home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Im Land des aufsteigenden Drachens

Im Herzen des quirligen Südens von Vietnam

Eindrücke von Paulina Heiligenthal

Der ultimative Liebesbeweis, die höchste Verehrung eines geliebten weiblichen Wesens lautet „Long“. Dieser Ausdruck besagt, dass sie die Schönste, Klügste ist, liebenswert und  hochgeschätzt. Ein Kosewort in Vietnam. In der Übersetzung heißt das: „Drachen oder Hausdrachen“. Hätten Sie diese Bezeichnung jemals als eine Liebeserklärung vermutet?

Der Drachen gilt als klügstes Tier im Tierkreis, Foto: Paulina Heiligenthal 

Zu Zeiten der Ly-Dynastie, vor etwa tausend Jahren, lag die vietnamesische Hauptstadt Hoa Hu etwas außerhalb des heutigen Hanois. König Ly Thai To erlebte im Traum einen Drachen am Himmel. Unweit von Hoa Lu. Für ihn das sicherste Himmelszeichen, seine Hauptstadt zu verlegen an den Ort, wohin ihn der Drachen im Traum entführte. König Ly Thai To gründete Thang Long, übersetzt „aufsteigender Drache“, der frühere Name der jetzigen Hauptstadt Hanoi.

In Vietnam gilt der Drachen als heiliges Tier, dessen Einwohner einer Sage nach der Liebe zwischen einer Bergfee und einem Seedrachen entstammen. Der Drachen  symbolisiert Glück, Weisheit, Güte und war in früheren Zeiten ein königliches Machtsymbol. Gegenstände und Besitztümer des Königs wie Paläste, Tempel und Pagoden waren kunstvoll mit zahlreichen Drachen geschmückt.

Farbenprächtige Dachverzierungen der Thien Hau Pagode in Chinatown, Foto: Paulina Heiligenthal 

Auch wenn die Landesumrisse die Form des Buchstaben „S“ zu bilden scheinen, wäre eine Drachenform, dessen Kopf im Norden liegt, und dessen Schwanz Ca Mau, der südlichste Ort Vietnams ist, durchaus vorstellbar. Am Schwanz erkennt man mehrere Streifen, diese entsprechen den Armen des Mekong. Cuu Long auf Vietnamesisch, was wiederum neun Drachen bedeutet.

Im Alltagsleben trifft man nahezu überall auf das Fabeltier: auf Zeichnungen, auf Booten, Brücken, Dächern. Bekannt sind der Drachentanz und das Drachenbootrennen. Ein Kinderspiel mit dem Namen „Drachen fliegt in die Wolken“. Als imposante Erscheinungen dekorieren sie wichtige Monumente – beflügelnd und inspirierend – sind sie von kultureller Bedeutung für die Vietnamesen.

Sie rollen und rollen in Saigon, der Stadt der unendlichen Motorroller, Foto: Paulina Heiligenthal 

Sie rattern und knattern, die Vespas in der quirligen, lebendigen Metropole von Ho-Chi-Minh-City, dem Herz des Südens, ehemals Saigon. Zu Ehren des Revolutionärs Ho Chi Minh,  Symbol des Strebens nach Selbstbestimmung, wurde die Stadt 1976 umbenannt. Im Süden Vietnams will sich der Name nicht so recht durchsetzen. Klingt er doch allzu sperrig im Vergleich zum mondänen Saigon. Der Flughafen heißt abgekürzt immer noch SGN, das lokale Bier Saigon Beer. Der Distrikt heißt weiterhin offiziell Saigon. Auch der Stadtkern – Bezirk B1 – behielt den Namen Saigon.

Von Hand geflochten – die spitz zulaufenden Körbe vor der Oper von Saigon, ein vietnamesisches Kulturgut seit ewigen Zeiten, Foto: Paulina Heiligenthalm

Zurück zum Stadtverkehr: In der rund 10-Millionenstadt rollen, hupen sie und dominieren das Stadtbild: geschätzte 8 Millionen Vespas. Und das in einem undurchschaubaren Chaos. Mal 10- reihig, mal über die Bürgersteige, kreuz und quer, häufig geht’s  bei Rot über die Ampel, auch im Gegenverkehr. Es darf alles transportiert werden, was auf den Roller passt: 3 bis 4 Personen, kiloweise Säcke mit Reis, Käfige voller Hühner, Baumaterial in Überlänge und mehr.

Kunstvolle Bestückung- Alles darf transportiert werden was auf einen Roller passt, Foto: Paulina Heiligenthal

Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Motorhelm ist Pflicht, Schuhwerk nicht. Viele fahren in Flip-Flops, andere in hippen High Heels. Bei durchschnittlichen Jahrestemperaturen von 26° bis 29° verstecken viele Vespa-Fahrerinnen ihre Gesichter hinter großen Masken, Sonnenbrillen und tragen Handschuhe gegen die Sonne. Vermummt für das Schönheitsideal einer blütenweißen Haut.

