So anders, so gleich: Helmut Newtons Hommage an Berlin
„Berlin, Berlin“ als Schlüssel-Bildband zum Werk mit vielen unbekannten Facetten
Von Uwe Kammann
Wer den Friedenauer Friedhof in Berlin besucht, wird an zwei Gräbern nicht vorbeigehen. Nur wenige Meter liegen sie nebeneinander, fast unscheinbar. Allerdings, ein Stein mit der Aufschrift „Ehrengrab Land Berlin“ zeigt jeweils an, dass hier keine Unbekannten ruhen. Sondern Weltstars, deren Namen mit dieser Stadt eng verbunden waren und sind, auch dann, wenn sie weit entfernt gewirkt haben: Marlene Dietrich und Helmut Newton. Die Schauspielerin, 1992 beerdigt, wurde seit ihrer Verkörperung des „Blauen Engels“ zum Mythos. Der Fotograf, 2004 beigesetzt, wurde selbst zu einer Ikone, nachdem er unzählige Frauen als Ikonen inszeniert hatte, als langbeinige Göttinnen, dem Typus von Marlene oft nah. Der Unterschied: Newtons Foto-Frauen sind oft nackt, so nackt, dass manche Besucher des Museums für Fotografie im ehemaligen Landwehr-Kasino in Berlin schockiert sind, wenn sie das Treppenfoyer betreten und sich den überlebensgroßen Aktfotos gegenübersehen.
Selbstportrait beim Lesen der FAZ in der Newton-Bar, Berlin 2020, Photograph: Helmut Newton © 2024 Helmut Newton Foundation, Berlin
War es eine immerwährende Obsession, die den 1920 in Berlin als Helmut Neustädter Geborenen (achja, der späte Wahlname spielt mit New Town) zum manischen Fotoliebhaber nackter Haut und Posen hat werden lassen? Er selbst lässt die Frage offen. Gibt aber, gleichsam nochchalant, doch eine Art von Antwort: „Warum habe ich die Erotik in die Modephotographie gebracht? Warum habe ich so viele Frauen photographiert? Warum photographiere ich so wie ich photographiere: detailliert, hart, scharf? Ich weiß es nicht. Meine Frau behauptet, das habe mit meiner Jugend zu tun, mit Berlin. Sie sagt, ich könne meine Vergangenheit nicht leugnen. Ich weiß nicht genau, was sie sieht. Aber vielleicht hat sie ja recht.“
So sagte er es 1990 im „ZEITmagazin“, in einer großen Reportage gleich nach dem Fall der Mauer. Der Titel der langen Fotostrecke, die Szenen des nun völlig neuen Alltags mit ungewöhnllchen Modebildern verknüpft (so auf einem Schienenstrang vor der Mauer), ist ganz einfach: „Helmut Newton: Mein Berlin“. Die Dachzeilen wiederum sind programmatisch: „Mit zehn sah ich mich als Reporter“, „Berlinerinnen sind phantastisch“, „Wir waren verrückt nach Mädchen“ (ein Knipsfoto aus dem Jahr 1936 mit Helmut als Hahn im Korb am Standbad Halensee beweist es).
Selbstporträt in Yvas studio, Berlin, 1936, Photographer: Helmut Newton © 2024 Helmut Newton Foundation, Berlin
Eine Hommage an die Geburts- und erste Heimatstadt war diese Fotostrecke, zu der auch ein Selbstporträt gehört, ebenfalls aus dem Jahr 1936: Es zeigt den jungen Helmut mit Hut und Kamera im Studio der Fotografin Yva (ein Künstlername), bei der er in genau jenem Jahr eine Lehre begonnen hatte – die Schule brach er einfach ab. Nur zwei Jahre waren ihm in Berlin noch vergönnt, dann floh er – Sohn eines jüdischen Fabrikanten – vor den Nazis nach Australien. Dort eröffnete er nach Kriegsende ein Fotostudio: Auftakt einer phantastischen Karriere und ruhmimprägnierten Lebensreise. Die auf eigenen Wunsch in einem Grab – eben auf dem Künstlerfriedhof Friedenau – seiner Geburtsstadt endete.
Deren Name nun gibt einem Fotoband einen prägnanten, durch die Wiederholung und die markante Typographie nochmals betonten Titel: „Berlin, Berlin“. Genau in diesem großformatigen Band des Taschen-Verlags findet sich die oben erwähnte „ZEITmagazin“-Geschichte. Sie wirkt, wenn man so will, wie ein Scharnier. Auch hier, natürlich, sehen wir auf den 244 Seiten mit ihren (bis auf wenige Ausnahmen) Schwarz-Weiß-Fotos die Newton-Frauen (eine pauschale Typisierung) in allen Posen und Variationen. Aber eben immer mit einem Berlin-Bezug, mit einem Berlin-Hintergrund, mit Berliner Ambiente (inklusive typischer Interieurs, wie den plüschigen Pensionen, die Raum-Dekor sind für laszive Aktbilder).
