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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Arbeit am zerbrochenen Spiegel: Léo Maillet, Künstler aus Frankfurt – Eine Kabinettausstellung im Jüdischen Museum

Der zerbrochene Spiegel – Léo Maillet auf der Flucht

Für Renate Siefert (1939-2025)

Von Christian Weise

Der Rasierspiegel fiel samt dem Nagel von der Wand und zerbrach. Léo Maillet machte sich Ende Januar 1944 auf die letzte Etappe seiner Flucht: Menschen sind einander Spiegel. Ist der Spiegel zu groß, erscheinen wir darin winzig. Ist er zu klein, kann er uns nicht abbilden. Beides Ursache für Verzerrungen und Probleme. Maillots sehr kritischer und strenger Frankfurter Lehrer Max Beckmann, in dessen Städel-Meisterklasse er ab 1930 war, kommentierte dessen Ölbild einer Pianistin von 1932: „verstanden!“ Maillet war vom Meister wahrgenommen und angenommen, der Spiegel passte.

Der zerbrochene Spiegel – Radierung von 1959 nach einer Tuschezeichnung vom Januar 1944

Des Künstlers Spiegel sind seine Kunstwerke. Leo Maillet skizzierte 1944 sein im zersprungenen Spiegel gebrochenes Bild. Der zerbrochene Spiegel wurde nun der Titel einer neuen Kabinettausstellung des Jüdischen Museums in Frankfurt. Der zerbrochene Spiegel auch der Spiegel des Schaffens von Léo Maillet?

Le Graveur. Selbstporträt mit Kaltnadel, Ölgemälde aus dem Jahre 1944

Leopold Mayer, so sein Geburtsname, stammte aus Frankfurt am Main. Sein Lebensweg bis in die Zeit der Nationalsozialisten, der Judenverfolgung und des Zweiten Weltkrieges ließen ihn ein Überlebenskünstler werden. 1902 geboren, durchlief er in den wirtschaftlich schwierigen 20er Jahren nach Besuch des Philanthropin zunächst eine Ausbildung bei „Spitzen-Strauß“, durfte als Vertreter herumreisen, verlor seine Schüchternheit und gewann seine Sprachkundigkeit. Sein Vater, Inhaber eines florierenden Damenhutgeschäfts, förderte anschließend von 1923 bis 1930 fröhlich und großzügig die künstlerische Ausbildung seines Sohnes in der Frankfurter Kunstschule in der Graphikklasse von Franz Carl Delavilla und anschließend in der Malklasse Max Beckmanns. 1933 fand sie ein jähes Ende.

Die ersten Malarbeiten Mayers wurden sogleich publiziert und 1931 sogar mit dem Goethepreis ausgezeichnet.

Die Uferstraße – Ölbild aus dem Jahre 1930. Verschollen

Mitte der 30er Jahre gelang es Leopold Mayer im zweiten Anlauf, mit seiner Lebensgefährtin Margarethe Hoess, sich aus Nazi-Deutschland nach Paris zu retten. Die zehn Jahre währenden Fluchtwege bis zur endgültigen Rettung in der Schweiz 1944 wurden intensiv und verworren, wie eine Skizze der Routen zeigt. Léo Maillet, wie er sich nun nannte, hatte Glück. Sein größtes Glück war es schließlich, im Tessin heimisch zu werden.

Tagebuchnotizen Léo Maillets

Ausführlicher rekonstruiert hat der Künstler seine Wege später: unter Rückgriff auf seine stichwortartigen Notizbüchlein formulierte er mit zeitlichem Abstand seine Fluchterfahrungen, für Freunde, Sammler und seine inzwischen erwachsenen Söhne. Die nachträglichen Tagebücher, um 1980 entstanden, enthalten humorvoll wiedergegebene Anekdoten und zeugen öfter von der Verblüfftheit Maillets über zufällige Begegnungen und Begebenheiten, was in seiner Schilderung zuweilen an magischen Realismus erinnert. Sie bilden die Textgrundlage eines 1994 veröffentlichten schönen Bandes, der im Buchladen des Jüdischen Museums weiterhin erhältlich ist.