Vor dem im französischen Kolonialstil 1902 errichteten Rathaus von Saigon winkt huldvoll Ho-Chi-Min, Foto: Paulina Heiligenthal 

Kennzeichnend für die Stadt sind nicht nur der verwunderliche Verkehrsfluss und das nie gesehene Stromkabelchaos. Flair verströmen die eleganten Boulevards und das Ambiente der stadtprägenden französischen Kolonialarchitektur. Wie das Saigon-Opernhaus. Es wurde vom Architekten Eugène Ferret nach dem Vorbild des Pariser Petit Palais entworfen mit einem kuppelförmigen Eingang, getragen von zwei marmornen Musen. 1900 fand die Eröffnung des Kulturpalais statt. Zwischenzeitlich tagte hier 1955 das südvietnamesische Marionettenparlament. Oder spielte es gar Theater?

Beaux-Arts-Architektur: Das am Le Loi Boulevard gelegene Opernhaus von Saigon wurde 1898 errichtet, Foto: Paulina Heiligenthal

Heute finden längst wieder Opern- Film- und Musikaufführungen statt. Ein überdimensionales Bild lockt, die ikonische Architektur im Inneren anzuschauen. Draußen laden ein Dutzend junger Studentinnen  über rote Shirts zu einer Konversation auf Englisch ein.

Die Kathedrale Notre Dame des Erzbistums von Saigon ist die bekannteste Kirche Vietnams. Sie wurde nach gleichnamigem Pariser Vorbild als roter Backsteinbau im neoromanischen Stil erbaut. Wie alle Baumaterialien stammen diese Ziegel aus Frankreich, aus Marseille. Und kamen über den Suez-Kanal. Nach dreijähriger Bauzeit wurde das religiöse Bauwerk 1883 vollendet. Es bietet Platz für 1200 Personen.

Am Platz der Pariser Kommune vor der Kirche steht eine Statue der Namensgeberin, der Jungfrau Maria. Die markanten 60 Meter hohen Zwillingstürme wurden erst 1900 hinzugefügt. Eine Zeit lang überragten sie die Häuser der Stadt. Die Christen des Landes sind eine nicht zu unterschätzende Minderheit: Seit der Missionierung im 16. Jh. durch spanische und portugiesische Ordensbrüder wurden 12% der Bevölkerung Christen, davon ein Großteil Katholiken.

Ein historisches Wahrzeichen in Saigons Bezirk B 1 ist das Hauptpostamt aus 1891, Foto: Paulina Heiligenthal

Eines der charakteristischen Gebäuden aus der französischen Kolonialzeit liegt in unmittelbarer Nähe der Kathedrale: das Hauptpostamt von Saigon. Von weitem schon leuchtet das 3-stöckige architektonische Juwel in Sonnengelb. Die Fensterläden in Grün nehmen die Farben der in Reichweite stehenden Palmen auf. Im Inneren beeindrucken eine übergroße Schalterhalle mit elegantem Deckengewölbe, historisch-geografischen Karten und einem Porträt von Ho Chi Minh. Das Gebäude ist eine Stahlkonstruktion, für deren Entwurf der französische Architekt Alexandre Gustave Bonickhausen, besser bekannt unter dem Namen Gustave Eiffel, verantwortlich zeichnet. Noch immer kann man hier Briefmarken mit seinem Konterfei kaufen und Briefe in die ganze Welt verschicken.

Im Inneren des Hauptpostamtes wird Ho-Chi-Minh verehrt, Foto: Paulina Heiligenthal

Eine Verschmelzung von Kultur und Moderne lässt sich am besten in der Umgebung des reichverzierten ehemaligen „Hôtel de Ville“, des alten Rathauses von Saigon, erkennen. Mit dem Rücken zu den glitzernden Büropalästen steht dort am Ende einer breiten Promenade eines der prachtvollsten Gebäude der Stadt, das heutige Verwaltungsgebäude. Prägend für das Erscheinungsbild der Stadt in der Tradition der französischen Rathäuser wurde es von 1902 bis 1908 erbaut. Der Fußgängerbereich zum Wahrzeichen der Stadt ist eine Oase. Wunderschön umsäumt von blühenden Beeten, Seerosenteichen und Palmbäumen stellt sie Momente der Seelenfreude dar. Ho Chi Minh grüßt huldvoll von seinem Denkmal. Ein Fake-Hochzeitspaar lässt sich gegen einen Obolus von Touristen fotografieren.

Eine Stadt in der Stadt

5 km vom Stadtkern entfernt, im Bezirk-5, liegt das farbenfrohe Cho Lon, Saigons Chinatown. Der Name bedeutet passenderweise „Großer Markt“ und wurde im 18. Jh. von südchinesischen Einwandern gegründet. Mit seinen buddhistischen Pagoden, Tempeln, Märkten, roten Lampions und traditionellen Apotheken bietet das Viertel faszinierende Einblicke in die lokale Kultur und das tägliche Leben.