Akt in einer Pension, Berlin, 1977. Photograph: Helmut Newton © 2024 Helmut Newton Foundation, Berlin
Schon das Cover ist eine beste Demonstration für diese Orts-Links: eine Nachtschöne mit üppigem Dekolletee bedient sich bei einem süffisant-verschmitzt lächelnden Wurstmaxe auf dem Kurfürstendamm. Oder, ebenso ‚Newton pur’, ist eine Fotostrecke in der Vogue: quicklebendige Models in Dessous aller Variationen vor dem noch mauerbewehrten Brandenburger Tor, in der sandigen Seenlandschaft, vor Generalsdenkmälern im Tiergarten, garniert mit männlichen Blicken. Witzigerweise war diese Auftragsarbeit noch würziger betitelt als der jetzige Band, nämlich mit einem Ausrufezeichen: „Berlin, Berlin!“.
Das alles ist, unter heutigen Mee-to-Perspektiven, sicher für manche Betrachter schon immer in schummrigen Grenzbereichen der Erotik und des Lüsternen angesiedelt. Aber andererseits durchzieht immer auch eine leise Ironie, eine liebevolle Distanz die Szenerien. Nicht umsonst hat Newton mit dieser besonderen Art der Mode- und Aktfotografie die üblichen Branchenmuster gehörig in Schwingungen versetzt. Aber, ebenso sichtbar: Er hat stets einen Bezug zu handfesten Orten seiner Heimatstadt bewahrt und ganz bewusst beschworen. Seine Weltläufigkeit – die ja in Australien ihren Anfang hatte, in Los Angelos mit dem letzten Sommerwohnsitz ihr Ende – war stets verankert in einem Berlin, dem er direkt-indirekt immer wieder Bilder einer großen Zuneigung widmete: was nun zu dieser aktuellen Ehrung einer lebenslangen Liebesbeziehung wurde.
Constanze Mode, Berlin, 1959. Photograph: Helmut Newton © 2024 Helmut Newton Foundation, Berlin
Zu verdanken ist dieses lustvolle Eintauchen nicht nur der verlegerischen Tat – neben schon bestehenden Großwerken wie „Legacy“ –, sondern natürlich vor allem der akribischen Archiv- und Ausstellungsarbeit des Direktors der Helmut-Newton-Foundation, Matthias Harder. Und dies mit doppeltem Gewinn: Einmal, weil in „Berlin, Berlin“ viele bislang nicht bekannte Bilder zu sehen sind (in einer immerhin siebzigjährigen Zeitspanne, seit den 30er Jahren). Und weiter, weil Harder als Kenner und Hüter des Werks mit ausgesprochen prägnanten Texten (deutsch, englisch, französisch) das Newton-Universum (nicht nur das berlinische) ausmisst und erhellt.
Ein Universum, zu dem unbedingt auch (neben den ultrabekannten Aktfotografien bis zu den ultimativen „Big Nudes“) auch großartige Künstlerporträts gehören; das von David Bowie ist ausnahmsweise farbig, ebenso, zumindest partiell, das von Wim Wenders. Ganz unmittelbar sehen wir in das noch junge Gesicht von Hannah Schygulla, direkt vor der Mauer mit dem Todesstreifen und dem Trist-Berlin im Hintergrund. Mit anrührender Anteilnahme hat er die großartige Fotografin Sybille Bergemann 1983 in ihrem Ost-Berlin aufgenommen, im Arm zwei Brote, dahinter zwei Trabi-Anschnitte. Wunderbar die Gesichtslandschaft des Kunstsammlers Heinz Berggruen, dem Berlin eines seiner schönsten Museen zu verdanken hat.
David Bowie, Hotel Kempinski, Berlin, 1983. Photographer: Helmut Newton © 2024 Helmut Newton Foundation, Berlin
Jede Seite dieser Fundgrube (besser muss es heißen: dieser Schatztruhe) stärkt die Lust am reinen Sehen, reizt aber ebenso zum Sich-selbst-Erzählen von Geschichten. Denn die Inszenierungen in einer vordergründigen Mensch-Ort-Verschränkung bergen immer auch Hintergründiges, laden ein zur erkundenden Verlängerng dieser fotografischen Blicke eines aktiven Flaneurs, die sich nie, auch nicht in den nächtlichen Clubbesuchen, auf eine Voyeursperspektive oder explizit Pornographisches verengen lassen.
Wie vielschichtig Newtons Sehweise ist, ganz unabhängig vom lustvollen Betrachten weiblicher Nacktheit, belegt eine Fotostrecke unter dem Titel „Newtons Berlin“ (im Layout mit dicken Rotbuchstaben hervorgehoben). Das geht vom ehenaligen Nachtclubkönig Rolf Eden (Bildlegende: „mit einem seiner liebsten Mächen“) über die Ruine des Anhalter Bahnhofs bis zu einer verträumten Gründerzeit-Ecke am Paul-Lincke-Ufer. Davor und dazu, als besonderer Akzent zum Auftakt, eine Faksimile-Aufforderung des Fotografen in seiner markanten großen Schrift (dieses Stilmittel durchzieht das Buch): „Hier sind einige meiner Berliner Lieblingsplätze, die ich immer irgendwie besuche. Amüsiert Euch, Leute. Licht aus – Messer raus!“.