Leo Maillet. Bilder, Skizzen und Notizen eines Frankfurter Malers. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Schulz. Mainz 1994

Eine wichtige Mappe Maillets mit eindrücklichen Radierungen zu den Kriegsjahren stammt aus dem Jahre 1971: „Entre loup et chien“. In ihr hat er seine Zeichnungen und Aquarelle der Dämmerungs-Jahre des Krieges, vor allem der Zeit ab 1942, in neuen Radierungen aufgegriffen und umgesetzt.

Anstelle eines gelehrten Vortrags zu Leben und Werk Maillets wurde das zahlreiche Publikum bei der Vernissage am vergangenen Donnerstag im Jüdischen Museum mitgenommen durch die Vorführung des Films von Peter Nestler aus dem Jahre 2000: „Flucht“.

Peter Nestler im Gespräch mit Museumsdirektorin Mirjam Wenzel, Foto: Christian Weise

Léo Maillet – gespiegelt in Peter Nestlers Film „Flucht“

Im älteren Sohn Léo Maillets, dem Künstler Daniel Maillet, gespiegelt, durfte sich die Zuschauerschaft in die Flucht, die Erlebnisse sowie die möglichen Wahrnehmungen und Perspektiven hineinfinden. 55 Jahre nach Ende der Schrecken trafen der Dokumentarfilmer und Daniel Maillet um die Jahrtausendwende sogar noch auf letzte Zeitzeugen, die Léo Maillet begegnet waren. Knorrig gewordene Alte erzählten, bisweilen von Daniel skizziert und gemalt, oder wiesen etwa den Weg zu dem Häuschen, in dem der Künstler damals versteckt lebte. Überrascht erblickten die Filmzuschauer als jetzigen Bewohner desselben einen lächelnden Mann, dem – wie Léo Maillot nach seinem Sprung aus dem Zug nach Auschwitz – die oberen Zähne lädiert waren…

↑↓ Zwei französische Zeitzeugen, die Léo Maillet in ihrer Jugend begegneten

Außer zu den eindrucksvollen Franzosen, die an alte französische Filme erinnerten, wurden alle Anwesenden im Jüdischen Museum mitgenommen in die südfranzösischen Landschaften, bei etwas Phantasie drang der Duft der Gräser, Büsche und Bäume der Cevennen in die Nase. Eine Kaltnadelradierung von 1943 gibt in der Frankfurter Kabinettausstellung einen Eindruck von Maillets Hirtenleben.

Hirten und Ziegen. Kaltnadelradierung 1943

Daniel Maillet blickt auf die Cevennen, wo Vater 1942-1944 als Hirte lebte

Léo Maillet im „Spiegel“-Kabinett des Jüdischen Museums

Léo Maillets künstlerisches Schaffen ist heute umfassender zu überschauen. Zweimal wurde er seiner Radierplatten und Drucke beraubt, einmal in Frankfurt und einmal in Paris. Gleichwohl waren vor dem Exil einige frühe Arbeiten in Privatsammlungen geraten oder es existieren Drucke oder Fotos. Außerdem „rettete“ die Concierge des Pariser Hauses, in dem Maillet lebte und dessen Architekten er das Fotografieren beibrachte – sein neuer Beruf! –, mehrere Dutzend Arbeiten, als die Gestapo 1943 sich anschickte, alles zu vernichten. 300 Druckplatten und Bilder gingen jedoch verloren.

„Der zersprungene Spiegel“ ist nun das Thema, unter dem das Jüdische Museum mit seiner von Erik Riedel kuratierten Kabinettausstellung an Léo Maillet erinnert. Begrüßt wird die Besucherschaft mit der titelgebenden Radierung. Weitere Selbstporträts, in denen sich der Künstler seiner selbst vergewisserte – eine Radierung, in der Maillet entfernt an Picasso erinnert, ein Ölgemälde – blicken ernst auf den Betrachter.

Selbstporträt Léo Maillets, Radierung, 1945

In seinen Tagebuchaufzeichnungen schreibt Maillet, wie er es nicht wagte, die karikaturenhaft wirkenden Gestapoleute in der ehemaligen Backsteinfabrik „Les Milles“ bei Aix-en-Provence, die nun Konzentrationslager geworden war, zu zeichnen. Nur die nervös Herumrennenden skizzierte er. Radierend erfasst hat er die erlebten Szenen jedoch erst Jahre nach dem Erlebten.

Vor der Deportation. Radierung von 1962

Die Kunst war seine Weise, sein Weg, die Erfahrungen noch einmal für sich schöpferisch zu erfassen und sie seiner Umwelt zu veranschaulichen. So wie er später sein Tagebuch rekonstruierte. Erstaunlich ist, dass Léo Maillet seine Erinnerungsarbeit so früh unternahm, als die allgemeine Beschäftigung mit dem Schrecken der Schoah noch mehrere Jahre bevorstand.

Die feine Frankfurter Kabinettausstellung mit ca. zwei Dutzend Arbeiten Léo Maillets wird in zwei Hängungen ablaufen: Von dem 12. August an bis zum 16. November werden im Wechsel zu den zunächst gezeigten Arbeiten ungefähr ein weiteres Dutzend Arbeiten des Künstlers zu betrachten sein.

Gespräch von Nikolaus Maillet mit Erik Riedel und Mirjam Wenzel und Daniel Maillet. Foto: Christian Weise

Künstlerisch umfasst das Werk Léo Maillets (1902-1990) Tuschzeichnungen, Aquarelle, Kaltradierungen, Radierungen und Collagen. Sein Stil wird dem Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit und dem Surrealismus zugeordnet. Besonders kreative und erfolgreiche Phasen erlebte Maillet Anfang der 1950er Jahre und dann ab 1970. Nicht nur, weil er sich später abseits der künstlerischen und merkantilen Welt hielt, darf man Léo Maillet zur „Verlorenen Generation“ zählen.

Arbeit am Spiegel

„Seine Arbeiten waren nicht nur ernst, es gibt auch viele fröhliche Werke“, so Daniel Maillet ergänzend in einem kleinen Nachgespräch. Ob der Spiegel, den das Jüdische Museum uns mit seiner Kabinettausstellung heute von Leó Maillet präsentiert, nun zu klein, zu groß oder zu gebrochen ist (Michael Schneider, Das Spiegelkabinett. München 1980) den kleinen Künstler, der doch groß war, zu spiegeln und (in Anspielung auf Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos), ins Bewusstsein zu rufen, darüber mögen die Betrachter der Kabinettausstellung und die Leser des Büchleins von 1994 jetzt weiter nachsinnen.

Razzia im Hafenbistro von Cannes, Aquarell und Wein. 30.9.1940.

Subtext des realen Lebens durch die Worte des Polizisten an Léo Maillet: „Monsieur, vous travaillez, ich will Sie nicht weiter stören“ [5]

Daniel Maillet, der mit seinem Bruder Nikolaus das Werk des Vaters verwaltet, träumt jedenfalls noch von einer umfassenderen Ausstellung in Frankfurt, einer Werkschau Léo Maillet, wo dessen „Leben zwischen Glücksfällen und Wunderartigem“  (Léo Maillet) erinnert wird.

Weitere Infos:

Die Kabinett-Ausstellung „Léo Maillet: Der zerbrochene Spiegel
ist vom 21. März – 16. November 2025
im Raum „Kunst und Exil“
in der dritten Etage der Dauerausstellung
des Jüdischen Museums
im Rothschild-Palais zu sehen.
Bertha-Pappenheim-Platz 1
60311 Frankfurt am Main

Zusatzinfos über Léo Maillets Sohn: 

https://danielmaillet.ch

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