Der geheimnisvolle Ba THien Hau Tempel in Saigons China-Town wurde 1760 zu Ehren Göttin Mazu erbaut, Foto: Paulina Heiligenthal

Ein spiritueller Ort, den es zu erleben lohnt, ist die buddhistische Bà Thiên Hâu-Pagode. Ein architektonisches Meisterwerk, das um 1760 von chinesischen Bewohnern errichtet wurde. Gewidmet ist er der hochverehrten Göttin Mazu, der „Lady of the Sea“, Beschützerin der Bootsmänner. Diese heilige Stätte ist eine Hüterin der Vergangenheit, in der Relikte und Artefakte von historischer und religiöser Bedeutung aufbewahrt werden.

Das Leben in  Häusern auf Stelzen am Wasser des Deltas, Foto: Paulina Heiligenthal

Das fruchtbare Mekong-Delta, südlich von Saigon, glitzert wie von Silberfäden durchzogen. Die dichtbesiedelte Region – mit ca. 40.000 km²  fast so groß wie die Schweiz –, ist Heimat von Millionen Einwohnern. Durch ihre Wasserwelt fließen unzählige Flüsse, Kanäle, Bäche, auf denen Boote, Häuser, Märkte treiben.

Der Schwemmlandboden im Mekong-Delta produziert ganze 16 Millionen Tonnen Reis jährlich, Foto: Paulina Heiligenthal

Ein buntes Leben im und am Wasser, dessen Rhythmus das Leben täglich neu diktiert. Landschaftlich in malerisch- sattem Grün der endlosen Reisfelder und der tropischen Gärten gelegen, gedeiht eine üppige Vegetation, die landwirtschaftlich intensivst betrieben wird. Mit 3 Ernten jährlich gilt sie als Reisschüssel und mit dem Anbau exotischer Früchten als Obstschale Vietnams.

Exotischer Obstanbau im Mekong-Delta, Foto: Paulina Heiligenthal

In ihrem autobiografischen Roman „L’Amant“/ „The Lover“/“Der Liebhaber“ träumt sich die französische Schriftstellerin Marguerite Duras, geboren 1914 in Saigon, in ihre Jugend zurück. Da erlebte sie als Fünfzehnjährige eine verbotene Liebe zum 12 Jahre älteren Huynh Thuy Le, einem chinesischen Kaufmannssohn aus wohlhabendem Hause, den sie auf einer Fähre im Mekong-Delta kennenlernte. Mit roten Lippen, in verschlissenem Seidenkleid, auf hohen Absätzen. Ein Erwachen ihres Gefühlslebens im wilden Fluss exotischer Leidenschaften.

Frühmorgentliches Markttreiben auf dem Wasser im Delta, Foto: Paulina Heiligenthal

Eine „amour fou“. Skandalös in der damaligen Zeit. Schon bald nach Erscheinen wurde das Werk 1984 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, der ihr internationale Anerkennung und Weltruhm verschaffte. Verfilmt wurde der Roman 1991 von Jean-Jacques Annaud.

Eine wundervolle Farbsymphonie der Natur – inmitten einer Oase der Millionengroßstadt, Foto: Paulina Heiligenthal

Saigon, wenn es denn sein muss Ho-Chi-Minh-City, ist unwiderstehlich, hinreißend mitreißend, dynamisch. Eine Mischung aus französischem Esprit und asiatischer Mystik, aus Anziehung und Hingabe. Mit der erfrischenden Leichtigkeit des Südens. Jung, nahbar, kreativ. Geprägt von der  französischen Kolonialzeit und seinen eleganten europäischen Bauwerken. Bedingt durch Anpassung des Schulsystems nach französischem Vorbild, halten sich Sprache und Kultur dieser Zeit bis heute  lebendig. Die Stadt hat die japanische Besatzung im zweiten Weltkrieg überlebt, vor allem die amerikanische Raufbold-Zeit hinter sich gelassen.

Beschützende Augenpaare an den Bootsspitzen gegen Gefahren des Wassers- biegsame Fahnenstangen präsentieren ihre anzubietenden Obst-und Gemüsewaren, Foto: Paulina Heiligenthal

Das wirtschaftliche Zentrum des Staates Vietnam war niemals kommunistisch. Ein Sprichwort lautet: „In Hanoi werden die Gesetze gemacht, in Saigon die Geschäfte.“

Seit Beginn der neunziger Jahre hat die pflichtbewusste, beamtenorientierte Verwaltung aus dem Norden, die Erziehungshilfe für den selbstbewussten eigenwilligen Süden aufgegeben. Kontrollversuche scheiterten. Eine Zuwanderung konnten sie nicht stoppen. Ein Überstülpen der Kultur war ihr nicht möglich. Saigon gilt als „frivole Nichte der ehrwürdigen Tante aus Hanoi“. Authentisch, autark, sexy!

Comments are closed.