Klientel, Eigentümer und Chef im Restaurant Exil, Berlin, 1977, Photograph: Helmut Newton © 2024 Helmut Newton Foundation, Berlin
Auch dies gehört zu Newtons Charakteristika: Eben nicht nur die perfekten Hochglanz-Inszenierungen seiner Frauenakte, sondern auch ein teils rauer, teils roher, aber immer auch witziger Charme — so wie er auch sonst Berlin zu eigen ist. Frühgeborene werden sich noch an verwandte Fotos der Stadt mit einer ähnlichen Handschrift erinnern. Sie stammen von Jacques Hartz, trugen 1965 die Buchüberschrift „Sehnsucht nach Berlin“ und wurden begleitet durch wunderbare Texte von Wolfgang Neuss und Wolf Biermann.
Unverkennbar ist: Newtons Blick-Ausschnitte auf Berlin-Wirklichkeiten sind in ihrer Art einzigartig, schlagen in den Bann. Die Diagonalperspektiven beim Funk- und beim Fernsehturm, der leicht gekippte Reichstag oder dessen spektakuläre Verhüllung durch Fassadenkletterer, die kontrastreichen Spiegelungen beim Bahnhof Friedrichstraße, die nüchternen Aufnahmen ganz zu Anfang der Bauarbeiten im noch leeren Regierungsviertel: All das hat einen hohen Reiz, macht dieses Berlinbuch – eben auch als Amalgam von Mode-, Akt und Stadtfotografie – zu einem Schlüssel des Verständnisses.
Bahnhof Friedrichstraße bei Nacht, Berlin, 1991. Photograph: Helmut Newton © 2024 Helmut Newton Foundation, Berlin
Zu dem immer gehört, Werk und Leben im engen Zusammenhang zu sehen. Also auch die enge (Werk-)Bindung zu seiner vor vier Jahren verstorbenen Frau June zu sehen, einer Schauspielerin mit dem Geburtsnamen Brunell, die er 1947 in Melbourne kennengelernt hatte (nach der Emigration hatte er sich dort zunächst als Lastwagenfahrer durchgeschlagen) und die unter dem Namen Alice Springs eine ganz eigenständige fotografische Karriere einschlug. Sie hat übrigens für die Nachwelt klargestellt, dass bei ihrem Mann eindeutig die Porträt- und die Modefotografie – für die renommiertesten Magazine – im Vordergrund stand, nicht jedoch die Aktfotografie („diese ganze Nacktheit“), für die er dann seit den 70er Jahren weltweit bekannt und berühmt (aber auch hart kritisiert) wurde.
Glienecker Brücke, Übergabepunkt für Spione, Berlin, 1996. Photograph: Helmut Newton © 2024 Helmut Newton Foundation, Berlin
Wem all’ das im Kopf herumgeht, wenn er den Namen Helmut Newton vor Augen hat, der sollte unbedingt zu diesem jüngst bei Taschen erschienenen, von Matthias Harder bestens redaktionell betreuten und mit hervorragenden Texten versehenen Buch greifen, das viel Unbekanntes präsentiert und tatsächlich einen mehr als brauchbaren Schlüssel zu seinem Werk bietet, in jeder Hinsicht, unter vielen Perspektiven. Und wenn er Zeit und Geld hat, sollte er sich aufmachen nach Berlin, um dort die Newton-Stiftung im Fotografie-Museum gleich neben dem Bahnhof Zoo in der Jebenstraße zu besuchen. Denn dort ist noch bis Ende Juli in einer Gruppenausstellung eine ganz andere Facette auch des Newton-Werks zu sehen: nämlich die des Polaroid-Verfahrens.
Es ermöglichte, per Klick nach wenigen Momenten ein in der Kamera fertig entwickeltes Bild in der Hand zu halten. Diese Sofortbild-Fotografie mit ihren kleinen quadratischen Bildern stand für eine ganz eigene Bildsprache, zog nicht zuletzt Künstler an. Die Stiftung wirbt für diese ungewöhnliche Ausstellung auf ihrer Startseite natürlich auch mit einem Newton-Bild. Und, wie sollte es anders sein, es zeigt eine Dessous-Schönheit im Schwebeschritt auf der Treppe eines üppig dekorierten Palastes. Offensichtlich befindet er sich nicht in Berlin, sondern in Paris. Was lediglich heißt: Newtons Liebe zu einer solchen lustvollen Inszenierung ist nicht allein an einen Ort gebunden. Sondern sie ist, unverkennbar, universell.
Helmut Newton. Berlin, Berlin
Hardcover, 21 x 27.5 cm, 1.64 kg, 244 Seiten
ISBN 978-3-7544-0068-5
50 EUR=
Verlag Taschen
Ausgabe:
Mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Französisch)