Anne Frank und heutige starke junge Frauen
Um das Thema „Das Tagebuch der Anne Frank“ aus den schlimmen Zeiten nationalsozialistischer Verfolgung zunächst einmal zu verorten, nimmt Moix die Filmbetrachter mit und spiegelt sie in einem dunkelblonden, blassen und knabenhaften Mädchen, welches das Anne-Frank-Haus in Amsterdam in der Prinsengracht 263 besucht, sich den Audioguide der Ausstellung aufsetzt und so in die Welt Anne Franks entführen lässt.
Nachdem durch diese geführte Zeitreise die Vorgeschichte der Familie Frank von ihrem Weg von Frankfurt nach Amsterdam, die Verfolgung der Juden und die ersten Jahre des Zweiten Weltkrieges schlaglichtartig umrissen sind, folgt Moix mit aussagekräftigen Passagen aus Anne Franks Tagebuch den über 760 Tagen in dem Hinterhaus-Versteck – Achterhuis –, in dem sich bald acht Menschen auf engem Raum durch den Alltag schleppten. „Ich fühle mich eher wie in einer sehr eigenartigen Pension, in der ich Ferien mache“, so Anne.
Um die verschiedenen Charakterseiten Anne Franks zu zeigen und zugleich jetzige jugendliche Filmbetrachter zu gewinnen, spielen, die bereits erwähnte Besucherin inbegriffen, fünf Mädchen, die je und je auch im „Journal“ lesen, ohne freilich jemals selbst etwas zu sagen, sie nach. Zu sehen sind als „implizite Rezipienten“, die als Schülerinnen einer Schulklasse angedeutet werden, auch zwei farbige Mädchen, eine von ihnen mit Dreadlocks: der Wirkungskreis des Films will groß sein!
Anders als die nun eingesperrt lebende Anne Frank zelebrieren die Mädchen von heute auf Wiesen sich bewegend oder auf einem einfachen Tretroller fahrend ihre Freiheit. Diese Jugendlichen sind durchweg fröhlich, so wie es Anne Frank nach außen hin war. „Mein Rat: geh hinaus auf die Felder!“, formuliert Anne.
Die kritische Ausgabe der Tagebücher Anne Franks von 1988 enthält alle verschiedenen, die ursprünglichen, gekürzten und ungekürzten Versionen. Für die Filmversion wurde der Text bearbeitet.
Wie zu erwarten zu für Leser der Tagebücher Anne Franks, insbesondere denen der sogenannten kritischen Ausgabe von 1988, die auf Kürzungen in den ersten Auflagen aufmerksam macht, werden im Film früher „zensierte“, „anstößige“ Passagen gelesen. Gelesen werden alle Tagebuchauszüge übrigens von Mala Emde, die bereits in einer früheren Verfilmung Anne Frank darstellte.
„Mitunter kann ich es des Abends nicht unterlassen, meine Brüste zu betasten und zu hören, daß mein Herz sicher und ruhig schlägt. … Jedesmal gerate ich in Ekstase, wenn ich eine nackte Frauengestalt sehe…“ [509] und weiterhin die Beschreibung ihres Geschlechts [647f.].
Noch stärker mag auf weibliche Jugendliche eine weitere Passage Anne Franks wirken: „warum [nimmt] die Frau bei den Völkern einen so viel geringeren Platz [ein] als der Mann? … die Würdigung der Frau, die muss kommen! … Frauen sind viel tapferere … Soldaten … als die vielen großmäuligen Freiheitshelden!“ [768-769]
Diese Aussage steht im Kontrast zum Pessimismus von Mutter Frank und der laschen, gleichgültigen und nachgiebigen Schwester Margot.
Die andere, sehnsüchtige Anne
In einer Reihe von Szenen wird neben der aufgeweckt-fröhlichen und starken Anne eine ernsthafte und durch die Lichtgestaltung melancholisch wirkende Anne vorgeführt, die ihre Sehnsucht nach ihrer ersten Liebe formuliert.
Die dunklen Aufnahmen Annes unter dem Dach erinnern ähnlich wie die Szenen der acht „Hinterhäusler“ am Mittagstisch an Gemälde von Spitzweg oder Rembrandt, geben Raum für atmosphärische Phantasien.
Anne, durch Radiohören und Zeitungslektüre stets aktuell informiert, macht sich trübe Gedanken über den Weltenlauf, endet aber dann doch mit einem zuversichtlichen Schluss. Den Optimismus teilte mit ihrem Vater – das übliche Paktieren der Kinder mit dem jeweiligen Gegengeschlecht.
Mirjam Pressler lieferte nicht nur die zweite Übersetzung der Tagebücher der Anne Frank, Foto: Christian Weise
Ein starkes Ende
Ein starkes Ende hat Moix gefunden zum Abschluss des Tagebuchs: Aufnahmen der Entdeckung und Stürmung des Hinterhauses werden konterkariert zart porträtierten Liebe zwischen Anne und Peter und Annes Aufzeichnungen über Liebe und Zukunft: Die „Grünen“ (also die Ordnungspolizei) erklettern in voller Uniform und mit Gewehren bewaffnet die steile Treppe, reißen Schubladen auf, werfen Besteck zu Boden, zerschmettern Glas und Porzellan, schmeißen das Familienfotoalbum achtlos beiseite, verstreuen die Tagebuchaufzeichnungen Anne Franks, also ihr rotkariertes Tagebuch und die verschiedene farbigen Durchschlagpapiere mit klarer Mädchenhandschrift. Erstarrt, ängstlich und entsetzt blicken acht Gesichter, umrahmt von hochgehobenen Händen, gekrümmten, als wollten sie noch etwas festhalten. Innenwelt und Außenwelt stoßen aufeinander.
„Ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit, und doch, wenn ich nach dem Himmel sehe, denke ich, daß alles sich wieder zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte aufhören wird. Ich glaube noch immer an das Gute im Menschen.“ [786]
Nur noch nachklappend, wie eine erklärende Fußnote, werden begleitet zu Bildern vom Krieg, lakonisch die Lebensdaten der acht Hinterhäusler als Text eingeblendet. Bis auf Otto Frank starben sie alle in Konzentrationslagern.
Für seinen vielschichtigen Film hat Moix in mehrere Fächer gegriffen: er nutzt das Tagebuch Anne Franks, erstaunliche erhaltene Fotos, die er manchmal animiert, er nutzt alte, teils verblichene Dokumentarfilme, ältere Interviews mit den Zeitzeugen, einige neuproduzierte, verpixelte Aufnahmen von Amsterdam und Bomberangriffen, ferner immer wieder heranzoomende Dronenaufnahmen vom Hinterhaus und in einem Schloss bei Paris stummfilmartig nachgespielte Szenen vom Leben im Versteck.
„Das Tagebuch der Anne Frank“ nach der Premiere und die weitere Wirkung des Films
Moix‘ anderthalbstündiger Film „Das Tagebuch der Anne Frank“ wird seit Mittwochabend auf 3sat um 20.15 auf Deutsch ausgestrahlt und soll anschließend auf den verschiedenen Plattformen, die Jugendliche nutzen, sein Publikum erreichen: Insbesondere das ZDF, das dem 3sat sein „Hinterhaus“ zur Verfügung stellt, versucht mit neuen Modellen mit der Zeit zu gehen, zu streamen, soziale Medien zu nutzen.
Gewinnend in dem Film sind humorvolle Beobachtungen Anne Franks: „Spinat – vielleicht werden wir noch einmal so stark wie Popeye!“, „die [Erwachsenen] stellen sich immer so dumm!“ [647] und „Mutter ist ein Beispiel, aber umgekehrt, wie ich es nicht machen will.“ Protestierende gegenteilige Reaktionen wollen Aussagen hervorrufen wie „Ich glaube nicht, dass sich später jemand für die Herzensergüsse eines 13jährigen Schulmädchens interessieren wird.“ Aktuell sind Annes Fragen und Beobachtungen: „Warum gibt man jeden Tag Millionen für den Krieg aus, … warum sind die Menschen so verrückt?“ Die Aussage Otto Franks am Ende des Films klingt allgemeingültig und als sei sie auf die Gegenwart hin formuliert: „Diese Verfolgung gibt es noch immer, nicht nur auf Grund von Rasse und Religion, sondern auch wegen politischer Überzeugungen. Was können wir jetzt tun?“ Erschreckend ist Annes Beobachtung und Wunsch: „Mein Füllhalter ist eingeäschert worden, genau, was ich später auch will.“
Vom Dokumentarfilm herkommend, spielt Moix nicht mit den Emotionen der Zuschauer, provoziert also nicht Tränen oder Empörung, und bleibt so wie Anne Frank in ihrer Beziehung zu ihrer besten Freundin „Kitty“, also ihrem Tagebuch, in einem freien, wirklich freundschaftlichen Verhältnis, das sich an dem Zusammensein und Austausch erfreuen will.
Für die Preview-Filmvorführung waren pars pro toto einige Jugendliche eingeladen – Töchter von FAZ-Journalistinnen. „Nein, das ist zu hoch gegriffen!“, antwortete lächelnd die 3sat-Mitarbeiterin auf die Frage, ob mit dem Film männliche Jugendliche etwa von den S-Bahneingängen an der Konstablerwache oder des Hauptbahnhofs damit angesprochen werden könnten.
Mirjam Presslers Bücher über Anne Frank und ihre Familie
So sehr die mitzuerlebende reflektierte Entwicklungsgeschichte Annes mit ihren Überlegungen zu Eltern, Freundinnen, Liebe und eigener Stärke mitzureißen vermag, so sehr stimmt nachdenklich: Es gibt keine wirklich vergleichbaren Aufzeichnungen von Jungs aus der Zeit des nationalsozialistischen Verfolgungswahns. Wie lassen sich dann die Ausdrucksmöglichkeiten derer erweitern, die sich nicht ausdrücken können?
Die Tagebücher von Arieh Koretz aus Bergen Belsen sind fast unbekannt
Für das empathische Einleben in diese wie andere, jetzige Zeiten bleibt also weiterhin aktuell: Phantasie und Interesse für die Anderen, die Bereitschaft, sich als Anderer oder eine Andere vorzustellen.
In der Mediathek von 3sat wird der Film „Das Tagebuch der Anne Frank“ für 1 Jahr aufzurufen sein unter:
https://www.3sat.de/film/dokumentarfilm/anne-frank-tagebuch-einer-jugendlichen-100.html
Die französische Version findet sich bis zum August 2025 ebenfalls im Internet unter: